Was bis vor Kurzem nur das Downcountry-Bike Cannondale Scalpel SE leistete, bringt nun das Cross Country-Racebike Scalpel ganz ohne Namenszusatz mit: Mit 120 Millimetern Federweg in Front und Heck sowie einer radikal progressiven Geometrie läuten die Amerikaner die Zukunft ihrer XC-Plattform ein. 67 Grad Lenkwinkel und 473 Millimeter Reach in Größe L sprechen eine klare Sprache. Das neue Cannondale Scalpel will mit hohem Tempo über anspruchsvolle Kurse getrieben werden. Doch wie wirkt sich das gestiegene Gewicht auf die BIKE-Bewertung in Labor und Praxis aus? Mit dem Cannondale Scalpel Carbon 1 konnten wir das zweit-teuerste Modell über die Trails feuern. Der schwarze Rennwagen überraschte uns dabei gleich auf mehrere Weise.
Alles Trail oder was? Wer mit Vorbehalten wegen des gestiegenen Federwegs auf das neue Scalpel blickt, der kann ganz beruhigt sein. Denn gleich beim Aufsitzen macht Cannondales Racer klar: Dieses Bike ist für den Startblock gemacht. Die rassige Optik des Carbon-Renners lässt die Lunge schon beim Setup auf dem Parkplatz in Hab-Acht-Stellung gehen, dank des langen Reachs sitzt man trotz steilerem Sitzwinkel immer noch angenehm gestreckt auf dem neuen Scalpel.
Wir sind das Bike dabei schon mit eher hohem Lenker gefahren, was gut zu Marathons, Trailtouren und Langstrecke passt. Wer für Sprintrennen oder Rundkurs noch eine tiefere Front braucht, kann noch jede Menge Spacer unter dem Carbon-Cockpit entfernen und vom kurzen Steuerrohr Gebrauch machen. Dank zweiteiligem Spacer-Design ist das trotz der integrierten Kabelführung und dem formschlüssigen Cockpit nicht viel mehr Aufwand als beim Vorgänger. Die Geometrie des neuen System-Bars empfanden wir in jeder Fahrsituation als sehr gelungen.
Im Antritt gibt sich das Scalpel direkt, wenn es auch nicht mehr so vorwärts schießt, wie die Bikes vergangener Zeiten aus der Unter-Zehn-Kilo-Klasse. Daran sind in erster Linie die breiteren Reifen und das hohe Laufradgewicht schuld. Insgesamt rollt das Cannondale immer noch zügig voran, das gestiegene Gewicht ist beim Sprint über steile Rampen aber nicht zu leugnen. Konservativer gezeichnete Race-Fullys, wie etwa das ebenfalls kürzlich von BIKE getestete Berria Mako, fliegen auf Schotter oder Asphalt etwas spritziger gen Gipfel. Dafür wirkt die Federung des neuen Scalpels super effizient. In sitzender Position ist im Dämpfer auch ohne Lockout kaum eine Bewegung auszumachen. Auf dem Prüfstand im BIKE-Labor erreicht der neue Carbon-Rahmen hohe Steifigkeitswerte.
Selbst im Wiegetritt wippt der Hinterbau nur leicht und lässt sich mit einem Dreh des Twistlocks beruhigen - für noch mehr Sprintstärke ein willkommenes und ergonomisch implementiertes Feature am Racebike. Ähnlich dem neulich vorgestellten Specialized S-Works Epic der 2024er Generation ist das Cannondale Scalpel auch mit blockiertem Fahrwerk alles andere als unkomfortabel.
Die 2,4 Zoll breiten Maxxis Reifen stellen sich auf den weiten DT-Swiss Felgen besonders großvolumig auf und sorgten mit ihrer guten Dämpfung dafür, dass wir eine Zwischenstufe der Fahrwerksplattform nicht vermisst haben. In technischen, von Wurzeln gespickten Trail-Anstiegen begeistert das neue Cannondale Scalpel mit einem feinfühligen Hinterbau und guter Traktion. Top: Die Front des Bikes steigt nur wenig, die Kontrolle bergauf ist auch in engen Kurven exzellent.
Je anspruchsvoller das Gelände wird, desto mehr kann das neue Cannondale Scalpel seine Trümpfe ausspielen. Schon auf einem welligen, hindernisgespickten Trail mit kurzen Abfahrten und Gegenanstiegen vermittelt das Bike für einen Racer sehr viel Sicherheit, die Kurvenhatz bergab zaubert einem ein dickes Grinsen ins Gesicht. Dank der ausbalancierten Geometrie fliegt man förmlich durch den Trail.
So ein unkompliziertes Handling ist alles andere als selbstverständlich für ein Racebike mit dem Anspruch Worldcup-Rennen zu gewinnen. Die neu gewonnene Länge bei Reach und Kettenstreben empfand keiner unserer unterschiedlich großen Tester als unangenehm. Bei hohen Geschwindigkeiten hilft sie zusammen mit dem flachen aber nicht zu extremen Lenkwinkel von 67 Grad auf Linie zu bleiben. Zum Vergleich: Specialized geht bei ihrem neu präsentierten 120er-Racebike Epic bis auf 65,9 Grad hinunter.
Dass Scalpel-Piloten die intuitive Handhabung in der Abfahrt nicht mit einem zickigen Verhalten im Grenzbereich bezahlen müssen, verdankt das Cannondale seinem imposant guten Fahrwerk. Obwohl im Heck des teuren Bikes nur ein Rockshox SID Lux mit mittelklassiger Select+-Dämpfung steckt und das kleine Federbein mit viel Druck aufgepumpt werden will, trifft das Scalpel einen gelungenen Sweetspot aus Sensibilität und Feedback vom Untergrund.
Während es so scheint, als ordneten sich viele neue 120er-Racebikes entweder auf der zu linearen oder zu progressiven Seite ein, hat es Cannondale tatsächlich geschafft eine gute Balance zu finden - und das ganz ohne elektronische Hilfsmittel, wie dem neuen Rockshox Flight Attendant System. Einen Wehrmutstropfen für Schrauber gibt es jedoch: Zum Ausbau des Dämpfers muss die Sitzstrebe demontiert werden, da die hintere Befestigungsschraube ansonsten unerreichbar bleibt - ein nerviges Detail, das andere Hersteller besser lösen.
Bereits in der Vergangenheit überzeugte uns die eigenwillige Cannondale Lefty mit einem starken Fahrverhalten überzeugen. Auch im neuen Racebike leistet sich der Einbeiner keine Schwächen und reagiert souverän sensibel auf kleine wie große Schläge ohne sportliche Dämpfung vermissen zu lassen. An der Front des Scalpels leistet die Lefty eine ausgezeichnete Führungsarbeit, steht minimal tiefer im Federweg, als der Hinterbau und ist damit der komfortablere Part des Fahrwerks. Das passt gut zum Race-Fully und das Cannondale nimmt auch querliegende Wurzeln und Sprünge souverän mit. Die hohe Fahrwerksqualität verzeiht auch den ein oder anderen Fahrfehler und erzeugt in technischen Abfahrten ein hohes Sicherheitsgefühl.
Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch die für ein Racebike extrem breiten Reifen. Da - Funkschaltung sei Dank - die meisten Züge am Cockpit von links ins Sichtfeld laufen und auch die massive Lefty-Gabel von dieser Seite im Blick liegt, ist die Sicht über das Carbon-Cockpit jederzeit frei auf den fetten Gummi. Allein optisch vermittelt das bereits Selbstvertrauen. Obwohl die Reifen nur sehr zahme Stollen besitzen, ist der Grip dank gutem Fahrwerk und niedrigem Tubeless-Luftdruck auf einem hohen Niveau.
Mit neuerdings vier Kolben besitzt die Sram Level Stealth am Scalpel Carbon 1 eine hohe Bremskraft für ein Racebike. Dafür sind auch die dicken Sram HS2 Scheiben mitverantwortlich, die Cannondale vorne mit solidem 180er-Durchmesser spezifiziert. Kleiner Wehrmutstropfen in Sachen Ausstattung: Die Fox Transfer SL ist zwar leicht, reagiert blitzschnell und bietet viel Hub, lässt sich aber nur ganz ein- oder ganz ausfahren. Für wellige Trails oder technisch besonders anspruchsvolle Uphills wäre manchmal noch eine Absenkung um wenige Zentimeter praktisch.
Marathon-Racer freuen sich über die weiterhin vorhandenen zwei Flaschenhalter im Rahmendreieck. Trotz gestiegenem Gesamtgewicht, bietet der neue Rahmen des Scalpels leider kein Staufach oder eine sonstige Lösung zur Unterbringung eines Tools oder ähnlichem. In der BIKE-Bewertung der Usability kann das Cannondale Racebike insgesamt weniger Punkte einstreichen als viele Konkurrenten. Einen eigenwilligen Mehrwert besitzt das neue Scalpel jedoch: Auf der Vorderradnabe sitzt ein Sensor, der in Verbindung mit der Cannondale-App und Garmin-Computern genaue Daten über die Fahrt sammelt.
Cross-Country-Bikes sind die Königsdisziplin für MTB-Ingenieure. Ein gewaltiger Entwicklungsaufwand ist nötig, um die vermeintlich ausoptimierten Modelle immer wieder auf ein neues Niveau zu heben.
Um maximale Einsatzbandbreite und minimales Gewicht bei voller Rennstreckentauglichkeit zu realisieren, wird mit spezieller Carbon-Faser, innovativer Rahmenkonstruktion und clever komponierter Ausstattung gegen jedes überflüssige Gramm gekämpft.
Basis für ein super leichtes Mountainbike ist ein super leichter Rahmen. Filigrane Dämpferanlenkungen und der Verzicht auf alles, was nicht wirklich nötig ist, ermöglichen im Jahr 2024 Rahmengewichte von teils deutlich unter 2000 Gramm. Inklusive Dämpfer, wohlgemerkt. Und das bei sehr guter Steifigkeit.
Das sind aktuell wohl die leichtesten und teuersten Mountainbikes, die wir im Test hatten – mit ihnen gehen die Top-Stars im Olympiajahr 2024 an den Start. Die nackten Zahlen.
Die größte Stärke des neuen Cannondale Scalpel liegt in dessen durch und durch gelungenem 120-Millimeter-Fahrwerk. Kurz dahinter folgt das einfache Handling des Racebikes. Im Vergleich zur Konkurrenz fällt das optisch aufregende Fully vor allem beim Laufradgewicht zurück. Isoliert betrachtet ist das bergauf ein Nachteil, über die Länge eines Cross-Country-Rennens überwiegen ganz klar die Vorteile der Reserven von Chassis und Breitreifen. - Jan Timmermann, BIKE-Testredakteur
Schnelle Kurvenwechsel, fiese Wurzelpassagen, Sprünge: Das Scalpel zeigt mit Bravour, wie unfassbar schnell man mit einem modernen Cross-Country-Bike bergab sein kann. Dabei verzeiht es dank souveränem 120er-Fahrwerk auch mal den ein oder anderen Fahrfehler und macht einfach Laune - auch, wenn es mal nicht um die Hatz gegen die Uhr geht. Bergauf ist das Scalpel immer noch ein richtig schnelles Bike, auch wenn der Antritt nicht mehr ganz so brachial ausfällt wie mit den Asphaltschneider-Reifen der Unter-Zehn-Kilo Generation.
Mehr zum neuen Cannondale Scalpel: Die einzelnen Modelle mit Preis & Ausrichtung in unserer allgemeinen Vorstellung - inklusive Interview >>