Beim Blick auf die Canyon-Homepage fällt uns glatt die Kinnlade runter: Die Koblenzer haben unser Testbike zwischenzeitlich auf 3999 Euro reduziert. Dafür bekommt man normalerweise kaum ein gleichwertig ausgestattetes Rad ohne Motor. Beim Preis-zu-Gewicht-Verhältnis macht dem Versender entsprechend kein anderes Light-Bike etwas vor. Hinzu kommt: Bis vielleicht auf das erste Trek Fuel EXe (hier im Test) und Simplons Rapcon TQ sieht kaum ein Light-Bike seinem unmotorisierten Kollegen so ähnlich wie das Spectral:Onfly. Schlanke Silhouette, flaches Unterrohr. Wer nicht gleich als E-Biker auffallen möchte, ist hier definitiv an der richtigen Adresse.
Ein Grund für den aktuell so niedrigen Preis: Das Motorsystem. Das TQ-Aggregat im Canyon hinkt den Konkurrenten von Propain und Rose mit dem neuen HRP 60 (hier im Test) eine Modellgeneration hinterher und zieht seine Energie aus einem eher kleinen Akku. Auch der HPR 50 im Canyon ist flüsterleise, bringt aber etwas weniger Drehmoment auf die Kette und schiebt bei niedriger Trittfrequenz nicht ganz so kernig wie der neue HPR 60. In den Uphill startet das elektrifizierte Spectral deshalb mit einem kleinen Handicap.
Allerdings: Wer nicht auf anspruchsvolle Uphills aus ist, sondern den Motor eher für schnellere Anstiege auf der Forststraße nutzt, der dürfte auch mit dem älteren HPR 50 keine Probleme haben. Der Motor tritt sich nach wie vor geschmeidig. Der kleine Akku mit 360 Wattstunden kann bei Bedarf mit einem Range-Extender aufgestockt werden. Eine Besonderheit bei Canyon: Der Akku wird als fest verbaut kommuniziert. Wer ein paar filigrane Schrauben löst, kann den Akku mit einem Multitool aber in fünf Minuten ausbauen, ohne den Motor anzufassen. Keine Lösung für jeden Tag, aber praktisch, wenn mal überhaupt keine Steckdose in der Nähe des Bikes ist.
Das CF9 ist das Mittelklasse-Modell der Spectral:Onfly Palette und kommt entsprechend mit durchgängiger Shimano XT von Schaltung bis Vierkolben-Bremse und mit Performance-Parts von Fox. Allerdings verzichtet Canyon auf einen Dämpfer mit Ausgleichsbehälter, verbaut im Gegenzug aber die Syntace Lenkstabilisierung K.I.S. Anbauteile wie Lenker und die im Hub einstellbare Dropper-Post kommen von Canyon.
Schon beim Blick auf die Geometrie wird klar: Das Canyon ist für aktive Piloten gebaut. Der lange Reach und die kurzen Kettenstreben sprechen versierte Fahrer an. Das ergibt auch Sinn, denn für gemütlichere Trail-Touren hat Canyon ja noch das Neuron:On fly (hier im Test) im Programm. Der Sitzwinkel fällt nach modernen Maßstäben eher gemäßigt aus.
Der entspannte Sitzwinkel und der lange Hauptrahmen ziehen die Sitzposition auf dem Canyon in die Länge. Vor allem im Vergleich zu den Konkurrenten eOne-Sixty SL von Merida und Sly von Mondraker hat der Pilot beim Canyon im Uphill viel Bike vor sich zu handeln. Auch das kompakte Heck macht die Belastung der Front nicht einfacher. In technischen Klettersektionen muss man deswegen aktiv arbeiten, um das Bike in der gewünschten Linie zu halten.
Die dezente Lenkstabilisierung durch die ins Steuerrohr integrierte Feder des K.I.S.-Systems will das Vorderrad permanent zentrieren. Ob das im Uphill Vorteile bringt, dazu gehen die Meinungen auseinander. Der Dämpfer steht beim Canyon hoch im Hub und lässt kaum Energie verpuffen. Bei der Ausstattung hat der Versender seine Hausaufgaben gemacht: Der mechanische Shimano-XT-Antrieb läuft knackig und die Bremsen beißen kräftig zu. Leider klappern die Züge im Rahmen. Wegen des knapp bemessenen Bauraums im Steuerrohr-Bereich mit K.I.S. lassen sie sich auch nachträglich nicht abpolstern. Am Vorderreifen muss man außerdem mit reduziertem Pannenschutz klarkommen, die Laufräder lassen sich aber ohne Werkzeug ausbauen. Für die Entnahme des Akkus wiederum müssen vier Schrauben per Multitool gelöst werden. Dennoch: Ein Mehrwert für Ausnahmesituationen, den viele andere Light-Bikes so nicht bieten.
Im Talschuss verträgt die flache Geometrie des Canyon viel Tempo. Abgerundet wird die Fahrstabilität durch das K.I.S.-System. Gleichzeitig brillieren Drehfreude und Verve dank kurzer Kettenstreben und niedrigem Gewicht. Kein anderes Light-Bike dieser Preisklasse geht so leichtfüßig aufs Hinterrad oder lässt sich an Kanten besser in die Luft ziehen. Unterstützt werden diese Kompetenzen durch üppigen Gegenhalt im Fahrwerk und viel Bewegungsfreiheit überm Oberrohr – dem kurzen Sitzrohr sowie dem langen Vario-Hub sei Dank.
In den Händen eines versierten Piloten ist das eine explosive Melange. Wer sich voll zur Ideallinie bekennt, mit Schmackes in Kurven reinhält und an Sprüngen ordentlich abzieht, wird mit hohem Fahrspaß belohnt. Der progressive Charakter des Mullet-Bikes passt per se hervorragend zum Light-Konzept, hat aber auch eine Schattenseite: Die straffe Federung überträgt mehr Schläge auf den Körper des Fahrers. Lange Rumpel-Downhills kosten auf dem Spectral:On fly viele Körner.
Neben den Konkurrenten von Propain, Rose, Merida und Mondraker aus unserem aktuellen Light- Vergleichstest drängen sich beim Spectral:Onfly vor allem zwei Kandidaten auf. Zum einen ist da die Konkurrenz aus dem eigenen Haus. Das Neuron:Onfly (hier im Test) hat den stärkeren Bosch SX Motor, ist aber etwas schwerer und nicht so schlank. Dennoch eine klare Empfehlung: Das Neuron:Onfly fährt sich bei gemütlichem Tempo komfortabler, hat auch gute Reserven im Gelände, ist etwas günstiger und bietet mit dem stärkeren Motor mehr Flexibilität. Vor allem versierten Abfahrern dürfte das Spectral:Onfly aber mehr entgegenkommen, das Neuron:Onfly ist breiter aufgestellt.
Wer ein maximal verspieltes und dezentes Light-Bike sucht, dürfte auch auf den Specialized Klassiker Levo SL (hier im Test) schielen. Hier sind die Kettenstreben für Fans von verspieltem Handling noch kürzer. Das Fahrwerk ist etwas vielseitiger, der Motor in Leistung und Drehmoment vergleichbar, aber lauter. Außerdem ist das Levo SL grundsätzlich etwas teurer als das Canyon und das Modell mit Alu-Rahmen schwerer.
Das Canyon ist ein Bike für Shredder! Mit hohem Spieltrieb und viel Feedback vom Fahrwerk liegt es in der Gunst aktiver Abfahrer weit vorne. Um das volle Potenzial auszuschöpfen, ist eine gute Portion Fahrkönnen obligatorisch. Touren-Komfort, Reichweite und Klettergeschick gehören nicht zu den Stärken des leichten Spectral:Onfly. Der Preis ist superheiß. - Jan Timmermann, Redakteur Test & Technik