Das Feine an Weihnachten? Es fällt immer auf den gleichen Tag. Man zählt spätestens ab dem Ersten Advent die Tage, an denen das Christkind kommen wird. Vorfreude ist und bleibt die schönste Freude. Im Falle meines Dauertesters zog sich die Vorfreude. Und zog sich. Und zog sich. Aus “spätestens Mitte März” wurde erst April. Aus April Mai und schließlich Juni. Weihnachten fiel dann auf den 2. Juli. Und was soll ich sagen? Das Warten hat sich definitiv gelohnt! Aber schön der Reihe nach.
Dauertester Andreas Kern arbeitet als freier Touren-Autor für BIKE. Einige seiner letzten Geschichten gibt’s hier zu lesen:
Mein neues Baby hört auf den wenig sexy klingenden Namen Vuca Evo AM 2. Es verdreht aber vom ersten Augenblick an nicht nur mir, sondern jedem meiner E-MTB-affinen Zeitgenossen die Augen. Erster Hingucker: harmonische (Carbon-)Rundungen an den richtigen Stellen und dunkler Teint in verheißungsvollem Dark Chrome Silver. Die fette 38er Fox-Federgabel setzt mit ihrem quietsch-orangen Äußeren einen krassen Kontrapunkt zur ansonsten dezent-edlen Optik.
Zweiter Hingucker: Der MGU Motor von Pinion mit integriertem Getriebe (hier im Test) und der Riemenantrieb. Hatte ich noch nie. Ich bin mit 26 Zoll, Starrgabel und Hyperglide-Kette flügge geworden. Habe in 33 Jahren ungezählte Ketten abgerissen, genietet, getauscht. Jetzt will ich wissen, ob der Carbonriemen wirklich nur Vorteile bietet.
Erste Verheißung: Wartungs- und Pflegefreiheit. Das wäre ja genau meins! Zudem gibt‘s kein Schaltwerk mehr, das sich verstellt oder bei rüdem Felskontakt abschert. Für alle Fälle drückt mir Bulls-Bändiger Friedemann Schmude einen Ersatzriemen in die Hand. Falls der Carbonriemen doch mal schnalzen sollte. Fördert mein Vertrauen nicht unbedingt. Ich bin jedenfalls gespannt, wie ich im Falle eines Falles einen Endlosriemen in den Hinterbau hineinkriegen werde … Aber: Sorge dich nicht, bike!
Vor das Vergnügen haben die Elektrogötter noch die Arbeit gesetzt. Die Fit Bike-App will heruntergeladen und via QR-Code am Schlüsselbund mit dem Bike verheiratet werden. Was nach einem Dutzend Fehlversuchen dann doch noch gelingt.
Das Smartphone fungiert beim Bulls auf Wunsch als zentrale Schalt- und Waltzentrale. Per SP-Connect-System wird das Handy an den Vorbau gesteckt, um 90 Grad gedreht – hält! Das iPhone als Display funktioniert prima. Nur was tun, wenn ein Anruf reinkommt?
Was mich aber nervt: eine ständig aufpoppende Fehlermeldung (“Wire Communication Error”). Laut Bulls kann ich sie geflissentlich ignorieren und wegdrücken. Vertraue ich halt darauf, dass ich keinen Kabelbrand in 3000 Metern Höhe erlebe …
Auf zum ersten Ausritt! Einen Tag nach dem feierlichen Unboxing. Erster Eindruck nach dem Optik-Check: ganz schön schwer, das Baby! Also ab auf die Waage. Fahrfertig fast 27 Kilo sind schon ‘ne Ansage. Aber ich bin auch kein Klappergestell. So läppert sich das Systemgewicht – den schweren 35-Liter-Evoc-Fotorucksack inbegriffen – und nähert sich der 140-Kilo-Marke. Nur gut, dass das Bulls für 150 Kilo taugt. Aufgesattelt, das System per Druck auf dem Knopf am Oberrohr initialisiert, mit dem Handy verbunden – und los geht die wilde Fahrt.
Auch ohne stundenlanges Studium (online) der Bedienungsanleitung fährt sich das Bulls intuitiv. Mit dem Wippschalter links wählt man die E-Unterstützung – Off, Eco, Flow, Flex und Fly. Mit dem Schalthebel rechts wählt man einen von zwölf Gängen: Hochschalten mit kurzem, leichtem Druck auf den vorderen, Runterschalten per hinterem Hebel. Wem das nicht passt, der tauscht einfach die Schaltrichtung.
Was sofort auffällt: Der Gangwechsel ist zackig schnell und fast unspürbar. Nur zwischen dem vierten und fünften sowie dem achten und neunten Gang spürt man das Shiften, bei allen anderen Gängen so gut wie gar nicht. Hier spielt die Integration von Motor, Getriebe sowie Software (und die Automobil-Gene von Pinion) ihren Trumpf aus.
Apropos Software: Fit E-Bike ist nicht gerade der originellste Name für eine App, ist aber vor allem eines: intuitiv. Blitzschnell kann das Bike abgesperrt, der Reifendruck gemessen, die MGU – das ist die angesprochene Motor-Getriebe-Einheit – auf persönliche Vorlieben konfiguriert und die Route von Komoot aufs Handy-Display gebeamt werden.
Aber unter uns: Brauche ich alles nicht. Ich sitze einfach auf, kopple Bike und iPhone und fahre meine Hausrunde. Immer und immer wieder. Ich will zwar auch die verschiedenen Unterstützungsstufen, deren Performance-Unterschiede und ihren Einfluss auf den Stromverbrauch testen. Aber in Wahrheit will ich mein neumodisches Carbonriemen-Baby in minimaler Zeit einfach maximal quälen.
Meine liebste Folterstrecke führt von der Skisprungschanze in Partenkirchen (nicht Garmisch!) rauf zur Osterfelder-Gipfelstation. Das sind 16 Kilometer und 1300 Höhenmeter Vollgas. Ohne Zeit für Mensch und Maschine, sich mal kurz auszuruhen. An alle das draußen: 57 Minuten 46 vom Eingang Olympiastützpunkt zur Terrasse Gipfelstation wollen unterboten werden! Ich bin gespannt.
Im Juli fahre ich die Strecke Olympiastützpunkt–Osterfelder sechs Mal. In allen Unterstützungs-Modi. Interessant: Für die 16 Kilometer und 1300 Höhenmeter brauche ich im Flow-Modus eine Stunde 13 und habe oben angekommen noch 23 Prozent Akku. Im Fly-Modus noch 18 Prozent. Ich hätte erwartet, im Flow-Modus noch bedeutend mehr Restsaft im Akku zu haben als im Fly-Modus.
Aber eigentlich scheint mir die Sache klar: In den 16 Minuten, die ich im Flow-Modus länger unterwegs bin, saugt der Motor natürlich auch Saft. Lange Rede, kurzer Sinn: Ich fahre seit diesem Modus-Test konsequent im Fly-Modus. Den Wippschalter links könnte ich getrost abmontieren. Fly hat spürbar mehr Bumms, macht am meisten Spaß, und ob der Akku nun nach 1500 oder 1700 Höhenmetern leer ist, ist dann auch egal.
Entscheidend für mich als Tourenbiker ist eh ein zweiter Akku. Und den – einen fetten 960er! – bekomme ich am 29. Juli. Fortan sollte ich nie wieder über vorzeitiges Entsaften nachdenken. Ein 960er Akku am Bike und der alte 720er im Rucksack – so schaffe ich 3500 Höhenmeter ohne Steckdose. Schöne neue E-Bikerwelt! Aber dann kommt alles ganz anders …
Friedemann von Bulls baut mir in den heiligen Radhallen der BIKE-Redaktion den neuen 960er-Akku unten ans Unterrohr, schaltet wieder an und es passiert: nichts. Das Bike ist tot. Todesursache: unbekannt. Auch der angestöpselte Diagnose-Rechner zuckt virtuell mit den Schultern. Das Vuca muss zur Wiederbelebung heim zu Bulls. Das Gute am Schlechten: Der Exitus ereilt das Bike immerhin in der warmen Werkstatt in München, nicht auf einem zugigen Dreitausendergipfel.
Eine Woche später ist es von den Toten wieder auferstanden. Täter: ein defektes Verbindungskabel im Rahmen. Aber jetzt ist wieder alles fresh, das große Höhenmeterfressen kann weitergehen. Mein Plan: Ich will bis Juni 2025 keine 50.000, sondern 100.000 Höhenmeter sammeln. Rund um Garmisch gibt’s genug Testpieces: Hohe Kiste, Heimgarten, Schachen.
Und daheim im Allgäu wartet im Hochsommer DER Scharfrichter schlechthin: das Nebelhorn. Die steilste Rampe Deutschlands endet am höchsten anfahrbaren Punkt Deutschlands. Das Bulls wuchtet mich in unter einer Stunde zum Gipfelkreuz.
Anfang September sammeln mein Baby und ich rund um Bormio eine Handvoll Dreitausender. Seither ist das Bulls mit ziemlicher Sicherheit das höchstgereiste E-MTB der Alpen: 3285 Meter. Ausfälle, Defekte, Zipperleins? Bis auf die oben beschriebene Fehlermeldung im Display und den Kabelschaden: nichts Dramatisches.
Die hintere 203er-Bremsscheibe nimmt mir die ultralangen Abfahrten (und mein Gewicht) irgendwann krumm, die vordere – 220 mm im Durchmesser – achtert keinen Millimeter.
An der Bocca di Profa auf 2663 Metern Höhe muss ich übrigens meinen ersten Platten an einem Carbonriemen-Bike flicken. Funktioniert etwas anders als mit einem Ketten-Bike, aber funktioniert. Ich bin gespannt wie ein Carbonriemen, ob der irgendwann mal reißen sollte …
Projekt 100.000 Höhenmeter läuft! Nach vier Monaten hat das Bulls Vuca EVO AM 2 knapp 30.000 Höhenmeter abgespult. Und bewährt sich bis auf den einen Kabel-Glitch hervorragend. Wir halten euch weiterhin auf dem Laufenden, wie sich das Carbonriemen-E-MTB beim alpinen Höhenmetersammeln schlägt.
Dauertester Andreas Kern arbeitet als freier Touren-Autor für BIKE. Einige seiner letzten Geschichten gibt’s hier zu lesen: