Ein Industriekomplex im hippen Kölner Stadtteil Ehrenfeld. Der sehr bunt gehaltene Showroom im Erdgeschoss des Hauptbaus macht es eigentlich sofort klar: Radfahren soll Spaß machen. Das soll es aber hier vor allem auch deshalb, weil es nebenher so praktisch ist: Das Cargobike, das hier in Variationen auf Edelstahlsockeln präsentiert wird, hat ein sehr kleines Vorderrad und einen großen, faltbaren Korb dahinter. Und auf den kommt es an. “Das hat sich eher zufällig ergeben”, leitet Sören Gerhardt, Mitgründer von MuliCycles, bescheiden die Story des Unternehmens ein: “Mit Familie in der Großstadt Hamburg, in der ich damals lebte, macht man sich so seine Gedanken über seine Mobilität. Ich war begeistert von Brompton-Falträdern, mit denen sie so einfach sein kann.”
Andererseits war da damals schon eine unglaubliche Präsenz von Long-John-Lastenrädern. “Perfekt für den Transport in der Stadt – aber wie soll ich das parken?” Eine Synthese aus den beiden Mobilitätslösungen wäre wünschenswert … und entstand ab 2014 tatsächlich im Kopf des Firmengründers. Zusammen mit seinem Bruder Jonas, einem Maschinenbau-Ingenieur, entwickelt und baut er schließlich 2016 die ersten hundert Mulis: Lastenräder nach Long-John-Prinzip – also der Transportfläche zwischen Lenker und Vorderrad –, aber mit sehr kleinen Rädern: einem 16-Zöller vorn und einem 20er hinten. Ergebnis: Das Rad ist gerade mal zwei Meter lang.
Den entscheidenden Unterschied macht aber der Transportbehälter, ein Korb. Zwei Seitenflächen aus Metall, dazwischen noch eine schmale Basisfläche. Darin Aufnahmen für die 40x60er-Euro-Box und viele andere Gepäckformate. Das Wichtigste: Durch die textile Vorder- und Rückseite des Korbs, der fest mit dem Rahmen verbunden ist, sind die zwei Seiten nach innen klappbar und dann sogar mit einem integrierten Schloss abschließbar. Effekt: Das Rad ist damit nur noch halb so breit. Dazu trägt natürlich auch der schnell verstellbare Vorbau bei: Spannhebel öffnen, Lenker längs zum Rahmen drehen, Spannhebel schließen – Parkproblem gelöst!
Mit den gut zwei Metern Länge ist das Ganze kaum länger als manches E-Bike. Und damit kommt noch ein Mobilitätsaspekt ins Spiel: Große Lastenräder werden von den meisten Verkehrsverbünden mit Hinsicht auf die Länge nicht transportiert. Das kleine Muli von den meisten aber schon. “Ich kann das Rad nicht nur im Alltag schnell mal in die Bahn laden – es kommt mit in den Urlaub!”, erklärt später Hannes Herber vom Muli-Marketing, der uns das Unternehmen heute näherbringen will. Ein kleines Lastenrad als Allrounder. Aber vor allem auch als großer Problemlöser, vor allem so sieht man das hier.
So bringt man auch in den einzelnen Abteilungen und Gebäuden des Unternehmens viele, viele Mulis recht einfach unter, die auf Endmontage, Kontrolle zur Qualitätssicherung oder den Versand warten. Im zweistöckigen Hauptbau – typische Zweckoptik der Neunzigerjahre zwischen vielen altehrwürdigen Industriegebäuden aus den 1900ern im belebten Viertel – wird unten geschraubt und entwickelt, oben sind die Büros und Gemeinschaftsräume.
Noch ein wesentlicher Unterschied zum Standard-Fahrradhersteller: Hier wird auch der Rahmen des Muli geschweißt! Hohe Fertigungstiefe nennt man das. Mittlerweile gibt es zwei Schweißer und jetzt auch zwei Schweißroboter, von denen einer noch auf seine Einrichtung wartet. Er wird dann die Mulis komplett schweißen. Mitten in Köln – das ist schon ziemlich außergewöhnlich. Da der Roboter die Rohre nicht “frei Hand” schweißen kann, sind die Rahmen mit Muffen-ähnlichen Verbindungen in die Schweißbank eingespannt, wie wir sehen können.
Auch gegen Rost beschichtet und gepulvert werden die Räder in Deutschland allerdings (noch) nicht vor Ort. Montiert wird in drei Stationen: In der ersten werden die Lager in den Stahlrahmen eingepresst. Danach kommen Komponenten wie Laufräder, Motor oder Scheibenbremsanlagen an den Rahmen. In der letzten Station gibt’s das Finish mit der optimierten Kabelverlegung und den Feinheiten und Einstellungen.
Fließbandarbeit ist das nicht und soll es nicht sein. Die Monteure arbeiten konzentriert und ruhig. Wie alles im Unternehmen bekommt jede Aufgabe die Zeit, die sie braucht. Neukunden können sich hier im Kölner Factory Shop einen Beratungstermin geben lassen. Der beinhaltet nicht nur die genaue Beratung für das Muli und eine Testfahrt, sondern auch einen Rundgang durch die Herstellung– von der Entwicklung über die Schweißerei und Montage bis hin zur Qualitätskontrolle. „Die Kunden und Kundinnen sollen unser Muli-Konzept im Ganzen verstehen“, erklärt Hannes. Und dieses Konzept ist recht weitreichend, wie wir noch sehen werden.
Wie eng die Muli-Macher die selbst gesetzte Vorgabe sehen, so viel wie nur möglich vor Ort zu machen, zeigt auch der blaue Metallkubus ein paar Meter über den Hof. “Prüflabor” steht groß auf dem Türschild, leise dringt ein sanftes Ächzen und das immergleiche rhythmische “Woop” einer Maschine an die Ohren. Im Weiß des Labors steht eine gut bettgroße Testvorrichtung, auf der ein Muli-Rahmen montiert ist, daneben ein Arbeitstisch mit Monitoren.
Die Vorrichtung drückt mit einer definierten Kraft etwa einmal pro Sekunde auf die Lenkerenden. “Wir machen seit einiger Zeit auch unsere Prüfungen selbst”, erklärt Hannes. Vorher wurden sie bei einem angesehenen deutschen Prüflabor durchgeführt. Geprüft wird hier nicht nur nach der Lastenrad-Norm, sondern “weit höher”, so Hannes. Sinnvoll, denn die aktuell noch geltende Norm 79010 wird gerade durch eine neue, europäische Norm ersetzt – sie ist aber noch in der Abstimmung. Einig sind sich alle Zuständigen, dass die bisherigen Anforderungen zu gering oder unpassend waren.
Sami Al-Khayat arbeitet seit zweieinhalb Jahren im Bereich Entwicklung. Er erklärt uns, was die dritte Besonderheit von Muli gegenüber den anderen Herstellern ist – und welche Rolle er als Entwickler dafür innehat. Eigentlich ist er Rahmenbauer, gerade baue er nebenher eine geländegängige Rikscha, erzählt er wie beiläufig. Mit seinem Job ist er für die Entwicklungsabteilung jedenfalls bestens qualifiziert.
Natürlich geht es dabei auch um den Prototypen-Bau, beispielsweise wenn eine neue Motorvariante in den Rahmen integriert wird. Aber vor allem perfektionierte er den Rahmen des Muli – in vielerlei Hinsicht: “Es gab am Rad enorm viele Veränderungen in den letzten Jahren; viele nehmen die Kunden und Kundinnen gar nicht wahr.” Darunter sind auch viele in Sachen Effizienz der Fertigung: Das Ziel, das Muli in Deutschland zu bauen und damit auch preislich konkurrenzfähig zu sein, ist neben dem passenden Werkstoff auch eine Frage dessen, wie man ihn designt. “Es ist ein bisschen wie Quartett spielen”, erklärt Sami mit einem Lächeln.
“Wir probieren vieles aus, einige Änderungen werden dann später für die Serie übernommen.” Noch ein Vorteil von “Alles in einem Haus”! Denn für die Produktion zählt nicht nur, wie stabil das Rad letztendlich ist oder wie das Handling definiert ist. Es zählt natürlich auch, wie viel Kosten diese oder jene Art der Herstellung macht – und wie man eben den Rahmen verändern kann, um die Herstellung effizienter zu machen. Wenn man mit Produkten konkurriert, die in Niedrigpreisländern hergestellt werden, muss die Effizienz in der Herstellung immer weiter vorangetrieben werden.
“Auch die effiziente Produktion bestimmt, wie ein Fahrrad designt ist”, sagt Sami. Und deshalb ist das Rad aus gebogenen CroMo-Stahlrohren. Einfach und sehr exakt zu verarbeiten. Und hochgradig nachhaltig: Muli Cycles verwendet dafür grün hergestellten Recyclingstahl. Damit das Ganze nicht zu schwer wird, werden sehr dünnwandige Rohre verwendet, was wiederum eine sehr hohe Genauigkeit bei der Verarbeitung bedeutet. Natürlich wird auch in der Montage an der Effizienz gearbeitet.
Doch die grundlegende Basis für die Perfektionierung der gesamten Produktion liegt im Rahmen und der Art, wie er designt ist: “Aus der Sicht der Entwicklung das Fahrrad so gestalten, dass es sich mit weniger Aufwand schweißen und montieren lässt”, erklärt Sami. “Das Schöne an meinem Job ist ja, wenn ich mit etwas nicht einverstanden bin, kann ich es selbst verändern”, lacht Sami. So konnte er etwa die Aufnahmen für die Korb-Sicherungen – zwei Querstangen, die den Behälter offen arretieren – konisch statt rund gestalten. Daher haben jetzt alle Mulis diese neue Aufnahme, die es erlaubt, dass man die Sicherungen viel einfacher mit einem Klick einsetzen kann.
Je effizienter die Vorgänge, desto besser kann der Nachhaltigkeitsgedanke in puncto “regionale Herstellung” aufgehen. Nachhaltig heißt übrigens auch, dass neues Zubehör oder Anbauteile rückwärts kompatibel sind: Auch das vier Jahre alte Muli kann mit einem neuen Produkt ausgestattet werden. Und der Preis für das Muli Muskel, also das Rad ohne Motorunterstützung, liegt nach einer kürzlichen Preissenkung bei 2890 Euro – absolut konkurrenzfähig für ein so durchdachtes Produkt. Für den Muli Motor legt man 5230 Euro auf den Händlertresen.
Apropos Händler: Auch das ist den Muli-Machern wichtig: “90 Prozent der Räder”, so Maike Nirode, die den Vertrieb des kleinen Cargobikes leitet, “werden über den Händler verkauft.” Schließlich ist schon ein normales Lastenrad ein für den Neueinsteiger erklärungswürdiges Produkt. 150 Muli-Händler gibt es derzeit in Deutschland. “Vor allem in Großstädten wie Hamburg, München oder Berlin sind wir sehr stark vertreten”, so Maike. “Als ich vor Kurzem in Hamburg war, habe ich gestaunt, wie viele unserer Räder sich da im Stadtverkehr tummelten – unglaublich.” Die Muli-Dichte in der Großstadt macht durchaus etwas her, das fiel uns schon bei der Anfahrt auf.
Doch Muli will weiter: “Die Internationalisierung ist ein großes Thema”, so Maike, “in der Schweiz und in Österreich sind wir schon gut und wachsend vertreten. Und wir nehmen gerade Kanada und die USA ins Visier.” Interessant ist auch, dass in Deutschland bis vor vier Jahren das Muli Muskel doppelt so viel gekauft wurde wie das Motor-Bike. Heute ist es umgekehrt. Die Muli-Fans sind also nach und nach zur Überzeugung gekommen, dass ein Lastenrad mit Unterstützung für sie besser ist als eines ohne. Auch wenn es, zumindest auf den ersten Blick, weniger nachhaltig ist als das ohne Motor.
“35 Jahre und ein, zwei kleine Kinder, das trifft auf viele Leute aus dem Team hier zu”, erklärt Hannes dann beim Kaffee im großen Besprechungsraum. Kein Wunder, dass das Muli erfolgreich ist, wenn es praktisch von seiner Zielgruppe hergestellt wird, fällt uns dazu ein. Das Team ist in den acht Jahren seit seiner Gründung gehörig gewachsen: Zu den ehemals fünf Brüdern beziehungsweise Freunden, die von ihrer auf vielen Ebenen nachhaltigen Idee begeistert waren, sind stand heute 65 weitere Muli-Fans hinzugekommen.
CSR, also Corporate Social Responsibility, ist hier ein weiterer Punkt, der das Muli und seine Produktion definiert. Man nimmt wesentliche soziale Werte für sich in Anspruch. “Da ist es ganz klar, wenn die Kleine krank ist, bleibt Papa oder Mama eben zu Hause, das ist keine Frage.” Auch wenn das nur ein Aspekt ist – er verdeutlicht, wie ernst es dem Unternehmen mit sozialer Verantwortung ist; die Stimmung im Unternehmen spricht dafür, dass “Gewinnbeteiligung, Gleitzeit und Familienfreundlichkeit”, wie es auf den umfangreichen Seiten zum Muli-Team im Internet heißt, keine leeren Sprüche sind.
Gründer Sören Gerhardt fasst uns nochmals die Muli-Idee zusammen: “Erstens: Welches sind die Bedürfnisse, die das Rad stillen muss? Zweitens: Schon vor dem Loslegen wollten wir klar haben: Wie stellen wir das Produkt wirklich nachhaltig her? Und schließlich drittens: Was hat das für eine soziale Dimension? Welche Arbeitsbedingungen sind dafür nötig, in welcher gesellschaftlichen Lage handeln wir gerade? Die wirtschaftliche, soziale und ökologische Situation, da greifen wir ein, das machen wir uns bewusst. Seit wir in Köln sind, sind wir von sieben auf 70 Mitarbeiter gewachsen.”
Man will in Sachen Nachhaltigkeit noch eins drauflegen: mit dem Muli EU, einem Bike, das fast ausschließlich aus europäischen Komponenten gebaut wird. Natürlich gibt’s bei so viel Dynamik auch Wachstumsschmerzen. Da lernt man umzudenken, neu zu organisieren, Dinge neu zu definieren. So wird auch das Muli, wie schon Sami erklärte, einem ständigen Wandel unterworfen, “auch wenn das für den Muli-Nutzer oft gar nicht sichtbar ist”. Allerdings lässt Sami auch durchschimmern, dass auch eine komplett neue Muli-Variante irgendwann denkbar wäre. Er selbst fährt ja gern sportlich, und es ist ja immer gut, wenn man die eigenen Vorstellungen verwirklichen kann. Aber das ist nur so eine Auslegung von potenziellen Anspielungen …