“Shit” war das Wort, das Nathalie Schneitter durch den Kopf schoss, als sie Nicole Göldi 2021 erstmals in einem Cyclocross-Rennen erlebte. Nathalie moderierte, Nicole dominierte. Die eine Mitte 30, Ex-Cross-Country-Profi-Bikerin, Inhaberin einer Velo-Beratungsfirma, Kommentatorin beim Red-Bull-Cross-Country-Weltcup und E-MTB-Weltmeisterin 2019. Die andere gerade einmal volljährig und kurz nach der Matura mit der jungen MTB-Karriere hadernd. Nicole hatte soeben das E-MTB für sich entdeckt und würde in wenigen Monaten in Val di Sole neben Nathalie an der WM-Startlinie stehen. Und jener wurde klar: “Shit, die ist eine Maschine, und dann hat sie auch noch Talent.”
Die Vorahnung sollte sich bestätigen. Die 18-Jährige Nicole Göldi holte sich 2021 bei ihrer E-MTB-Premiere direkt Gold. Nathalie Schneitter enttäuschte mit Rang 11. Was sie nicht kommen sah: Ein Jahr später bei der WM in Les Gets war sie wieder zurück auf dem Podest – und das auch dank ihrer jungen Schweizer Kollegin. “Die WM-Medaillen 2022 haben wir zusammen gewonnen”, sagt Nathalie heute.
2019 meinte noch ein Swiss-Cycling-Vertreter im Interview, die Industrie würde alternde MTB-Rennfahrer für E-MTB-Rennen missbrauchen. - Nathalie Schneitter
Nicole hat zum Frühstück in das kleine, verwinkelte Elternhaus im Schweizer Rheintal geladen. Im Rücken steigen die Gipfel des Alpsteins auf – der Hohe Kasten (de Chaschte), der Hintere Hüser, der Säntis – vorne raus ist Liechtenstein nicht weit, wo Nicole zur Sportschule ging. Der Tisch ist üppig gedeckt, und Nathalie greift beherzt zu.
Der Termin am frühen Morgen war gewünscht, damit die beiden noch gemeinsam eine Runde Biken gehen können. Es ist kalt, nass, windig. Nicole blickt mit wenig Begeisterung in das Grau. “Es muss ja keine große Runde sein”, meint sie. Nathalie schaut auf. “Doch schon!”, meint sie mit vollem Mund und breitem Grinsen, „Das sind die einzigen Bedingungen, wo ich auf dem Bike besser bin als Du”. Es wird schnell klar: Hier haben sich zwei gefunden.
EMTB: Wie würdet Ihr zwei Eure Beziehung beschreiben?
Nicole Göldi: Ich nenne Schneitti gern meine E-Bike-Mama. Ohne Nathalie wäre ich sicher nicht da, wo ich bin. Sie hat mich in das Netzwerk eingeführt, den Kontakt zu Trek hergestellt, generell so viel geholfen und gelehrt.
Nathalie Schneitter: Nicht ganz freiwillig, muss ich sagen. Nicoles Coach (Anm. d. Red.: Urs Graf, ehemaliger Swiss-Cycling-Nationaltrainer) hat mich gebeten, sie ein wenig an die Hand zu nehmen. Ich war von der Idee semi-begeistert. Aber dann sind wir gemeinsam zur EWS-E nach Finale Ligure gefahren und sind einfach super miteinander ausgekommen. Heute ist sie mein Baby-Boss.
Nicole, wie bist Du so jung zum E-MTB gekommen?
Ich wollte meine Matura schaffen, um mich dann auf den Sport konzentrieren zu können. Also habe ich den Trainingsumfang reduziert – aber schnell auch gemerkt, dass es für das Top-Level konstante 100 Prozent und mehr braucht. Der Sport ist in den letzten Jahren immer extremer geworden. Es fiel mir schon länger schwer, den Spaß aufrechtzuhalten. Dein Körper sagt nicht Danke, wenn er die ganze Zeit am Anschlag gefordert ist. Ich war also frustriert und wollte die Freude am Velofahren wiederfinden.
Und das kam über das E-MTB?
Ja, absolut. Ich bin ab und an mit dem E-MTB meiner Mama eine Regenerationsrunde gefahren. Aber als Urs mich dann auf eine Tour mit seinen Kollegen mitnahm, habe ich gesehen, was man mit dem E-MTB wirklich machen kann. Wir sind da hoch, wo wir sonst runterfahren. Ich habe brutal gekämpft. Aber es hat mich gepackt. Es war cool, an der Fahrtechnik zu feilen und zu sehen, was alles möglich ist.
Nathi, Du bist die erste Generation im E-Racing. Was hat Dich dazu gebracht?
Auf jeden Fall nicht Langeweile. Es hat mir mega viel Spaß gemacht und mich neu gefordert. Ich wollte dann für mich noch mal ein anderes Bild des Bike-Sports aufmachen.
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Vor drei, vier Jahren bist Du bei E-MTB-Rennen noch gegen Ex-MTB-Kolleginnen gefahren. Wie hat sich E-Racing verändert?
Enorm – und vor allem ging es megaschnell. Ich kann mich an ein Radiointerview von 2019 erinnern, in dem ein Swiss-Cycling-Vertreter meinte, dass die Industrie alternde MTB-Rennfahrer für E-MTB-Rennen missbrauchen würde. Und heute? Bei der letzten WM war ich in den Top 5 die Einzige der alten Garde. Es gibt fast nur junge Podiumfahrer, die voll auf E-MTB setzen. Peter Sagan war in Les Gets am Start und wurde als Geheimfavorit gehandelt. Und wie cool war es zu sehen, dass ein Sagan keine Chance hat. Er meinte danach, dass seine Herzfrequenz höher war als auf der Straße.
Ihr kennt den Rennsport ebenfalls aus unterschiedlichen Disziplinen: Wie anspruchsvoll ist E-Racing?
Nicole: 2021 hatte ich in Val di Sole einen Durchschnittspuls von 188 und mein Max lag bei 195. Es ist den meisten einfach nicht klar, was das E-MTB alles kann und wie spektakulär der Rennsport ist. Es wird wohl noch dauern, bis das durchdringt.
Den Leuten ist nicht klar, was das E-MTB alles kann. – Nicole Schneitter
Nathalie: Mein Puls ist ebenfalls höher als beim CC. Auch weil ich mich wahnsinnig konzentrieren muss. E-Racing ist für den Kopf extrem ermüdend. Du bist schneller unterwegs, und entsprechend musst du die Bilder in einem höheren Tempo verarbeiten. Im Grunde gibt es keine Erholungsphasen, weil Uphill und Downhill konstant fordernd sind. Bergab attackierst du auch mehr, weil du mehr Federweg hast.
Nathi, was macht Nicole Göldi zu so einem E-MTB-Talent?
Nathalie: Nicole gewinnt, weil sie einfach keine Fehler macht. MTB-Rennen werden durch Fehler entschieden, und das trifft noch mehr auf E-MTB zu. Die Uphills sind so technisch, dass du nicht mehr aufs Bike kommst, wenn du mal unten bist. Es ist also wichtig, dass du ruhig bleibst und dich nicht hetzt. Nicole hat eine unglaubliche Fahrtechnik und Feinmotorik. Und gleichzeitig ist sie physisch superstark. Sie ist ein Panzer. Ein 154 cm großer Panzer.
Nicole: Auf der anderen Seite macht mich meine Athletik auch nicht leichter. Watt pro Kilo spielen immer eine Rolle. Aber eben vermehrt, wenn die Strecke einfach ist. Und wir fahren keine Kieswege. Wir sind ja beispielsweise bei der WM dort bergauf gefahren, wo die CC-Athleten runter sind. Daran scheiterte dann auch ein Sagan.
Spannend ist auch, wie Ihr beide als ganz unterschiedliche Typen um den Sieg kämpft.
Nathalie: Für das E-Racing braucht es besondere Qualitäten, und die kommen uns beiden entgegen. Klar, wir sind komplett anders. Ich bin der Ausdauerfuzzi, Nicole das Power Horse. Aber auf dem E-MTB geht es nicht so sehr um die Pedalierleistung oder das Höhenmetersammeln. Es geht viel um Technik und die Lust aufs Spielen. Dann fährst du die Stelle eben 25 mal, bis du es kannst …
Welcher Typ bist Du denn in Nicoles Alter gewesen?
Hm. Mein großer Fehler war sicherlich, dass ich damals zu viel auf andere und zu wenig auf mich und auf meinen Körper gehört habe. Je mehr ich mich von anderen leiten ließ, desto schlechter wurden die Resultate. Nicole hat es sehr gut raus, sowohl auf objektive Trainingsdaten als auch auf das subjektive Empfinden zu schauen. Heute kann ich das auch. Das ist sicherlich Lebenserfahrung, und ehrlich gesagt brauche ich auch den Ausgleich durch meine Arbeit. Mir kommt entgegen, dass ich mich nicht auf das E-Racing fokussieren kann.
Wenn der Sport so spektakulär und spannend ist, war um ist der Support aus der Industrie noch nicht so da? Nathi, Du bist voll berufstätig und Nicole, Du hast Dir Deinen Start in die Professionalität mit einer Crowdfunding-Aktion finanziert.
Nicole: Ja, ich wollte meine Eltern entlasten. Es kommt schon was zusammen, wenn man den Sport professionell ausüben will. Meine erste WM bin ich mit dem E-MTB von meinem Coach gefahren. Es hatte 5000 Kilometer drauf. Das Crowdfunding ist in der Schweiz bei jungen Athleten gar nicht so unüblich. Inzwischen habe ich bei Trek unterschrieben, habe mit Appenzeller-Bärli-Biber einen Kopfsponsor und einige weitere Sponsoren.
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Aber dennoch reist Ihr auf eigene Kosten, ohne Service-Team, ohne Physio, ohne Unterstützung – es gibt eine Weltmeisterschaft und Nationaltrikots, aber keine Nationalmannschaft.
Nathalie: Es ist eben ein megajunger Sport. Sachen brauchen Zeit. Wir sind erst in der vierten Saison, und für das hat E-Racing krass große Schritte gemacht. Es ist nicht so einfach, für einen neuen Sport viel Budget freizumachen.
Nicole: Und Bosch hat in der letzten Saison einen neutralen Race-Support gestellt. Das war wirklich super.
Das klingt mir ein wenig zu verständnisvoll…
Nathalie: Nein, wir sind keineswegs zufrieden mit der Situation und arbeiten sehr daran, Dinge voranzutreiben. Ich glaube ja, die Industrie hat den Mehrwert von E-Racing in diversen Bereichen noch nicht erkannt. Rennsport ist zum Beispiel auch immer Treiber für Produktentwicklung. Dennoch merken wir, dass sich das Bewusstsein ändert.
Nicole: Von Seiten des Verbandes ist es eben so, dass nur die olympischen Sportarten richtig Förderung erhalten. Das sind CC und BMX. Für E-MTB gibt es keine Ressourcen.
Was würdet Ihr Euch denn vom E-Racing wünschen?
Nathalie: Spektakuläre Strecken mit guter Visibilität, um zeigen zu können, dass der Sport viel geiler ist, als die Leute denken.
Nicole: Ich wünsche mir, dass viele junge Athleten dazukommen.
Dann wird es auch interessanter für Teams, und generell gewinnt der Sport an Glaubwürdigkeit. Wir brauchen diesen Image-Wechsel.
Was ist für Euch das spannendste E-Racing-Format?
Nathalie: E-CC ist besonders zuschauerfreundlich, die EWS-E eher abfahrtsorientiert. Für mich als Athletin ist die E-Bike World Tour next level. Man ist zwei, drei Tage nur auf krassen Trails unterwegs, es ist abenteuerlich, eine Mischung zwischen Enduro-DH und CC-Uphill. Aber der Weltmeistertitel wird im E-CC vergeben, und das ist für mich die Krönung. Vielleicht gibt es in zwei, drei Jahren ein ganz neues Rennformat, auch dank der technischen Weiterentwicklungen, das ist schwer zu sagen. Und die Frage ist auch, was Discovery machen wird (Anm. d. Red.: Nach zehn Jahren wandern Organisation und Übertragungsrechte des MTB-Weltcups von Red Bull zu Discovery Sports). Das Potenzial ist jedenfalls da für E-Racing.
Les Gets war ein riesiges Bike-Fest. Hat man den E-MTB-Rennen auch Aufmerksamkeit geschenkt?
Nicole: Ja, es waren wirklich viele Zuschauer an der Strecke, und bei der Siegerehrung war der riesige Platz vor dem Podium voll.
Nathalie: Es sind auch einige CC-Fahrer an die Strecke gekommen. Nino (Schurter) war da und Sina (Frei). Wegen E-MTB reist du nicht nach Les Gets – aber wenn du da bist, schaust du es dir schon an.
War für Euch Les Gets das bisherige Highlight Eurer E-Rennkarriere?
Nathalie: Les Gets war für mich schon sehr emotional. Ich bin dort 2004 Juniorinnen-Weltmeisterin geworden. Ich hätte niemals gedacht, dass ich 18 Jahre später wieder auf dem Podest stehe und das in einer anderen Bike-Sportart, die mir so viel Spaß macht. Und dann war es auch ein Moment, den ich mit Nicole teilen konnte, und das war megaschön.
Nicole: Das letzte Jahr haben wir gemeinsam die Strecken besichtigt, uns gegenseitig angespornt, uns ein Zimmer geteilt und viel gelacht. Ich glaube, ich habe mich auch immer so auf die Rennen gefreut, weil wir das gemeinsam gemacht haben.
Nathalie: Ich finde, dass wir die WM-Medaillen 2022 zusammen gewonnen haben. Außerdem war es immer ein Lebenstraum von mir, jemanden Champagner über den Kopf zu schütten. Vorher habe ich mich nie getraut. Bei Nicole schon.
Sie stammt aus Solothurn. Sie wurde 2003 Schweizer Juniorinnen-Meisterin im CC, holte Bronze bei der EM und im Jahr darauf den Juniorinnen-Weltmeistertitel in Les Gets. 2008 folgte EM-Gold, WM-Silber in der Kategorie U23 und der 15. Rang bei den Olympischen Spielen in Peking. Ihren einzigen Weltcupsieg bei der Elite fuhr sie 2010 ein. 2011 wurde sie bei der WM Fünfte und holte in der Staffel Silber. Nach dem Ende ihrer Rennkarriere 2016 gründete sie die Velo-Beratungsfirma Antritt. Sie ist außerdem Mit-Organisatorin der Cycle Week in Zürich und seit 2018 Red-Bull-Kommentatorin beim UCI Worldcup. Ihren Rücktritt vom Rücktritt verkündete sie 2019 und wurde erste E-MTB-Weltmeisterin in der Geschichte. 2020 und 2022 folgten die Bronze-Medaillen.
Sie fuhr schon mit 5 Jahren ihr erstes Velorennen und besuchte die Sportschule in Vaduz/Liechtenstein. In ihrer Jugend war sie sowohl im Cross Country als auch im Radquer erfolgreich und Teil der Nationalmannschaft. 2020 war sie bei der U19-CC-Europameisterschaft als Achte beste Schweizerin und Schweizer Cyclocross-Meisterin. Im selben Jahr machte sie ihre Matura, und die Zweifel an ihrer Zukunft im CC-Sport wuchsen. Fast zufällig stieg sie auf das E-MTB, fand wieder Freude am Radsport und wurde in ihrem Premierenrennen 2021 Weltmeisterin. 2022 holte sie erneut WM-Gold sowie den Gesamtweltcup-Titel.