Ein Rennen beginnt nicht mit dem Startschuss. Ein Rennen beginnt mit dem Einsetzen der Angst. Es ist keine Angst im üblichen Sinne. Eine, wie sie etwa aufzuckt, wenn man sich einem Raubtier gegenübersieht oder einer tobenden Naturgewalt. Es ist eine diffuse, schwer zu greifende Spezialversion von Angst. Tage vor dem Rennen wabert sie tief im Inneren los, bis sie Minuten vor dem Start schließlich die letzte Faser des Körpers durchdrungen hat und sich in einer Art Losfahrpanik entlädt. Alles erscheint plötzlich als eine Gefahr für das Wohlbefinden. Die Berge, die hinter dem Startbogen in den Himmel ragen. Die Quellwolken, die sich über den Gipfeln in Wartestellung zu schieben scheinen. Die Austrainierten in den Startboxen um einen herum, die animalisch starrend auf das Signal zum Lospreschen warten. Vor allem aber der eigene Team-Partner, der im Moment noch lammfromm neben einem steht. Denn wenn Team-Rennen wie die BIKE Transalp eines lehren, dann das: Der Startschuss kann einen Kumpel in einen Engel verwandeln. Oder in ein Monster.
Es ist Samstagmorgen, ein warmer Julitag. Der entspannungsverneinende Sound, der aus den Boxen hämmert, steht im harten Kontrast zum idyllischen Charakter des Bergdörfchens Nauders. Ebenso das Flatterband. Die Aufblasbögen. Die hektisch umherwuselnde Medienschar. Und natürlich die hibbelige Teilnehmermenge, die maximal verdichtet in den Startboxen steht. Eine Digitalanzeige mit riesigen, roten Zahlen informiert über den unmittelbar bevorstehenden Showdown. Nur noch wenige Sekunden. Tino stupst mir mit der Faust gegen den Oberschenkel, als würde sich dort mein An-Schalter befinden.
„Na, dann!“, schreit Tino gegen das Lärminferno an: „Rocken wir das Ding!“ Ich komme nicht mehr dazu, etwas zu erwidern und nicke nur kurz. Der Moderator hat den Countdown runtergezählt. Ein Ruck geht durch die Menge. Alle sprinten los wie angezündet. Ein maximal stressiger Moment, aber irgendwie auch geil. Das metallische Klacken hunderter Klickpedale. Das heisere Röhren der Führungsmotorräder. Das schrille Quietschen der Bremsen vor der ersten Kurve. Zuschauergebrüll. Moderatorengebrüll. Fahrergebrüll. Ein Soundtrack, der jedes Gefühl von Normalität von einem Augenblick auf den anderen zerstäubt.
Das Tempo ist mörderisch. Jeder der 600 Fahrer weiß das. Die Elite-Rennfahrer vorne. Die Ambitionierten, die versuchen, Anschluss zu halten. Die Hobby-Leute, denen es doch eigentlich nur ums Ankommen geht. Doch in dem aufgepeitschten Zustand ist keiner bereit, sich den Gesetzen der Natur zu beugen. Mit schweren Tritten und schwerem Atem knetet die Meute über den Schotter, als befände sich der Gardasee oben auf dem ersten Gipfel und nicht 500 Kilometer entfernt auf der anderen Seite der Alpen. Ein ekliges Gefühl ist das. Wie ertrinkend nach Luft zu schnappen, während ein Schwarm Haie die Waden zerbeißt.
Dabei sind mir die anderen Teams eigentlich egal. Meine ganze Konzentration liegt auf Tino. Wie ist der Atem, wie der Tritt? Ob die Woche hart oder richtig hart wird, liegt vor allem an ihm. Entpuppt sich Tino als Engel, werden wir die 17500 Höhenmeter als symbiotische Einheit abarbeiten. Doch wehe, sollte sich Tino als Monster entpuppen. Als Platzierungsgeiler, der das Tempo diktiert und mich Berg für Berg ins Reich des Schmerzes schickt. Dann stünde mir eine Horrorwoche bevor. Es ist Jahre her, dass ich mit Tino im Team ein Rennen gefahren bin. Wir wohnen hunderte Kilometer auseinander. Ich weiß nicht, wie fit er ist. Ein einziges Prozent Leistungsunterschied kann bei Menschen mit unterschiedlich ausgeprägter Sozialkompetenz zur Eskalation führen. Doch so gierig, wie Tino die Luft einsaugt und hart wieder auspresst, scheint er die Steigung ähnlich zu spüren wie ich. „Lass’ die alle fahren. Erst mal Rhythmus finden“, raunt er. Eine kodierte Bitte nach Tempodrosselung. Was mich zutiefst beruhigt. Offenbar haben wir so ziemlich dasselbe Fitness-Level. Ich spüre, wie die Anspannung nachlässt. Der erste großartige Moment dieser BIKE Transalp.
Der Wecker klingelt um 5:30 Uhr. Wegen der anspruchsvollen Strecke, die über den mythenumrankten Gaviapass führt, ist der Start heute für 8 Uhr angesetzt. Eine Stunde früher als sonst. Kein Problem. Nach drei Tagen BIKE Transalp ist inzwischen alles Routine. Morgentoilette, Getränke anmischen, Tasche zur Rezeption bringen, frühstücken, umziehen, dann ab zum Start. Ein täglich gleicher Rhythmus, der mit der Welt außerhalb der BIKE Transalp keinerlei Schnittpunkte hat. Als hätte sich eine unsichtbare Blase über uns alle gestülpt. Das Weltgeschehen scheint galaxienweit entfernt. Alles, worum es geht, sind Höhenprofile, Kilometerangaben, Pulsbereiche, Wetterprognosen. Angenehm.
Was anders ist als in den frühen BIKE-Transalp-Jahren: Die Etappen sind heute ein rundum betreutes Quälen und keine Frage des Überlebens mehr. Bei der Ur-Transalp schleppten sich die Letzten manchmal erst nach 19 Uhr ins Ziel. Am Taschen-LKW mussten die sackschweren Reisetaschen abgeholt und selbst zum Hotel geschleppt werden. Wobei man dann feststellte, dass drei Kilometer in den Alpen andere Ansprüche an Körper und Psyche stellen als drei Kilometer in beispielsweise Schwerin. Und dass es durchaus einen Grund hat, dass ein Hotel den Namen „Panorama“ trägt. Wer einmal 300 Höhenmeter nach einer Etappe zum Hotel mit beworbener toller Aussicht kurbeln musste, bucht nach so einem Erlebnis künftig lieber Hotels mit Namen „Zur Post“ oder „Central“.
Unser Hotel befindet sich nur wenige Meter neben dem Start. Dass sich die Natur selbst von ausgefeilter Planung nicht beeindrucken lässt, macht der Blick aus dem Fenster klar. Finstere, hämatomblaue Wolkenberge schieben sich so bedrohlich über Bormio wie die Raumschiffe der Bösen in „Independence Day“.
„Oh Gott, hoffentlich pisst es nicht. Oben auf dem Pass ist es bestimmt arschkalt“, mustert Tino besorgt den Himmel, nachdem wir uns in der Startbox aufgestellt haben. „Willkommen zur Königsetappe!“, startet der Moderator gerade das Aufheizprogramm. Das ist das Signal für den Himmel, der sich nun apokalyptisch über Bormio entlädt. Der Halligalli-Mitklatsch-Song, der zur Dramatisierung der Startphase in Diskolautstärke eingespielt wurde, erstirbt wie erschossen. Und auch der Aufblasstartbogen scheint einen Treffer abbekommen zu haben. Urplötzlich erschlafft sackt er in sich zusammen. Stromausfall. Die Etappe wird abgebrochen und schließlich abgesagt. Busse sollen die Fahrer nach Malè bringen. Tino, zwei weitere Kumpels und ich beschließen, die 90 Kilometer zum Ziel über den Gaviapass auf der Straße abzukurbeln. Königsetappe mal anders. Die Überquerung der Alpen bleibt immer ein gewisses Abenteuer.
Die Eindrücke der BIKE-Transalp-Woche sind so verdichtet auf uns eingeprasselt, dass es schwerfällt, sich an alles zu erinnern. Nauders. Reschensee. Livigno. Bormio. Malè. Valle del Chiese. Valle di Ledro. Jede Etappe ist eine Geschichte für sich. Tino und ich sind zu einer Einheit verwachsen. Wir fahren zusammen. Wir leiden zusammen. Wir freuen uns zusammen. Wir essen zusammen. Wir schlafen Schulter an Schulter im Doppelbett. Und mittlerweile brauchen wir nicht mal mehr Worte, um uns zu verstehen. Der Anstieg zur Bocca di Trat oberhalb des Ledrosees ist eigentlich gut zu fahren. Doch die Aussicht auf das nahe Ziel in Riva entfesselt bei allen Teams noch mal Kräfte, die der Körper eigentlich nur für den Kampf um Leben und Tod vorgesehen hat. Tino wuchtet die Kurbel stumm leidend von einer Umdrehung in die nächste. Der leere Blick verrät, dass er am Limit ist.
Mir geht es kaum besser. Doch Laktatschmerz ist nun mal die Grundvoraussetzung für die Euphorie im Ziel. Je mehr es wehtut, desto größer am Ende das Glücksgefühl. Auch das war 1998 schon so. Was für ein intensives Ganzkörpererlebnis. Der Nahtod-Moment im berüchtigten Adrenalina-Downhill. Der Motivationsschub durch die jubelnden Kinder in Ville del Monte. Die hysterische Reaktion meiner Beine auf die endlose Steigung am Tennosee. Und schließlich der Einschuss der Glückshormone, als nach sieben Tagen im Sattel endlich die Ziellinie unter uns durchhuscht. „Mega!“, ruft Tino, und dann knuddeln wir uns wie zwei kleine eingesaute Kuschelmonster im siebenten Himmel.
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Die BIKE Transalp war das erste Mountainbike-Rennen, das zwei Fahrer zu einer Schicksalsgemeinschaft verschweißte. Klassische Tages-Marathons wie der Grand Raid und der Dolomiti Superbike galten damals als ultimative Härteprobe für Biker. Ein Rennen mit acht Marathons hintereinander war unvorstellbar und bewegte sich auf einer Verwegenheitsebene mit Himalaja-Expeditionen und Wüsten-Durchquerungen. Um im Fall eines Unfalls Hilfe zu garantieren, dachte sich Transalp-Urvater Uli Stanciu den Zweier-Modus aus. Der wurde für die Duos zum Emotionsverstärker. Aber auch zur Herausforderung. Das Fahren im Team war für die individualistisch geprägten Langstreckenfahrer etwas völlig Neues. Viele schweißte das intensive, gemeinsame Erlebnis zusammen. So wie mich und Tino. Andere verstritten sich auf das Übelste. Als der Transalp-Tross 1998 Riva erreichte, fiel ein Holländer auf der Zielgeraden auf die Knie und machte seiner Freundin einen Heiratsantrag. Im Jahr darauf reiste MTB-Legende Gary Fisher nach dem Sieg auf der ersten Etappe einfach über Nacht ab, nachdem er von seinem Team-Partner Uli Rottler derart über den Kurs getrieben worden war, dass er vor Erschöpfung Schüttelfrost hatte. Hochzeit, Hass, Harmonie, alles ist in der Reibungshitze der Rennwoche möglich. Das ist heute so wie damals.
Die Maxxis BIKE Transalp ist längst ein ausgeklügeltes, logistisches System. Mehr als 130 Service-Leute kümmern sich darum, dass alles reibungslos läuft. Die Rennfahrer sollen sich voll auf das Schinden konzentrieren können. Es gibt detaillierte Pläne für alle Eventualitäten. Bei der Erstaustragung 1998 war vieles noch improvisiert. Gefahren wurde beispielsweise nicht nach Ausschilderung, sondern nach Roadbook. Weil sich das als ziemlich unpraktisch herausstellte, sprühte Rennchef Uli Stanciu kurzentschlossen mit grüner Farbe Pfeile auf die Fahrbahn. Das tat auch die italienische Telefongesellschaft, um geplante Kabelschächte zu markieren. Was dazu führte, dass sich die Führenden Ekkehard Dörschlag und Siegfried Hohenwarter fies verfuhren. Es war die Königsetappe. Castello nach Folgeria. 100 Kilometer und 3300 Höhenmeter. Als das Duo nach 110 Kilometern und 4100 Höhenmetern auf dem Computer wieder am bereits passierten Checkpoint ankam, hatte das zunächst eine verheerende Wirkung auf die Nerven der beiden. Doch die Österreicher nahmen es schließlich mit Humor. Uli Stanciu schenkte ihnen in Riva die letzte grüne Sprühdose als Erinnerung.
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