Stefanie Weinberger
· 04.05.2022
Für die Autorin des Artikels gleicht ein Bikefitting einer Paarberatung. Spätestens wenn der Frust die Lust am Biken trübt, kann ein Bikefitting helfen, die Freude wiederherzustellen.
Die Beziehung zwischen Bike und Biker kommt selten ohne Sticheleien aus. Wenn es mal nicht reibungslos läuft, stellen sich schnell Schmerz und Frust ein. Ein Bikefitting kann das Paar wieder in harmonischen Einklang bringen.
Mit Bikes ist es so ähnlich wie mit Schuhen: Damit man sich mit ihnen bequem und effektiv fortbewegen kann, müssen sie passen. Nicht immer lässt sich das bei einer schnellen Probefahrt herausfinden – sofern die überhaupt stattfindet. Denn immer mehr Räder werden im Internet gekauft, und da soll meistens ein mehr oder weniger ausgereiftes Rechen-Tool dabei helfen, das für die Körpermaße passende Gefährt zu finden.
Doch die Daten, mit denen die Tools auf den Shop-Webseiten gefüttert werden, sind oft nur spärlich: Wenn’s hochkommt, entscheiden außer der Körpergröße vielleicht noch die Bein- und selten die Armlänge darüber, welche Rahmengröße das System letztendlich ausspuckt.
Dass das ganz schön danebengehen kann, zeigt der Bike-Kauf von Simon Karosser. Ihm wurde auf der Website des Ladens zu einem 44-Zentimeter-Rahmen geraten. Als er das neu bestellte Traum-Bike abholen wollte, war es zufällig auch noch in Rahmengröße 41 vorhanden – und die Verkäuferin riet ihm nach einem Check der Sitzposition, lieber das kleinere Bike zu nehmen.
Wie gut diese Entscheidung war, stellte sich beim späteren Bikefitting heraus: „Mit dem 44er-Bike wäre so gut wie nichts mehr zu retten gewesen“, schildert er. Schließlich ist es leichter, zum Beispiel einen längeren Vorbau zu montieren, als hier noch viel wegzunehmen.
Wie kam es überhaupt dazu, ein Fitting zu machen, und was ist das? „Nach der ersten längeren Ausfahrt, es waren 50 Kilometer an der Isar, merkte ich, dass mein Kreuz wehtat. Und ich hatte vor allem beim Bergabfahren das Gefühl, nach vorne über den Lenker zu fallen – da war wohl der Schwerpunkt zu kopflastig“, erinnert sich der Hobbybiker. „Außerdem war mir der Lenker zu gerade, und meine Handgelenke und Unterarme wurden in eine unangenehme Position gezwungen.“ Im YouTube-Kanal eines Rad-Shops sei er dann auf das Thema Bikefitting gestoßen. Dabei wird die gesamte Sitzposition nach einer gründlichen Analyse vom Profi eingestellt.
Der Anbieter war in diesem Fall das Radlabor München (www.radlabor.de), dass außerdem Standorte in Freiburg und Frankfurt betreibt und seine Fitting-Software auch an Radhändler liefert (www.smartfit.bike/haendler). Auf dem Fitting-Markt tummelt sich eine Handvoll weiterer Anbieter, die auf teils unterschiedliche Methoden setzen, letztlich aber das gleiche Ziel verfolgen: Bike und Body zu einem effizienten und harmonischen Paar zusammenzuschweißen. Jedes Bikefitting läuft grundsätzlich nach einem ähnlichen Schema ab. Wir zeigen eine exemplarische Übersicht anhand des Fittings, das wir im Radlabor gemacht haben.
Wo gibt es Schmerzen, Probleme, Schwachstellen? Was soll das Fitting bezwecken, mehr Leistung, mehr Komfort, oder beides? Meist wird hier mit einem Fragebogen gearbeitet.
Der Ablauf sieht bei den verschiedenen Fitting-Anbietern ähnlich aus: Erst beantwortet man Fragen zu seinen Problemen, Zielen und der Art des Bikens: Wo tut es weh, gibt es ältere oder akute Verletzungen? Wie ist der bisherige Fahreindruck, komfortabel oder problembehaftet? Soll es auf Wettkämpfe, Touren oder Reisen gehen? Simon Karosser hat sich vorgenommen, mit seinem neuen Bike im Sommer die Alpen zu überqueren. Dabei möchte er nicht von orthopädischen Problemen ausgebremst werden.
Per Laserscanner erfasst die Software die Geometriedaten des mitgebrachten Bikes (unter anderem Sattelhöhe, Stack, Reach, Lenkerhöhe und -winkel). Ebenfalls per Laser-Punkt-Erfassung (Körpergröße, Brustbeinhöhe, Innenbeinlänge, ggf. Unterschenkellänge, Armlänge, Sitzbeinhöckerabstand auf Messhocker).
Damit das klappt, geht’s weiter mit der kompletten Vermessung von Bike und Fahrer. Dazu scannt Fitterin Uli Plaumann fest definierte Stellen mit Hilfe eines Lasers, um die Geometrie zu erfassen. Das Gleiche wiederholt die Expertin anschließend an Simons Körper: Größe, Brustbeinhöhe, Innenbein- und Armlänge erfasst sie per Laser, den Abstand der Sitzbeine ermittelt sie anhand einer Druckmessung auf einem Hocker. Bei anderen Fittings können es je nach Fragestellung auch noch mehr Messwerte sein. Nach Eingabe aller Daten in die Software ergibt sich quasi eine Punktewolke, die den gesamten radrelevanten Körperbau abbildet.
Dreidimensionale Auswertung der Sitzposition und Tretbewegung während des Fahrens auf dem eingespannten Rad.
Ziel ist es nun, den virtuell dargestellten Körper bestmöglich auf das digitalisierte Bike zu setzen. Zusätzlich bekommt die Auswertung der Daten eine dynamische Komponente per Videoanalyse. Beim Fahren auf dem im Rollentrainer eingespannten Bike zeigt sich, wie ergonomisch Sitzposition und Tretbewegung sind. Gefilmt wird dabei vor und nach dem Fitting, eventuell auch währenddessen.
Nach einem festen Ablauf werden Hüfte, Kniewinkel, Schulter/Oberarme, Bremsgriffe, Knieachse und Füße in die bestmögliche Position gebracht.
Passen Sattel, Lenker, Sitz-, Arm- und Kniewinkel? „Diese und andere Fragen beantwortet uns einerseits das Smartfit-System, andererseits die persönliche Erfahrung“, erklärt Plaumann. Dann rückt sie Millimeter für Millimeter alle verstellbaren Teile am Bike so zurecht und optimiert die Bewegung und Winkelstellung der maßgeblichen Gelenke. Falls die Einstellmöglichkeiten am Rad nicht ausreichen, schlägt sie den Austausch bestimmter Teile vor. „In unserer Datenbank befinden sich Komponenten vieler Hersteller mit ihren Abmessungen, da können wir passendere Alternativen raussuchen.“
In Simons Fall war es vor allem der Lenker. Das kopflastige Fahrgefühl und die Kreuzschmerzen kamen von einem ungünstigen Backsweep, der Rückbiegung des Lenkers. Ein daraufhin montiertes, stärker nach hinten und nach oben abgewinkeltes Modell brachte die Lösung. Auch Sattel, Griffe und Pedale zeigten Optimierungspotenzial: Ein Stufensattel in angepasster Breite bietet den Sitzknochen nun mehr Halt. Ergonomische Griffe lassen sich von der Hand besser fassen. Und auch bei Simons Plattformpedalen riet Plaumann zu einem anderen, etwas größeren Modell. Dazu gab sie Tipps, mit welchem Fußwinkel er am besten darauf stehen sollte.
Am Ende gibt es noch eine Kontrolle auf dem neu eingestellten Rad, mit wiederholter Videoanalyse sowie einem Abschlussgespräch mit Unterlagen zum Mitnehmen.
Und – hat sich die Mühe gelohnt? Bei einer Testfahrt, wieder auf der Hausstrecke, kam schon bald der Eindruck auf: ja, viel besser so! „Ich hatte auch nach einer längeren Fahrt keine Kreuzschmerzen mehr, und das Gefühl, vornüberzukippen war weg“, so Karosser. „Bei meiner Alpenüberquerung im Sommer werden mich also zumindest keine Schmerzen wegen der falschen Sitzposition ausbremsen.“
Retül wurde in den USA entwickelt und kooperiert seit zirka zehn Jahren mit Specialized. Der Biker wird nach einem Checkup der körperlichen Voraussetzungen an relevanten Stellen mit LEDs markiert und beim Fahren auf der Rolle gefilmt. Seine Bewegung wertet eine Bilderkennungs-Software mit 3D-Animationstechnik aus. Die Betrachtung in Zeitlupe oder von Standbildern ermöglicht eine noch genauere Analyse. Durch Variieren der Kameraposition lassen sich Probleme wie Beckenkippen oder Kniependeln aufdecken. Mit Hilfe der Software erfolgt die Einstellung auf einem Fittingbike oder dem eigenen Rad. Preise ab ca. 200 Euro. Mehr Infos bei Retül.
In Zukunft an Bedeutung gewinnen werden voraussichtlich rein digitale Fitting-Systeme, die mit Hilfe von KI, künstlicher Intelligenz, arbeiten. Ein Beispiel ist das neu im Online-Shop Fahrrad.de integrierte MQ-Fit-Bike-Tool des Digital-Startups Motesque. Streng genommen handelt es sich in dieser Form noch nicht um eine Fitting-Software, sondern um eine Kaufhilfe, die online bei der Auswahl des passenden Rads hilft. Kaufinteressenten können im Kaufprozess zwei Ganzkörperfotos hochladen. Daraus ermittelt eine KI einen dreidimensionalen Avatar mit den wichtigsten Variablen und empfiehlt die geeignete Rahmengröße. Eingesetzt wird die Technologie bei fahrrad.de