"Der Antrieb ist die Essenz eines Mountainbikes"

Henri Lesewitz

 · 10.11.2017

"Der Antrieb ist die Essenz eines Mountainbikes"Foto: Lutz Scheffer
"Der Antrieb ist die Essenz eines Mountainbikes"

Wie werden wir in 10 oder 20 Jahren biken? Ein Gespräch mit Entwickler Lutz Scheffer über den Reiz simpler Technik, optimalen Pedaldruck und den Vorteil einer 2x8-Schaltung.

Wagen Sie mit uns einen Blick in die Kristallkugel. Die BIKE-Ausgabe 12/2017 haben wir der Zukunft des Mountainbike-Sports gewidmet. Eine zentrale Frage: "Wie sieht das Mountainbike in ein paar Jahren aus?" Wen fragt man da am besten? Den berühmten Science-Fiction-Philosophen Stephen Hawking? Nein, wir fragten lieber Mountainbike-Visionär und Designer-Koryphäe Lutz Scheffer. Seine Konstruktionen für Votec, Bergwerk und Canyon haben in den letzten zwei Jahrzehnten Technik-Trends gesetzt. Mittlerweile entwickelt er für Rotwild. Als wir ihn bitten, uns ein Bike für das Jahr 2037 zu zeichnen, aber bitte ohne Motor, muss er lachen.

"Meinst Du wirklich, dass wir da noch selbst biken? So als biologischer Körper? Unser Geist ist dann längst in eine Maschine umgewandelt, oder unser Gehirn ist geschrumpft, weil Supercomputer unsere Aufgabe auf der Erde viel vernünftiger bewältigen können", scherzt er, fügt dann aber mit sachlichem Ton hinzu: "Bei aller E-MTB-Euphorie wird es sicher einen Trend ,zurück’ geben. Ein Bike, dass ganz unproblematisch und auf das Notwendigste reduziert ist. Leichtigkeit, Wartungsarmt, überschaubare, pflegeleichte Technik, das sind die Stichpunkte.

  Trend "zurück" zu simpler Technik: Lutz Scheffer denkt bei der Mountainbike-Entwicklung gerne auch an Alt-Bewährtes, das seiner Meinung nach mit neuen Materialien oder neuen Ansätzen modern interpretiert werden sollte. Hier ein vollgefedertes Mountainbike ohne komplizierte Feder-Dämpfer-Technik.Foto: Lutz Scheffer
Trend "zurück" zu simpler Technik: Lutz Scheffer denkt bei der Mountainbike-Entwicklung gerne auch an Alt-Bewährtes, das seiner Meinung nach mit neuen Materialien oder neuen Ansätzen modern interpretiert werden sollte. Hier ein vollgefedertes Mountainbike ohne komplizierte Feder-Dämpfer-Technik.

Die Rotwild-Studie, die er uns zeichnete, sieht dann auch tatsächlich aus wie ein echtes Mountainbike. Auf den ersten Blick recht unspektakulär. Doch das Bike steckt voller ausgefuchster Details: Innenliegender Dämpfer, dessen Feder-Charakteristik sich je nach Gelände und Fahrsituation anpasst. Voll versenkbare Sattelstütze mit automatischer Sattelneigungs-Verstellung, je nach Steigung. Sensibel ansprechende, leichte und dennoch steife Upside-Down-Gabel – für Scheffer das Gabelprinzip der Zukunft. Praktisch auch das Werkzeugfach im Unterrohr, das ein bisschen an das SWAT-System von Specialized erinnert. Besonderes Augenmerkt richtete Scheffer aber auf das Thema Schaltung.


BIKE: Welche Überlegungen stecken hinter der Studie?

Lutz Scheffer: Die Zukunft ist meistens unspektakulärer als man denkt – sie entwickelt sich im Verborgenen. Evolution erfolgt in kleinen Schritten. Dinge, die sich lange nicht verändert haben, werden vermutlich sehr beständig bleiben, bis eine völlig neue Basistechnologie erscheint. Dann erfolgt allerdings eine Umwälzung mit Effekten und Produkten, die bisher noch kein Zukunftsforscher, Wissenschaftler, Visionär und so weiter je vorhersagen konnte und vermutlich auch nie können wird. Vielleicht wären Philosophen die einzigen und eventuell auch geeigneteren Kandidaten, um Grundprinzipien der gesellschaftlichen und technologischen Entwicklung vorherzusehen.

Jede bedeutende Erfindung, die die Gesellschaft verändert und neue Anwendungs- oder Denkfelder erschlossen hat, war weder so gedacht noch gezielt beabsichtigt. Manche Erfindungen werden sich auch wieder auf uralte Technologien rückbesinnen. Frachtensegler zum Beispiel. Der Wind weht beständig über alle Ozeane und könnte riesige Schiffe mit Millionen Tonnen von Fracht bewegen, ohne dass dazu ein einziger Tropfen Öl verbraucht werden muss. Andere Erfindungen hatten eine vollständig andere Intension. Ähnlich wie die Evolution des Vogels und der Feder. Sie ist ganz sicher nicht mit der Absicht entstanden, ein flugfähiges Lebewesen zu ermöglichen.

  Hier Lutz Scheffers Idee einer versenkbaren Sitzbank in Motocross-Optik.Foto: Lutz Scheffer
Hier Lutz Scheffers Idee einer versenkbaren Sitzbank in Motocross-Optik.

Beim Fahrrad ist die Kette so ein Ding, welches überhaupt zur heutigen Urform aller Fahrräder geführt hat. Seit dem sind nur Details verbessert worden. Ich habe so ein paar Detailverbesserungen angedacht, die sich um die Themen Antrieb sowie Federung und Ergonomie drehen. In der Summe müssen sie einen echten Vorteil bieten: dieser misst sich am besten bei Sportgeräten im Wirkungsgrad. Ist der Wirkungsgrad schlecht, wird die Erfindung sehr schnell von alleine wieder verschwinden. Der Mensch hat mit seiner limitieren Leistung nicht viel zu verschwenden.


Was ist wichtig, um sich mit einem Bike effektiv fortbewegen zu können?

Bei einem Mountainbike ist der Antrieb eines der wichtigsten und elementarste Dinge. Er ist sozusagen die Essenz des Mountainbikens. Der Muskel arbeitet nur in einem kleinen Fenster von Kraft und Kontraktionsgeschwindigkeit effizient. Übertragen auf die Kurbel bedeutet dies: Pedaldruck und Tretfrequenz müssen stimmen.

Daher ist eine Gangschaltung unumgänglich. Wind, Steigungs-, und Rollwiderstand müssen überwunden werden. Dazu müssen Ergonomie, also Kafterzeugung, und Traktion, also die Kraftübertragung, stimmen. Stichpunkt: Sitzposition und Körperhaltung. Um Steigungen und Gefällstrecken mit einer günstigen Drehzahl und Kraft an der Kurbel zu bewältigen, sind mindestens 600 % Gangspreizung notwendig.


Wie lässt sich das erklären?

Eine einfache Rechnung: Nehmen wir eine 20 % steile Steigung und ein Systemgewicht von 80 kg – also Fahrer und Bike zusammen. Um die Steigung mit läppischen 6,5 km/h zu fahren, benötigt man bereits 300 W Tretenergie. Das ist die Ausdauerleistung eines sehr gut trainierten Sportlers. In der Ebene kann man bei 300 W genau 33 km/h schnell fahren, um gegen den Wind und die Rollreibung anzukommen.

Jetzt will ich bergab, sagen wir bei 5 % Gefälle, auch noch mit 200 W zusätzlich treten können, um beispielsweise 44,9 km/h zu fahren. In diesem Geschwindigkeitsspektrum möchte ich möglichst mit der physiologisch idealen Tretfrequenz pedalieren. Die ist individuell unterschiedlich, liegt aber bei zirka 80 bis 100 U/min. Die dazu notwendige Gangspreizung errechnet sich dann aus 44,9 km/h zu 6,5 km/h. Macht 690 Prozent.


Moderne 1x12-Schaltungen haben 500 % ...

Richtig. Man sieht bereits jetzt, dass eine Schaltung mit 500 % Gangspreizung nicht ausreicht, um mit einer gleichbleibenden Tretfrequenz von 6,5 bis 44,9 km/h alles abzudecken. Man muss im Steilen langsamer treten und im Gefälle schneller, um mit 500 % auszukommen. Das ist nicht ideal. Dabei sind 20 Prozent Steigung für eine MTB-Strecke in den Alpen nicht ungewöhnlich. Es gibt hier ganz viele Passagen, die deutlich steiler sind als 30 %. Was ich sagen will: Ein MTB benötigt eine Schaltung mit mindesten 600 bis 700 % Gangspreizung.

Langsames Quetschen an Steigungen – mit einer 50er- oder 60er-Frequenz – ist muskulär gesehen mit einem schlechteren Wirkungsgrad behaftet. Es limitiert somit die maximal möglichen Steigungen, beziehungsweise langes ausdauerndes Fahren an Steigungen.


Was könnte also die Lösung sein?

Dieser eben geschilderte Zusammenhang rechtfertigt den Einsatz und die Verwendung eines zusätzlichen Zweigang-Planetengetriebes – eine Zweigangnabe im Zusammenspiel mit der Kettenschaltung. Gut gefertigt, im Stile einer Rohloff, hat sie einen Wirkungsgrad von 98 %. Dazu muss man wissen, das reine Kettenschaltungen bei den unteren Zähnezahlen – 10er-, 11er-, 12er-Ritzel – nur noch einen Wirkungsgrad von unter 95 % haben. Grund ist der sogenannte Polygoneffekt und die starke Abwinklung der Kette unter Zug.

Deshalb ist eine gesunde Zähnezahl, bei der man 98 % Wirkungsgrad erreicht, zusammen mit einem Planetengetriebe, das ebenfalls 98 % Wirkungsgrad hat, besser, als eine schlechte Kettenübersetzung. Wirkungsgrad Kette plus Planetengetriebe ist gleich 0,98 mal 0,98, also unterm Strich 96 %.

  Kuli-Skizze: Gedanken zu den Innereien der 2-Gang-Nabe von Lutz Scheffer auf Papier gebracht.Foto: Lutz Scheffer
Kuli-Skizze: Gedanken zu den Innereien der 2-Gang-Nabe von Lutz Scheffer auf Papier gebracht.

Fazit: Das Zusammenspiel von Nabe und Kettengetriebe in den schnellen Gängen ergibt einen besseren Wirkungsgrad, als ein reines Kettengetriebe mit kleinen Ritzeln. In den langsamen Gängen ist die Getriebenabe 1:1 direkt überbrückt und erzeugt somit keinerlei Verluste. Das Kettengetriebe arbeitet dann alleine mit gesunder Zähnezahl.


Die Studie ist mit einem 8fach-Ritzelpaket in Kombination mit einer Zweigang-Getriebenabe ausgestattet. Beim Thema Schaltung bleibt es also spannend?

Ich denke, ja. Die Zweigang-Getriebenabe in Kombination mit der 8fach-Kettenschaltung meiner Studie kommt auf eine Gangspreizung von etwa 60 %. Der Wirkungsgrad ist hoch, weil ich auf die ganz kleinen 9er-, 10er- und 11er-Ritzel verzichte. Das System hat einen geringen Kettenschräglauf und damit einen geringen Verschleiß. Das schmale Ritzelpaket ermöglicht ein stabiles Laufrad mit symmetrischen Speichenwinkeln. Die Gangwechsel übernimmt ein elektrisch geschaltetes Schrägschieberschaltwerk. Das sitzt weniger exponiert als heutige Kettenschaltungen unter der Kettenstrebe, was das Defektrisiko minimiert. Wegen der geringen Zahndifferenz des 2x8-Antriebs bräuchte man noch einen kleinen Kettenspanner.

  Die Rotwild-Studie von Lutz Schefffer: Der Dämpfer sitzt innen und reagiert automatisch auf Fahrsituation und Untergrund. Der Sattel neigt sich je nach Steigung in die optimale Position. Die Kombination aus 8fach-Ritzel und 2-Gang-Getreibenabe sorgt für reichlich Bandbreite des Antriebs.Foto: Lutz Scheffer
Die Rotwild-Studie von Lutz Schefffer: Der Dämpfer sitzt innen und reagiert automatisch auf Fahrsituation und Untergrund. Der Sattel neigt sich je nach Steigung in die optimale Position. Die Kombination aus 8fach-Ritzel und 2-Gang-Getreibenabe sorgt für reichlich Bandbreite des Antriebs.


Die Studie hat eine Upside-Down-Gabel. Warum?

Seit ich die Intend Edge Upside-Down-Gabel von Cornelius (Kampfinger, Anm. d. Red.) fahre, bin ich restlos überzeugt von diesem Konzept. Es ist die beste Gabel, die ich je gefahren bin. Sie hat 166 mm Federweg und wiegt 1950 g. Vermutlich würde sie bei 150 mm bis zu 200 g leichter werden können. Das Doppelbrückenprinzip kann prinzipiell zusätzlich Gewicht sparen, bei noch besserer Steifigkeit, da die Kräfte weniger spazieren geführt werden müssen. In meiner Zeit bei Votec hatte ich bereits eine Upside-Down-Gabel mit 120 mm Federweg gebaut. Das Schaftrohr der Gabel habe ich gänzlich weggelassen. Nur eine dünne, hohle 8-mm-Alustange hat die beiden Steuerlager vorgespannt.


Lutz Scheffer, wir bedanken uns sehr für das Gespräch.

  Lutz Scheffer prägt seit 20 Jahren mit seinen Entwicklungen Technik-Trends im Fahrradbereich.Foto: Colin Stewart
Lutz Scheffer prägt seit 20 Jahren mit seinen Entwicklungen Technik-Trends im Fahrradbereich.

Biken 3.0 – die BIKE-Ausgabe 12/2017 steht ganz im Zeichen der Zukunft. Dutzende Seiten haben wir dem Schwerpunkt-Thema gewidmet und Mountainbike-Experten nach ihren Visionen gefragt: Wie wird Mountainbiken den Sommertourismus verändern? Setzt sich vernetztes Biken durch? Wann gibt es in Deutschland endlich große Singletrail-Netze? Gibt es in zehn Jahren noch die Kettenschaltung?


Diesen und weiteren spannenden Fragen gehen wir nach. In BIKE 12/2017. Seit 7. November am Kiosk, im DK-Onlineshop und als Digital-Ausgabe in der DK-Kiosk-App für Apple iOS und Google Android erhältlich.

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