Tim Folchert
· 14.05.2022
Bikes wie aus einem Guss! Das ist schick, leicht und schützt sensible Bauteile vor Schmutz und Verschleiß. Doch der Integrations-Trend birgt auch Nachteile.
Die Zeiten, in denen es beim Fahrrad um die reine Fortbewegung ging, sind lange vorbei. Während sich das Mountainbike über die Jahre zum Hightech-Sportgerät mauserte, hielten immer mehr raffinierte Technologien Einzug, welche die Bikes noch leistungsfähiger machen sollten. Hydraulische Scheibenbremsen. Feinfühlige Fahrwerke. Präzise Gangschaltungen. Fahrwerksverstellungen vom Lenker aus und per Fernbedienung absenkbare Teleskopstützen. Doch mit jeder weiteren Funktion wandern auch mehr Bauteile ans Rad, die verschleißen, gewartet werden müssen und zum Teil für eine chaotische Optik sorgen. Am deutlichsten zeigt sich das am Lenker: Neben Bremsleitungen und Schaltzügen kreuzen oft noch die Kabel der Fahrwerksverstellung oder Tele-Stütze das Sichtfeld des Fahrers. Bis zu sechs Leitungen führen dann vom Lenker zu den entsprechenden Bauteilen, teils über Kabelbinder am Rahmen entlanggeführt. Der reinste Kabelsalat. Um wieder Ordnung ins Komponentenwirrwarr zu bringen, setzen die Hersteller zunehmend auf Systemintegration. Eingepresste Innenlager, im Rahmen verlegte Züge, Lenker-Vorbau-Einheiten: Bikes verschmelzen immer mehr zu formschlüssigen Einheiten und sehen aus wie aus einem Guss. Das ist hübsch und sorgt für eine aufgeräumte Optik.
Die Edelschmiede Bold hob das Thema Systemintegration letztlich auf ein neues Level. 2015 stellten die Schweizer ein Fully vor, bei dem der Dämpfer vollständig im Rahmen verschwindet. Der Einsatz von Srams elektronischer Funkschaltung macht die Schaltzüge obsolet, die übrigen Leitungen führen über die Lenker-Vorbau-Einheit durch den Steuersatz direkt in den Rahmen. Auch andere Hersteller stimmen Rahmen, Fahrwerk und Anbauteile in Form und Funktion so aufeinander ab, dass sie als Einheit funktionieren. Eine spannende Entwicklung, die neue technische Lösungen ermöglicht, das Mountainbike aber auch tendenziell teurer macht. Meist steigt der Wartungsaufwand durch die komplexe Technik. Hobbyschrauber können schon vom Wechsel der Bowdenzüge oder vom Austausch eines Lagers überfordert sein. Ohne die Hilfe einer Werkstatt oder der Anschaffung von teurem Spezialwerkzeug geht häufig nichts mehr. Spontane Reparaturen? Oft unmöglich.
Welche Vorteile der große Trend zur Systemintegration mit sich bringt und mit welchen Nachteilen Biker zu kämpfen haben, klären wir zusammen mit unseren Experten aus dem BIKE-Testlabor und der Industrie.
Systemintegration ist auf dem Vormarsch und bringt viele Vorteile mit sich. Doch gerade die Nachteile bei der Nutzerfreundlichkeit sind nicht von der Hand zu weisen. Wir haben Experten befragt und Leser in einer Online-Umfrage um ihre Meinung gebeten (750 Leserinnen und Leser haben an unserer Online-Umfrage zum Thema Systemintegration teilgenommen.).
47,1 % – Fast die Hälfte der Umfrageteilnehmer lehnen Systemintegration ab. Die Schrauberfreundlichkeit steht im Fokus.
16,8 % – Nicht einmal 20 Prozent der Teilnehmer befürworten die Verschmelzung von Bike und Komponenten. Der Trend der Hersteller geht in die gleiche Richtung.
36,1 % sind geteilter Meinung. Systemintegration hat eben Vor- und Nachteile. Die Vorteile zu nutzen und die Nachteile zu umgehen, ist die Kunst.
BIKE: Cannondale war Vorreiter in Sachen Systemintegration. Wie kam es zu der Idee, das Bike als Einheit zu sehen?
Murray Washburn: In den frühen Neunzigern war die Technik in Mountainbikes simpel. Wir waren aber motiviert, das zu ändern und das Mountainbike technisch neu zu denken.
Daraus ist dann das futuristische V4000 entstanden?
Indirekt ja. Wir wussten, dass wir weiter denken mussten als alle anderen, um das Mountainbike auf das nächste Level zu heben. Um das zu realisieren, kooperierten wir mit Alex Pong von Magic Motorcycles. Die erste Frucht aus dieser
Kooperation war die CODA-Magic-Kurbel. Sie war aus Aluminium und innen hohl. Das machte sie deutlich leichter als herkömmliche Kurbeln und trotzdem stabil. In Verbindung mit größeren Lagern und einer Alu-Achse statt einer herkömmlichen Stahlachse sparte das viel Gewicht. Das V4000 war also unser erster Schritt in Richtung Systemintegration.
Dem Prototyp folgt meistens das Serien-Bike. Das V4000 gab es allerdings nie zu kaufen. Wieso?
Es war nie für die Serienproduktion vorgesehen. Die riesigen Alu-Bauteile zu fräsen und zu verbinden, hat Monate an
Maschinenarbeit gebraucht. Für nur ein Bike. Damit hätte ein Exemplar wahrscheinlich 70000 oder 80000 Dollar gekostet. Das V4000 sollte nur zeigen, was technisch möglich ist und wohin die Reise des Mountainbikes gehen könnte. Die überdimensionierten Lager zum Beispiel waren stabiler und leichter als die kleinen Innenlager mit Stahlkurbeln. Heute werden Kurbeln nur noch aus Aluminium oder gar Carbon gefertigt.
Der Gründer von Cannondale hat damals angekündigt, dass das V4000 in Serie kommen würde.
Joe Montgomery, der Gründer von Cannondale, war von dem V4000 so begeistert, dass er es 1994 mit in den Katalog aufnahm. Als ihn Redakteure darauf ansprachen, ließ er verlauten, dass das Bike in Serie kommen würde, andernfalls esse er seinen Hut. Ein Jahr später tat er genau das. Er aß ein kleines Stück seines Huts.
Er stand zu seinem Wort. Der massive Rahmen und die Speichen sehen schwer aus. Wie viel wiegt das Bike?
Das weiß ich leider nicht, aber sowohl die Felgen, als auch der Rahmen sind hohl. Wie die Alu-Kurbeln von Magic Motorcycle. Diese Idee zieht sich durch das gesamte Bike. Das macht es leicht, aber auch extrem teuer.
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