Ich stehe im Wald. Alleine. Mein Blick schweift auf leuchtende LED-Lämpchen auf dem Oberrohr meines Bikes, da steigt mir die Schamesröte ins Gesicht.
Ich erkläre Euch, warum. Ab und zu fahre ich nach Hause in den Schwarzwald. Dort gibt es leider nur wenige lohnenswerte Trails. Im Grunde nur einen, den Kohlplatz-Downhill, und der liegt tief im Wald. Das heißt: Um zu diesem kurzen, eher langweiligen Trail zu gelangen, muss ich viele Kilometer auf faden Forststrecken hochpedalieren - nicht mein Ding! Deshalb packe ich lieber mein E-MTB ein! Ja, die Schwarzwaldbesuche verwandeln mich in einen E-Freerider. Zeitgleich habe ich mir die Strava-App runtergeladen in der Hoffnung, weitere Trails zu finden. Da bin ich auf die Funktion der Zeitmessung gestoßen.
Und siehe da: Mein öder Trail ist in der App gelistet. 96 Biker haben ihre Abfahrt bereits gezeitet - King of the Mountain des Kohlplatz-Downhills war ein gewisser Michael K. mit der Bestzeit von 2:21 Minuten. Ich spürte, wie sich mein Ehrgeiz aufbäumte. Kann ich diesen Michael K. schlagen? Bisher ist der Strava-Hype an mir vorübergezogen - denn in erster Linie ist die App bekanntlich da, um sich mit andern Strava-Usern zu messen und nach Bestzeiten zu eifern. Nix für mich! Ich bin bisher nur wenige Rennen gefahren, und die Ergebnisse waren eher murksig. Und ich mache nur ungern Dinge, die ich nicht kann - davon gibt es leider einige. Wege finden zum Beispiel. Gangschaltung einstellen, Kopfrechnen, Smalltalk, Aktiengeschäfte abschließen ... Doch diesmal war es anders - Erfolg lag in der Luft. Ich spürte es.
Also machte ich mich auf den Weg zum Kohlplatz-Downhill: einen ein Kilometer langen Wanderpfad mit vielen schnellen Geraden und kurzen Wurzelpassagen. Es gibt zwei Schlüsselstellen. Hier zackt der Trail in Spitzkehren in die Tiefe, und das Gelände hängt zur Seite. Das ist tückisch. Gegenanstiege gibt es keine, lediglich eine kleine Senk, aus der man besser rauspedaliert, sonst verpufft der Speed.
Ich fühle mich wie Lance Armstrong. Halt, nein! Denn der Typ hat sich nie schuldig gefühlt. Ich dagegen schon.
Ich stehe mit dem Handy in der Hand am Trail-Eingang und drücke auf „Aufnehmen". Dann sprinte ich los - in die erste Sektion. Ich lege mein Bike in Kurven, die ich nicht sehe. Überall wuchert Farn. Ich drücke das Bike in Senken und versuche, vor Kurven möglichst spät in die Bremsen zu greifen. Es geht ausschließlich nach unten, und dennoch keuche ich, als würde ich den Trail nach oben hecheln. Eine der zwei Spitzkehren nehme ich so bilderbuchmäßig, dass mir Weltmeister Fabien Barel auf die Schultern geklopft hätte, wäre er dabei gewesen.
Ich schnappe noch nach Luft, als ich unten am Trail-Ende mein Handy aus der Hosentasche friemle. „Gratulation!", schmeichelt die App. Ich bin tatsächlich neuer KOM (King of the Mountain) - Numero uno! Ich fühle Stolz. Rennstolz. Den kannte ich zuvor noch nicht. Bin ich womöglich doch ein Racer? Ich würde jetzt gerne jemanden vor Freude umarmen, doch hier ist niemand. Ich stehe alleine im dunklen Wald und überlege, ob ich auf „Teilen" drücken soll, um meinen Facebook-Freunden die Heldentat zu verkünden. Als ich das Telefon wieder in der Hose verstaue und ich die bunten Akku-Dioden auf dem Oberrohr meines Bikes leuchten sehe, spüre ich einen dicken Kloß im Hals. Jetzt bin ich froh, dass ich mich gegen den Facebook-Post entschieden habe. Denn ich bin mit Motorunterstützung unterwegs und habe gerade die gesamte Internet-Community beschissen.
Blut schießt mir in den Kopf. Ich fühle mich wie Lance Armstrong. Halt, nein! Denn der Typ hat sich nie schuldig gefühlt. Ich dagegen schon. Und wie! Mein Hirn sucht nach Auswegen. Vor meinem inneren Auge sehe ich mich verzweifelt in der Warteschleife der Strava-Hotline hängen, nach Worten ringend, wie ich dem Strava-Angestellten klarmache, dass sie mich doch möglichst schnell aus der Liste entfernen sollen. Ja, ich will ihnen sogar anbieten, dass sie meinen Account unwiderruflich löschen dürfen.
Doch dann durchzuckt mich ein Gedankenblitz: die Lösung! Sie ist fast banal. Ich muss die Zeit toppen, diesmal aber ohne Motorunterstützung. Also noch mal hoch! Auf dem Weg zum Trail-Einstieg geistern Bilder durch meinen Kopf. Ich stelle mir vor, wie ich mir für die nächsten Wochen Urlaub nehme. Wie mich meine Mama am Trail-Einstieg mit isotonischen Getränken versorgt und mir gut zuspricht, damit ich es endlich schaffe, die Top-Zeit zu schlagen - auch ohne Motor, um der Schmach ein Ende zu setzen.
Oben angekommen schalte ich den Motor aus, atme tief durch und nehme mir fest vor, alles zu geben. Ich trete in die Pedale - diesmal spüre ich Widerstand statt Unterstützung. Ich fahre, als würde es um mein Leben gehen. Leichte Fahrfehler mache ich wett, indem ich bei Highspeed meine Zeigefinger für den Deathgrip um den Lenker schlinge. Die Anspannung weicht, ich bin in meinem neuen Element. Ich rausche mit V-Max um blinde Kurven und hoffe inständig, dass mir niemand entgegenkommt.
Der Trail ist gnädig, gibt mir Grip, lässt mich schnell um Turns huschen und mich aus Senken pressen. Unten angekommen, zupfe ich mein Telefon aus der Tasche. Ich klicke auf die App ... Neue Best-zeit: 2:14 Min. Mir fällt ein Stein vom Herzen! Als ich zu Hause ankomme, bin ich völlig fertig und nehme mir fest vor, die App wieder von meinem Telefon zu löschen, mache es dann aber doch nicht. Denn ich bin ja jetzt ein ehrlicher KING OF THE MOUNTAIN!
Wenige Tage später. Mein Urlaub ist zu Ende, ich packe das Specialized Turbo Levo gerade in meinen Ford Focus, da kommt mein Bike-Buddy Paul vorbeigelaufen. Zufall? Er ist auch auf Strava. Er zeigt auf das Levo im Kofferraum. ,Du bist doch nicht etwa mit dem E-MTB gefahren?" Ich winke ab und sage etwas großkotzig: „Natürlich nur ohne eingeschalteten Motor, is' doch klar." Statt einem „Echt? Na dann Glückwunsch", sagt Paul: „Das zählt trotzdem nicht - das Ding liegt durch das Gewicht ja viel satter auf dem Trail." Jetzt spüre ihn wieder den Kloß im Hals. Hat Paul etwa Recht? Bin ich ein Cheater, selbst mit ausgeschaltetem Motor?