Als Mountainbike-Wiedereinsteiger Albert Miethaner in den Rückkampf mit dem Endgegner der BIKE Mission 3000 zog, sah er sich mit vielen mentalen Herausforderungen konfrontiert. Darunter der gescheiterte erste Versuch, sein defektes Bike, Schmerzen und das Wissen körperlich angeschlagen zu sein. Trotzdem hat der BIKE-Leser es geschafft und fuhr in völliger Einsamkeit die erste Tour mit 3000 Höhenmetern in seinem Leben. Wie sehr den Erfolg eines Sportlers beeinflussen kann, weiß kaum jemand besser als Paul Schlütter. Im Interview gibt der Verbandspsychologe beim Bund Deutscher Radfahrer (BDR) wertvolle Tipps zum Umgang mit mentalen Tiefs und ordnet Alberts Gefühlslage während unserer Höhenmeter-Challenge ein.
Auch Alberts ganz persönliche Video-Dokumentation gibt Einblicke in seine Gemütszustände während der Vorbereitung auf die BIKE Mission 3000: Jetzt anschauen!
BIKE: Albert musste den letzten Versuch abbrechen. Was bedeutet so ein Rückschlag für einen Sportler mit einem Ziel?
Paul Schlütter: Das kommt darauf an, wie stark ausgeprägt die Zielorientierung ist und wie viele Ressourcen dafür investiert wurden. Übertriebene zielorientierte Gedanken wären zum Beispiel: ‘Ich muss die 3000 Höhenmeter schaffen, sonst bin ich ein Versager! Wenn ich es nicht schaffe, bin ich schlecht.’ Wenn im Vorhinein alles auf das eine Ziel fokussiert wurde, und die Motivation hauptsächlich auf der Erreichung eines Ergebnisses aufgebaut war, dann kann ein solcher Rückschlag den Selbstwert gefährden und einen Tiefpunkt nach sich ziehen. Umgekehrt kann aber auch die Erreichung des Ziels je nach persönlichem Lebenskontext zum Problem werden: Was kommt als nächstes? 3500 Höhenmeter?
Gibt es Strategien, um mit solchen sportlichen Rückschlägen positiv umzugehen?
Ein Weg wäre den Umgang mit dem Rückschlag als weitere Herausforderung zu sehen und zu reflektieren: ‚Die Bedingungen waren schwer aber ich habe mein Bestes gegeben.‘ Wer den Genuss nicht zur aus der Erreichung des Ziels, sondern aus der Tätigkeit an sich ziehen kann, der ist eher prozessorientiert eingestellt. Selbst aus einem Hagelschauer kann man, als Naturschauspiel betrachtet, Genuss ziehen. Das prozessorientierte Erleben des Moments kennen die meisten Biker. Trotz der körperlichen Anstrengungen Freude an der Sache zu haben, kann die Nicht-Erreichung eines Ziels abdämpfen. Es ist grundlegend wichtig, darüber im Bilde zu sein, warum der Sport Freude bereitet – sei es wegen des Fahrtwinds im Gesicht, dem Erschöpfungsgefühl in den Beinen oder der sportlichen Gemeinschaft. Viele Radfahrer legen ihren Fokus auch auf das Erleben der Natur. Für die Prozessorientierung ist Dankbarkeit für die kleinen Dinge beim Biken und die Definition von solchen Prozess-Zielen ausschlaggebend: Weg von den Zahlen und hin zu den Handlungen an sich.
Was bedeutete der gepatzte Versuch für die Ausgangslage von Alberts zweiter Chance?
Albert macht nicht den Eindruck, als würde er bei der ersten Gelegenheit das Handtuch werfen. Er fährt viele Projekte parallel, wirkt sehr ambitioniert und scheint Spaß am Prozess selbst zu haben. Wäre es anders, hätte er die Herausforderung vermutlich gar nicht erst angenommen. Bei der BIKE Mission 3000 wurde ein Mountainbike-Wiedereinsteiger zurückgeführt zu seiner alten Leidenschaft. Es ging um die Erreichung der 3000 Höhenmeter aber auch um eine interessante Erfahrung und die Frage: ‚Was kann ich aus mir rausholen?‘ Wenn Albert rückblickend auf den letzten Versuch sagen kann: ‚Es ist nicht das dabei rumgekommen, was ich mir erhofft hatte, aber es war trotzdem eine gute Erfahrung‘, dann stehen die Chancen für einen prozessorientierten zweiten Versuch gut. Den neuen Anlauf aus diesem Standpunkt heraus zu starten und die eigenen Kompetenzen im Sinne von ‚ich kann es schaffen‘ wahrzunehmen, bildet womöglich sogar eine positive Grundlage.
Alberts Ausgangslage war alles andere als gut: Vorbelastung, fremdes Bike, allein. Wirkt sich das negativ auf die Psyche eines Sportlers aus?
Menschen können ganz unterschiedlich auf eine solche Situation reagieren. Im Sinne konstruktivistischer Ansätze, hat jeder Sportler eine ganz individuelle Realität. Natürlich kann die Ausgangslage einen Sportler beschäftigen – muss aber nicht, sondern ist einzig und alleine ein Wahrnehmungssache. Es geht dabei um einen Abgleich der Ressourcen: ‚Welche brauche ich für die Challenge und welche bringe ich mit?‘ Wenn der Abgleich negativ ausfällt und der Sportler den Eindruck hat, nicht über die notwendigen Ressourcen zu verfügen, dann wird er die Herausforderung eher als Bedrohung wahrnehmen. Das kann vom Sinken der Motivation bis zur Selbst-Sabotage zur Folge haben. Albert bestritt die Herausforderung nochmal und hatte dabei nicht einmal die Voraussetzungen, wie beim abgebrochenen Versuch. Trotzdem könnte er die Umstände und die eigenen Kompetenzen auch in einem positiven Licht sehen: ‚Ich habe es schon bei viel schlechteren Wetterbedingungen fast geschafft.‘
Alberts Challenge war eine emotionale Achterbahnfahrt: Schmerzen, Freude, Selbstsicherheit, Zweifel. Ist das typisch?
Bei meinen Erfahrungen mit Ultra-Ausdauersportlern, würde ich sagen, dass diese Bandbreite an Emotionen, Gedanken und körperlichen Signalen normal ist. Wie wir die Dinge wahrnehmen, kann sich innerhalb des entsprechenden Kontextes immer wieder ändern. Was dabei wichtig ist, ist eine achtsame Herangehensweise und die Wahrnehmung der Höhen sowie Tiefen als Teil der Erfahrung. Sie müssen sich nicht zwingend auf die eigenen Handlungen auswirken. Man muss Situationen unterscheiden, an denen man etwas ändern kann, wie ein Mangel an Verpflegung, und Dingen, die nicht beeinflussbar sind. Wenn Albert sich bewusst war, was er dafür geleistet hat, auf dem letzten Gipfel zu stehen, dann konnte er diesen Moment mit Sicherheit auch mehr genießen.
Was kann helfen, durch Tiefs hindurchzukommen?
Leidensfähigkeit unter Beweis zu stellen, ist eine Fähigkeit, die im Ausdauersport allgegenwärtig ist. Solche Zustände der emotionalen und körperlichen Tiefs für eine gewisse Zeit aushalten zu können, macht Ausdauersportler aus. Es gibt die unterschiedlichsten Strategien damit umzugehen. Mir haben auch schon Sportler gesagt: ‚Ich stelle mir vor, dass auf dem Gipfel gerade ein Familienmitglied von mir ausblutet und ich muss da jetzt schnell hin!‘ Natürlich kann das motivierend wirken. Andere konzentrieren sich auf das Hier und Jetzt. Dabei liegt der Fokus alleine auf dem nächsten Tritt, alles andere ist in dem Moment irrelevant. Vielen Sportlern hilft es, ihre gesamte Konzentration auf die Handlung zu legen, welche notwendig ist, um das gesteckte Ziel zu erreichen. Das erfordert aber Übung. Zu den positiven Selbstgesprächen von Ausdauersportlern gibt es viel Forschung. Gedanken voller motivierender Instruktionen können helfen: ‚Gleich kickt das Gel rein, ich kann es schaffen!‘ Aber auch genaue Gegenteil kann helfen: Ablenkung durch Fokus auf die Landschaft zum Beispiel.
Welche Rolle spielt der Wille, das Ziel zu erreichen?
Ich bin natürlich voreingenommen und sage: alles! Zumindest rein experimentell betrachtet. Wenn zwei Sportler dieselben körperlichen Voraussetzungen mitbringen, sich aber nur einer seiner Ressourcen bewusst ist und die Aufgabe als Herausforderung positiv auffasst, wird dieser die Challenge mit größerer Wahrscheinlichkeit meistern. Jemand, der sich selbst runterredet und sich seiner Kompetenzen nicht bewusst ist, der wird keine so gute Leistung bringen. Der Wille kann in Punkto Leidensfähigkeit einen gigantischen Unterschied machen. Spannend ist ja, dass Albert seine eigenen Erfolgsaussichten bei 75 Prozent eingeschätzt hat. 60 bis 80 Prozent sind in der Literatur der goldene Bereich für das Erreichen eines Ziels. Dann erscheint die Aufgabe als nicht zu schwer aber auch nicht zu leicht.
Kann man Willen trainieren?
Das willentliche Erleben von negativen Zuständen ist im Ausdauersport ab dem Punkt, an dem der Körper anfängt zu schreien, das A und O. Sportler haben dahingehend von Natur aus unterschiedlich starke Ausprägungen. Natürlich kann man sich aber auch in diesen Zustand versetzen und den Umgang damit trainieren, sei es zu Hause auf der Rolle oder bei fiesen Intervallen am Berg. Man könnte es auch Stressresistenz-Training nennen. Wichtig ist das Ganze, wie beim Trainieren jeder anderen Technik oder Fertigkeit, als Lernprozess zu sehen, in den Zeit investiert werden muss.
Kann Wille auch gefährlich werden? Z. B., wenn er Signale des Körpers übertönt?
Natürlich! Der Kopf kann viel Gutes spenden, irgendwann ist jedoch eine körperliche Grenze erreicht. Die meisten Sportler sind aber in der Lage solche Grenzen zu erkennen. Bei einer Höhenmeter-Challenge, wie der Mission 3000, kommt man zum Beispiel einfach nicht mehr weiter. Das ist etwas anderes, als wenn sich Sportler auf einer Downhill-Strecke überschätzen. Wer Schmerz als bio-psychosoziales Konstrukt sehr gut aushalten kann und über einen gewissen Punkt hinausgeht, der könnte auch die eigene Gesundheit gefährden.
Was ist ein gesundes Maß an Willen?
Bis zu einem gewissen Grad ist das Erfahrungssache. Sportler sollten sich im Vorfeld Gedanken machen, wo die eigenen Grenzen liegen und diese entsprechend einhalten – im Sinne von: ‚Spätestens, wenn ich auf dem Weg nach oben vier Mal gekotzt habe, sollte ich aufhören.‘ Es kann auch helfen, sich mit anderen Menschen zu umgeben, die das dann einfordern. Wichtig ist es, Grenzerfahrungen zu reflektieren und gegebenenfalls eigene Limits anzupassen.