MTB-Abenteuertrip ChileDie Trail-Baukunst der Mapuche

Karen Eller

 · 15.01.2025

Chiles "Kleiner Süden" beeindruckt mit Vulkangipfeln, aber auch mit Seen und viel Grün.
Foto: Mia Knoll
Im “Kleinen Süden” Chiles lebt die indigene Gruppe der Mapuche im Einklang mit ihrer Vulkanlandschaft. Trails für Biker bauen sie trotzdem, denn: Es sind die Brücken zwischen Mensch und Natur.

Azo – die Chilenen hängen es an jedes Wort an, welches nach viel Spaß oder einfach größer klingen soll. Ein Tequila heißt bei ihnen somit Tequilazo. Doch hier oben, am Rande des erloschenen Vulkans Batea Mahuida, bekommt das Wort eine ganz neue Bedeutung. Die Landschaft vor uns wirkt wie ein Kunstwerk, gemalt in Rot, Grün und Blau, das sich bis zum Horizont erstreckt.

Unser heutiges Abenteuer: Bateazo Freeride

Auch der Berg selbst, mit seiner charakteristischen Wannenform, trägt seinen Namen nicht zufällig: “Batea Mahuida” bedeutet in Mapudungun, der Sprache der indigenen Mapuche, soviel wie “Berg in Wannenform”. Unser heutiges Abenteuer? Der Bateazo Freeride – ein Mountainbike-Trail, der Freeriden in seiner puresten Form verspricht.

Deshalb auch “azo”. Leni, meine Reisegefährtin, Victor – unser Pickup-Fahrer und Trailguide mit Herz und beeindruckenden 115 Kilo Lebendgewicht –, Aldo, unser Mapuche-Local und Trailguide, Ernesto, der beste Freund von Victor, sowie Maria und Eli, unsere Kamera-Enthusiastinnen – wir alle sitzen heute in einem staubigen Pickup, dessen Ladefläche gleichzeitig Bike-Garage und Open-Air-Sitzplatz für Aldo ist.

Victor hat uns heute morgen in Icalma abgeholt. Ein Ort, den man leicht übersehen könnte, wäre er nicht so außergewöhnlich. Eingebettet in die Region Araucanía, knapp 135 Kilometer westlich von Temuco, wirkt er wie ein verstecktes Juwel. Die Gegend ist wild fast unberührt. Icalma wirkt wie eine alte Westernstadt, von der Zeit vergessen, am Ufer eines glasklaren Sees gelegen, der den gleichen Namen trägt: Lago Icalma.

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Kleine Holzhäuser mit Ziegeldächern schmiegen sich an die Hügel, die von Araukarien, den uralten Bäumen dieser Region, überragt werden. Viktor manövriert den Pickup über die steile Schotterpiste, als würde er ein Monster bändigen. Wir sitzen dicht gedrängt, aber damit sicher im Innenraum, während sich Aldo draußen auf der Ladefläche an der Reling festklammern muss, um nicht abgeworfen zu werden.

Nicht immer finden die Vorderreifen in den Sandkehren Grip, das wirbelt eine Menge Staub auf. Irgendwann nimmt der Wagen eine waagrechte Position ein, Motor aus, Stille. Es dauert Sekunden, bis unsere eigene Staubwolke zu Boden rieselt, doch dann blendet die Aussicht: Vulkanketten reihen sich bis weit in den nördlichen und südlichen Horizont, Richtung Westen viel Sand, Wälder und tiefblaue Seen.

Die Luft ist kühl, der Wind bläst scharf ins Gesicht – und die Freude nach der beengten Fahrt endlich frische Luft zu atmen, und am Gipfel zu stehen, ist riesig. Ein Pfosten mit einem weißen Metallschild: Auf der einen Seite steht Chile, auf der Rückseite Argentinien. Wir stehen also auf der blechdünnen Grenzlinie.

Ernesto deutet auf die umliegenden Gipfel. Da drüben, der weiße Gipfel: der noch aktive Vulkan Lonquimay. Da unten, das blau-grüne Wasser, über das gerade die Sonnenstrahlen huschen: ein Kratersee. In mir breitet sich tiefstes Glücksgefühl aus, denn ich realisiere: Mein Bike-Traum von Chile ist gerade Wirklichkeit.



Beide hatten den gleichen Traum, beide können nicht fassen, dass sie ihn gerade gemeinsam realisieren: Karen und Leni Eller in Chiles Vulkanbergen.Foto: Mia KnollBeide hatten den gleichen Traum, beide können nicht fassen, dass sie ihn gerade gemeinsam realisieren: Karen und Leni Eller in Chiles Vulkanbergen.

So lange schon wollte ich erleben, was ich bisher nur aus Youtube-Filmen kannte. Und Leni? Sie teilte diesen Traum. Als sie ihn letztes Jahr erwähnte, zickten wir uns ausnahmsweise mal nicht an. Leni hatte bei einem Bike-Event zwei Chileninnen kennengelernt, die ihr von den Trails in ihrer Heimat erzählt hatten. So waren wir uns im vergangenen Herbst überraschend einig, dass wir diese Reise gemeinsam antreten wollen.

Doch Chile ist lang. 4200 Kilometer um recht genau zu sein. Also war die Frage, welche Region wir anpeilen sollen: Santiago, die Hauptstadt Chiles, sagte uns etwas. Atacama, die trockenste Wüste der Welt, auch. Von Valparaiso, der farbenfrohen, hügeligen, von Künstlern geprägten Hafenstadt, hatten wir auch schon gehört. Alles Orte, die sich bereits einen Namen in Mountainbiker-Kreisen gemacht haben. Entweder mit waghalsigen City-Downhills, besonderen Filmlocations oder als Enduro-Worldcup-Station.

“Besucht die Mapuche im Süden!”

Uns aber wurde der südlichere Teil Chiles zugeflüstert: Sur Chico. Landschaftlich sei der “Kleine Süden” eine der vielfältigsten und beeindruckendsten Regionen des Landes, hieß es. Hier gebe es nicht nur Vulkane, Seen und Wälder, sondern auch die speziellen Araukania-Bäume. Außerdem schlage hier das Herz der indigenen Mapuche-Kultur. Wer das wirklich authentische Chile suche, der sei hier am besten aufgehoben. Und jetzt sind wir schon mittendrin. Gemeinsam an diesem wirklich magischen Ort.

Kein Trail – wir sind frei! Den Einstieg in den Trail markiert ein kleines hölzernes Tor, das wie eine Tür ohne Haus etwas verloren im Berghang steht. Dahinter wartet auch keine Pfadspur, sondern die gesamte Hangbreite. Freeride bedeutet hier: Such dir deine eigene Spur im Sand! Und ich lerne schnell: Nimm besser nicht die gleiche Spur wie deine vorauseilende Tochter, sonst erstickst du in ihrer Staubfahne.

Freie Spaß- und Linienwahl im Vulkansandhang am Batea Mahuida!Foto: Mia KnollFreie Spaß- und Linienwahl im Vulkansandhang am Batea Mahuida!

Auch bei mir rutschen die Vulkansandkörner unter den Reifen weg wie Wasser. Nach den ersten unsicheren Metern finde ich den Flow. Balance ist alles. Viktor und Leni sind zwar längst außer Sicht, aber auch ich lasse die Bremsen jetzt auf, bis sich eine Art Surf-Gefühl einstellt. Ja surfen ist der richtige Ausdruck. Keine vorgegebene Linie, Freiheit pur! Einfach laufen lassen und schwingen. Bis die Landschaft wechselt und vereinzelt Bäume auftauchen. Hier mal einer, da mal einer. Bald ist auch sowas wie ein Pfad zu erkennen, in dem sich alle Freeride-Spuren wie in einer Sanduhr zusammenfließen.

Der Untergrund wird fester, jetzt eindeutig ein Trail, und er führt zu einem Aussichtspunkt. Dort warten Viktor und Leni auf uns. Alle haben ein breites Grinsen im Gesicht. Der Blick auf die Umgebung raubt den Atem – nicht nur die Anstrengung von unserer ersten aufregenden Abfahrt. Doch viel Zeit zum Verweilen bleibt nicht. Viktor führt uns auf einen schmalen, perfekt gepflegten Wald-Trail.

Die Kurven sind wie für uns gemacht, und die mystische Atmosphäre im Schatten der Araukarien-Bäume macht jeden Meter zu einem Genuss. es riecht nach frischer Erde und Freiheit. Aldo, unser Local-Guide, ist in einer Mapuche-Familie aufgewachsen. Er studiert Jura in Temuco und plant, sich auf Umweltrecht zu spezialisieren. Sein Ziel: Die Natur und die Rechte der Mapuche zu schützen – im Einklang mit dem Mountainbike-Sport.



Am zweiten Tag nimmt uns Aldo mit auf seinen Lieblings-Trail im Familien-Revier.Foto: Mia KnollAm zweiten Tag nimmt uns Aldo mit auf seinen Lieblings-Trail im Familien-Revier.

Aldo erzählt, wie er mit seinen Freunden Trails gebaut hat. Auf dem Land seiner Familie, welches er “Wenu-Mapu” nennt. Übersetzt heißt das so viel wie “das Land darüber”. Trail-Bau sei für ihn Meditation und soziale Gemeinschaft zugleich. Die Mapuche-Philosophie, der wir hier, im südlicheren Teil Chiles in der Region Araucaná, überall begegnen, beeindruckt uns tief.

Für diese größte indigene Gruppe Südamerikas ist die Natur nichts, was man besitzen kann. Die Natur sei ein lebendiges Wesen, mit dem sie im Einklang leben. Wir spüren es überall. In den Wäldern, die schützend die Landschaft dominieren, und in den Menschen, die mit Respekt und Bescheidenheit ihre Umgebung bewahren. Die Mapuches betrachten sich als Teil der Natur, nicht als ihre Herrscher.

Jeden Baum, jedes Tier gilt es zu respektieren. Auch die Araukarien – die knorrigen “Pehuén”-Bäume – gelten als heilig. Sie können bis zu 2000 Jahre alt werden. Ihre Äste ragen wie ausgebreitete Arme in den Himmel. Ihre Früchte, die Pinones, dienten den Mapuche schon immer als Überlebensnahrung in den Bergen.

Mystisch: Die Araukarien-Bäume versprühen eine ganz besondere Stimmung im Wald.Foto: Maria KnollMystisch: Die Araukarien-Bäume versprühen eine ganz besondere Stimmung im Wald.

All diese Werte spiegeln sich in den Trails wider: respektvoll von Hand gepflegt und frei für alle, die sie zu würdigen wissen. “Land darüber” oder auch: Himmel. Umso geehrter fühlen wir uns, als Aldo uns am nächsten Tag seinen Lieblings-Trail auf seinem Familienland Wenu-Mapu zeigen möchte. Ein Ort, an dem die Seelen zur Ruhe finden, sagen die Mapuche.

Der Weg dorthin führt durch einen dichten, moosbedeckten Wald. Als die Bäume immer dichter zusammenrücken, wird es zu eng für unseren Pickup. Das bedeutet: Die letzten 400 Höhenmeter zum Gipfel müssen wir selbst kurbeln. Und auch das fühlt sich gut und richtig an.

Oben eröffnet sich eine gigantische Aussicht. Der Trail, der dann folgt, schlängelt sich durch die alten, heiligen Araukarien. Umgestürzte Stämme dürfen auf dem Pfad liegen bleiben und dienen als kleine Jumps. Nur angefasst wollen diese Bäume nicht werden. Ihre Blätter sind messerscharf.

“Auch die Trails sind Teil unserer Kultur”, erklärt Aldo, als wir zwischendrin eine kurze Pause einlegen. “Wir bauen sie nicht nur fürs Vergnügen, sondern auch, um die Verbindung zwischen Mensch und Natur zu feiern.”

Trails – Brücken zur Natur

Nicht nur die Windböen, auch die Aussicht bläst einen in Chiles Anden gern mal weg.Foto: Mia KnollNicht nur die Windböen, auch die Aussicht bläst einen in Chiles Anden gern mal weg.

Es beginnt zu regnen, doch das stört uns nicht, denn jetzt, im Frühling, sind die Tropfen bereits warm. Und sie machen den rötlich gefärbten Waldboden spürbar griffiger. Was gut ist, denn der Weg wird nun immer wurzeliger, hakeliger und technischer. Als er uns auf einer Waldlichtung ausspuckt, hören wir Kuhglocken! Die Zivilisation ist also nicht mehr fern. “Wir sind hier nur Gäste, die Natur gehört sich selbst.”

Aldos Worte hallen in mir nach. Wie oft sehen wir zu Hause die Trails nur als Mittel zum Zweck – als Konsumgut. Hier dagegen schlagen die Trails Brücken zwischen Mensch und Natur, Vergangenheit und Zukunft.

Zurück im Dorf sitzen wir mit Mate-Tee am Kamin und lassen den Tag Revue passieren. Viktors Frau hat einen großen Topf Cazuela gekocht, einen deftigen Eintopf – genau das Richtige nach diesem Ausritt. Für uns geht es morgen weiter nach Pucón, doch der Abschied von Icalma fällt uns wirklich schwer. Dieser Ort und seine Trails haben uns verzaubert, genauso wie die Menschen, die diese Pfade geschaffen haben.



Info Chile

Auf der Rückseite steht Argentinien - der Grenzübertritt ist hier oben recht barrierefrei.Foto: Mia KnollAuf der Rückseite steht Argentinien - der Grenzübertritt ist hier oben recht barrierefrei.

Das Revier

Chile ist insgesamt 4200 Kilometer lang und erstreckt sich damit vom 17. bis 56. Breitengrad. Im Prinzip kann man sich Wetter und Klima für seinen Biketrip also aussuchen. Definitiv kein Regen fällt in der Atacama-Wüste ganz im Norden. Fast schon mediterranes, schneefreies Klima weht über die Mitte des Landes und ganz im Süden peitschen das ganze Jahr die Aprilwetter-Kapriolen Patagoniens auf einen ein.

Der kleine Westernort Icalma liegt im Gebiet Sur Chico, dem “Kleinen Süden”, südlich von Santiago. Eine relativ feuchte Vulkan-Region mit dichten Wäldern und großen Seen. Hier sind die Mapuche zu Hause, die größte indigene Gruppe Südamerikas, mit ihrer ganz speziellen Philosophie fürs Mountainbiken. Aus Europa erreicht man Icalma per Flug nach Santiago und weiter mit Inlandsflug nach Temuco. Von dort sind es noch 135 Kilometer bis Icalma (Mietwagen oder Flughafen-Shuttle vom Tourenanbieter).

Beste Reisezeit

Chile liegt auf der Südhalbkugel – es gelten aus unserer Sicht also umgekehrte Jahreszeiten. Die beste Reisezeit für Santiago de Chile und die zentralen Regionen des Landes herrscht in den Monaten Dezember, Januar und Februar, bei angenehmen 25-30 Grad und wenig Niederschlag. Im chilenischen Winter von April bis September fällt in höheren Lagen viel Schnee.

Biketrips buchen

Wer lieber einen organisierten Biketrip nach Chile buchen möchte, ist hier richtig: amity-tours.com

Auch die Rasenmäher werden ab März 2026 einen Trip ins Land der Mapuche anbieten. Termine und Programm gibt's demnächst online: dierasenmaeher.de/chile

Selbstversorger finden hier sehr hilfreiche Tipps für ihre Reise: chile.travel.de

Nicht verpassen sollte man in Sur Chico diese Spots:

  • Die lohnensten Trails von Icalma: icalmalodge.cl
  • Pucón: Der Trail vom Villarrica-Vulkan samt heißer Quellen zum Baden und der Cedua Bikepark. Info: amity-tours.com
  • Huilo Huilo: Privater Naturpark bei Neltume mit angelegten Enduro-Lines, Shuttle und Leih-Bikes. Info: huilohuilo.com

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