„Hier oben habe ich mit einer anderen Gruppe schon mal einen Tiger gesehen“, sagt unser Guide Mike Mclean so ruhig, als würde er gerade von einem Ausflug in den Waschsalon erzählen. Ich blicke mich verunsichert um: Dieser Bambuswald ist so dicht, da könnte sich alles drin verstecken. Eine Kuh, ein Tiger, sogar ein Einhorn – man würde gar nicht merken, wenn einem hier aus nächster Nähe ein Tier hungrig in den Nacken starrt. Und ich dachte, unser größtes Problem auf diesem Trip würde sein, ob wir unsere Bikes in dieser schmalen, 141 Jahre alten indischen Eisenbahn verstaut kriegen. Aber gut, ungeplante Richtungswechsel machen ein echtes Abenteuer ja nun mal aus. Also rein, in diesen schmalen Spalt, den uns die Vegetation noch gelassen hat: Der Trail kippt in die Vertikale und stürzt schnurstracks in einen Tunnel aus Bambusstämmen. Man muss die Bremsen nur antippen, und die Reifen glitschen auf dem nassen, moosbewachsenen Untergrund weg. Ein paar Kurven würden jetzt helfen, das Tempo zu drosseln oder griffigere Reifen – aber zumindest ist die Angst vor dem Tiger jetzt wie weggeblasen. Zwanzig Minuten später spuckt uns der Wald plötzlich auf einer baumfreien Ebene aus und wir rollen unter Gebetsfahnen hindurch. Dichter Nebel verdeckt den Blick ins Tal unter uns, aber wir können die nahe Zivilisation hören: Autobrummen, Musik, eine Schleifmaschine bei der Arbeit – und dann: das schrille Horn eines Zuges. Es klingt nicht nach Warnung, sondern eher nach Triumph. Seit dem Jahr 1881 tut diese Eisenbahn hier ihren Dienst und wird bis heute als Transportmittel wirklich gebraucht: die Darjeeling Himalayan Railway, kurz „DHR“.
Von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt, war es genau diese historische Schmalspurbahn, die uns in diesen abgelegenen Nordosten Indiens gelockt hat. Auf einer Länge von 86 Kilometern klettert die DHR in ihrem Gleisbett 2000 Höhenmeter von New Jalpaiguri in der westbengalischen Tiefebene bis in die Teeplantagen von Darjeeling hinauf. Unser Plan: Wir nutzen diese Bahn als Shuttle und steigen zwischendrin auch mal für ein paar Tage aus, um Trails zu erkunden. Am Zielbahnhof in Ghoom werden wir schließlich auf Kammwegen noch weiter in den Singalila-Nationalpark vorstoßen. Bis an die Grenze nach Nepal, wo wir bei schönem Wetter den Mount Everest bewundern werden – hieß es jedenfalls im Vorfeld, während der Planung. Zu der Zeit war allerdings weder die Rede von Tigern, noch von einer derart abenteurlichen Zugfahrt.
Rückblende: „Was für ein Chaos!“, brüllt Steffi ihrem indischen Freeride-Kollegen Vinay Menon ins Ohr, als wir uns am ersten Tag in Jalpaiguri auf den Weg zum Bahnhof machen. Die feucht-warme Luft des Tieflands ist schwer zu atmen, es ist laut, es wimmelt vor Mopeds, Autos und Menschen, Moskitos treiben in den Wahnsinn. Doch inmitten dieses Treibens steht es, das Weltkulturerbe: Eine Diesellokomotive und zwei kurze Waggons auf einem schmalen Gleis mit nur 610 Millimetern Spurweite. Die Lok, nicht viel größer als ein VW-Transporter, sieht schon ziemlich zerdengelt aus. Rost und Dreck nagen an ihrer Hülle, aus jedem Schraubenloch schwitzt Teer. Uns ist bewusst, dass wir gerade in einen Zug einsteigen, der regelmäßig entgleist und dessen Gleisbett auch schon von Erdrutschen verschüttet wurde. Was uns dagegen nicht klar war: Es ist gar nicht so leicht, unser komplettes Gepäck inklusive Bikes in den beiden kurzen, schmalen Waggons überhaupt unterzukriegen. Doch irgendwann ist alles verstaut und wir können uns auf unsere reservierten Kunststoffsitze quetschen.
Fünf Stunden dauert die Fahrt allein auf den ersten 46 Kilometern bis nach Kurseong. Dabei muss sich die Eisenbahn besonders steile Berghänge im Zickzack-Kurs erarbeiten. Die Weichen an diesen Stellen werden per Hand umgestellt, daher kündigt der Lokführer unsere Ankunft jeweils mit einem fünfminütigen Pfeifen beim Bahnwärter an. Wir haben sogar Glück, sagt unser Guide Mike, denn an Regentagen würde vorn in der Lok noch ein Mitarbeiter sitzen, der Sand auf die Schienen streuen muss – für eine bessere Traktion der Räder. Eilig darf man es also nicht haben, wenn man dieses Verkehrsmittel nutzt. Dafür ist die Aussicht sehr unterhaltsam: Kurz hinter Jalpaiguri blicken wir bereits weit über Talkerben, dann tauchen wir in ein Dschungeldach ein, in dem man die Affenfamilien turnen sieht. Manchmal schauen wir aber auch direkt in die Augen von Ladenbesitzern, wenn die Dorfstraßen nur wenige Zentimeter breiter sind als der Zug selbst. Kurseong liegt bereits 1300 Meter über unserem Startort. Die Luft ist klar, nichts klebt mehr. Wir übernachten in einem Hotel, in dem einst der britische Kolonialmagistrat untergebracht war. Ein verwinkeltes Haus mit knarrenden Holzböden, aber ohne fließendes Wasser. Zwei Tage erkunden wir hier die Gegend mit den Bikes. Dabei wird schnell klar: Es gibt unzählige Trails in diesen Bergen, aber sie sind für Teepflücker angelegt. Nicht für Mountainbiker. Entsprechend viel zu tun gibt es für Fahrwerk und Unterarme.
Am vierten Tag wuchten wir unser Gepäck wieder gen Bahnhof. Wir müssen die Laufräder aus den Bikes nehmen, damit sie im Waggon des DHR Platz finden. Jetzt sind es nochmal vier Stunden Fahrt bis die ersten bröckelnden Kolonialfassaden von Darjeeling auftauchen und wir schließlich im Bahnhof neben einer anderen keuchenden Dampflokomotive zum Stehen kommen. Wir können sehen, wie das Feuer aus dem Kessel der Nachbarlok lodert. Mitarbeiter schleppen körbeweise Kohlen heran, Dampf stößt aus Ventilen, irgendwo spreißeln Funken aus einem Schweißgerät. „Damit geht’s morgen weiter nach Ghoom, aber jetzt zeig ich euch erstmal hier die Trails durch den Bambus-Dschungel“, erklärt Mike und reicht den Sherpas auf dem Bahnhof unsere ersten Taschen aus dem Zug. Hier werden wir nicht nur die eingangs erwähnte, glatte Tigerabfahrt erleben, wir treffen auch einheimische Biker. Mit ihnen surfen wir noch über einen herrlichen Flowtrail durch Kiefernwald. Nur einmal bleiben wir an einem Aussichtspunkt ganz andächtig stehen: Als am Horizont gerade der 8586 Meter hohe Kangchenjunga seine Muskeln im Abendlicht spielen lässt. Diesem Berg werden wir in den nächsten Tagen noch näher kommen.
Am Bahnhof in Ghoom empfangen uns klirrende Kälte und ein paar Landrover aus den 1950er Jahren. Sie sollen uns nun weiter in den Singalila-Nationalpark bringen. Schneller sind wir damit nicht, aber die Fahrt auf den glatten Schienen war definitiv bequemer. Die einzige Straße in den Nationalpark hinauf entpuppt sich als steil, verblockt und ausgesetzt. „Sie müssen ja jeden Stein kennen“, sage ich zu unserem Fahrer Tenzing Sherpa, als der gerade wieder einen medizinball-großen Stein ohne Aufsetzer umschifft. Der lacht: „Umgekehrt! Die Steine kennen mich!“ Unser Ziel ist Tenzings Heimatdorf Sandakphu: eine winzige Grenzsiedlung auf 3600 Metern Höhe, wo wir erst bei Dunkelheit in unserem Gästehaus ankommen. Eine Heizung gibt es hier oben nicht, deshalb wirft sich jeder gegen die frostigen Temperaturen noch zwei Decken über den Schlafsack. Vor den Fenstern staksen Yaks im Vollmondlicht umher, ihr Schnauben kondensiert in der eisigen Luft wie die Rauchschwaden der Dampflok. Keine Frage, die schweißtreibende Hitze des Tieflandes haben wir weit unter uns gelassen.
Am nächsten Morgen pedalieren wir auf großen, gefrorenen Steinplatten die restlichen Höhenmeter zum Singalila-Kamm hinauf. Die Luft hier oben ist spürbar dünner. Rhododendron und goldenes Herbstgras sprießen rechts und links aus dem Hochgebirgsboden und auch vereinzelte Birken. Klar, in dieser Gegend gehört unser Kamm mit seinen 3636 Metern Höhe ja gerade mal zu den Mittelgebirgsregionen. Bis zur Grenze nach Nepal dürfte es jetzt nicht mehr weit sein. Doch so genau können es nicht mal unsere Guides sagen. Zwar wird an dieser politisch sensiblen Grenze zwischen Indien und Nepal regelmäßig patrouilliert, aber es gibt nur wenig bis gar nichts, was sie kennzeichnet. Es ist das Land der Gorkha. Eine Region, in der die kulturellen und ethnischen Bande nun mal stärker sind als von amtswegen gezogene Landesgrenzen. So erklärt es uns jedenfalls unser Parkführer, Phupu Tshering Vhutia, während er uns bei einer Rast Kichererbsen-Kartoffel-Curry aus dem Thermostopf serviert.
Je weiter nördlich wir auf dem Bergrücken voran kurbeln, desto imposanter erstrahlt in der Ferne die Kulisse der Himalaya-Gipfel. Bis unser Parkführer schließlich stehen bleibt und mit dem Arm stolz in den Horizont deutet. Richtung Norden platzt dort die schnurgerade Naht zwischen Himmel und Erde gewaltig auf: ein ausgefranster Riss – eindeutig die Skyline von Makalu, Lhotse und Everest. Ein Anblick, der einen wirklich ehrfürchtig auf die Knie sinken lässt. Aber nicht lang, denn Mike drängt auf die Abfahrt. Immerhin warten 2000 Tiefenmeter bis nach Darjeeling hinunter. Sehr unterschiedliches Terrain mit engen Kehren, Stufen, Wurzeln und Bachdurchquerungen. Dafür würden wir einiges an Zeit brauchen, und das Tageslicht sollte uns auf diesem Trail besser nicht ausgehen. Das wäre auch sehr schade gewesen: Bei unserem Flug aus frostigen Höhen beginnen wir auf halber Höhe wieder zu schwitzen, die Rhododendron weichen dem Bambus, der Bambus den Fichten und am Ende kurven wir wieder durch Teeplantagen, Weinreben und Bananenstauden. Quasi ein 90 minütiger Schnelldurchlauf unserer letzten acht Tage – ganz ohne Tigerbegegnung.