Bhutan – viele Mythen umranken das kleine Königreich im Himalaya. Flankiert von den Großmächten Indien und China gelten seine Einwohner als besonders glücklich, da Bhutans Regierung das Bruttonationalglück höher gewichtet als das Bruttosozialprodukt. Die meisten Touristen kommen ins Land, um das berühmte Kloster Taktsang zu besuchen. Es thront auf über 3000 Meter Höhe in einer Felswand. Dort, wo im 8. Jahrhundert ein Guru auf dem Rücken einer Tigerin gelandet sein soll. Und dann trifft man im ganzen Land auf auffällig viele Phallus-Symbole, weil der Penis für Fruchtbarkeit und Glück steht.
All das weiß ich, weil ich bereits vier Mal in Bhutan war. Das Visum meiner ersten Reise hatte im Oktober 2007 die Nummer 20244. Sprich: Das Königreich wurde damals in einem Jahr von etwa so vielen Touristen besucht wie Disneyland an einem Vormittag. Fernsehen und Internet waren erst acht Jahre zuvor eingeführt worden. Der damalige König von Bhutan hatte viel getan, um westliche Einflüsse von seinem Volk fernzuhalten.
Umso überraschter war ich, als mein Freund Tom Öhler anrief und von einem ganz anderen Mythos erzählte: “Der Prinz von Bhutan soll selbst Mountainbiker sein und sogar Trails bauen. Lass uns das doch mal auschecken.” Ein ausgezeichneter Grund für einen fünften Besuch, fand ich. Denn bei meiner letzten Reise 2010 konnte ich noch keine Biketrails entdecken. Ich kann mich nicht mal erinnern, überhaupt Radfahrer gesehen zu haben.
Jetzt, 14 Jahre später, muss ich mir die Augen reiben: Tom hatte im Vorfeld über Instagram bereits Kontakt mit der lokalen Bikeszene in der Hauptstadt Thimphu aufgenommen – und direkt Tandin aufgespürt. Der junge Bhutaner ist nicht nur ein Top-Fahrer der zentralasiatischen Enduro-Rennszene, er hat als Guide bereits das ganze Land mit bikenden Gästen erkundet. Unsere Mission “Königliche Trails” ist also in den besten Händen.
Als Erstes stehen die Trails rund um Thimphu auf dem Plan. Hier ist Tandin mit seinen Buddys fast täglich am Shredden. Die Szene ist klein, aber passioniert. Tom und ich staunen über die gut erhaltenen Pfade, die über Jahrhunderte die einzigen Verbindungen zwischen den Dörfern und Klöstern waren. Heute dienen sie als touristische Trekkingrouten – und inzwischen auch als Trails für Mountainbiker.
Tandin lotst uns einen Bergkamm hinauf, wo wir relativ bald schieben müssen. Zum Einen, weil uns der Seitenwind fast den Abhang hinunterbläst, aber vor allem wegen der Höhe. Der Trail-Einstieg von Tandins Hausrunde befindet sich auf über 3000 Metern. Dafür ist die Aussicht auf die Hauptstadt, in der ein Fünftel aller 800.000 Bhutaner lebt, entsprechend grandios.
Und die Abfahrt erst: Staubig kurvt der Pfad unter einem Geflecht von Gebetsfahnen dahin. Es geht an einem Tempel vorbei und an einer der größten sitzenden Buddha-Statuen der Welt. Erst kurz vor Sonnenuntergang erreichen wir wieder den urbanen Skatepark. Was für eine Einstiegsrunde!
In den ersten Tagen erleben wir wenig Offroad-Verkehr. Auch touristisch hat sich das Land noch nicht vollständig von Corona erholt. “Wartet nur, bis ich euch morgen meinen Lieblings-Trail zeige”, grinst Tandin. “Dort treffen wir dann gar keine Menschen mehr.”
Frühmorgens steigen wir am nächsten Tag in einen Shuttlebus und es geht den Dochu-La-Pass hinauf. Doch kurz vor dem höchsten Punkt biegt unserer Fahrer in einen dichten Bergwald ab, wo bald ein merkwürdig lautes Surren ertönt. Mitten im Nirgendwo.
Das ist Top-Secret, Jungs. Unser Staat betreibt hier eine Bitcoin-Farm, raunt Tandin. Fotografieren ist streng verboten!
Durch die Bäume blitzen ein paar einfache Gebäude auf, das Surren kommt eindeutig von dort. Eine kurze Internetrecherche bestätigt Tandins Aussage. Ganz so geheim ist die Sache dann wohl nicht mehr, aber offen sprechen will mit uns niemand über die bhutanische Kryptobranche.
Egal, wir sind ja auf der Suche nach Trails, nicht nach einer Investition. Und schon eine halbe Autostunde später könnte der Kontrast zur Bitcoin-Welt gar nicht größer sein: Wir erreichen ein uraltes Kloster und werden schon beim Abladen der Bikes von interessierten Mönchen umringt. Wir dürfen ihr Kloster besichtigen und mit dem Segen ihres Oberhaupts machen wir uns schließlich an den Aufstieg zum “Madman-Trail”. Fahrend und schiebend arbeiten wir uns auf einem lehmigen Weg den Waldhang hinauf. Stunden später passieren wir auf 3500 Metern Höhe wieder ein Heiligtum, diesmal ein verlassenes. Nebelschwaden streichen um die alten Klostermauern. Kein Mensch weit und breit. Mystisch.
“Da vorne startet der Madman-Trail: Macht euch bereit für 2000 Tiefenmeter durch sämtliche Vegetationszonen,” Tandin ist sichtlich stolz, denn diesen Pfad hat er mit seinem Bikeclub gerade erst entdeckt und fahrtauglich gemacht. Woher der Name “Madman-Trail” kommt, möchte Tom wissen, doch Tandin grinst nur: “Das erkläre ich euch später!” Damit tritt er in die Pedale, nutzt die ersten Wurzeln als Rampe und fliegt dem Dochu-La-Pass entgegen. Wurzelteppiche und griffiger Waldboden im munteren Wechsel, zerzauste Gebetsfahnen in den Bäumen, hier ein Sprung, da ein Switchback – niemals hätten wir mit so einem perfekten Enduro-Trail gerechnet.
Nach einer kurzen Stärkung im Café auf dem Dochu-La geht es in ähnlichem Stil weiter. Nur, dass der Trail jetzt von Rhododendronbüschen flankiert wird und die Temperaturen spürbar steigen.
Irgendwann erreichen wir ein kleines Dorf und rauschen in einen Parkplatz voller Touristen-Busse. Vor einem Haus fotografiert sich eine Gruppe kichernder Asiatinnen. Jetzt, meint Tandin, sei es an der Zeit, uns die Geschichte des Madman zu erzählen: Vor 500 Jahren soll hier ein heiliger Mönch einen Dämon mit seinem besten Teil besiegt haben. Seither werden Phallussymbole auf Gebäude gemalt oder als Schnitzereien an Türeingängen aufgestellt. Das soll böse Geister vertreiben, in jedem Fall aber lockt es Touristen an. Auch wir cruisen durch die Straßen, umgeben von Penissen in allen Formen, Farben und Facetten.
Am Ende der zwei Wochen zeigt uns Tandin auch noch den “Prinzen-Trail”. Aber nur, weil wir drauf bestehen. Per Shuttlebus geht's ins Punakha-Tal und dort etwa 1000 Meter die Bergflanken hinauf, bis der Fahrer mitten in einer Baustelle stoppt. “Hier entstehen Unterkünfte für ein Rennen der Asian Enduro Series, das in zwei Jahren ausgetragen wird”, erzählt Tandin.
Und direkt vor der Baustelle startet der Trail, den wohl tatsächlich einst der Prinz von Bhutan von einer Militäreinheit in den Berg schaufeln ließ. Allerdings muss das bereits eine ganze Weile her sein, denn der Pfad ist so verwittert und teils wild überwuchert. Da will einfach kein Fahrspaß auflodern. “Kommt in zwei Jahren wieder,” sagt Tandin entschlossen. “Bis dahin haben wir den königlichen Trail wieder richtig auf Vordermann gebracht!”
Ob Bhutan wirklich das glücklichste Land der Welt ist, wie es immer heißt, wissen wir nicht. Fakt ist: Das kleine Königreich mitten im Himalaya, zwischen Indien und China, ist das einzige Land der Welt mit Klimaneutralität. Was vor allem daran liegt, dass die Regierung hier nicht auf Wirtschaftswachstum setzt, sondern auf Naturschutz und das Glück der Bevölkerung. Dennoch hat die Zahl der jungen Auswanderer (nach Australien und Kanada) seit Corona massiv zugenommen. Von der Landesfläche her ist das Land etwa so groß wie die Schweiz, 80 Prozent liegen über 2000 Meter Höhe. Höchster Gipfel: der 7570 Meter hohe Gangkhar Puensum, der noch nie von einem Menschen bestiegen wurde. Trekkingtouren werden in Bhutan schon lang angeboten. Dass diese Routen nun auch von Mountainbikern genutzt werden, ist relativ neu.
Das Land hat sich touristisch noch nicht vollständig von Corona erholt. Was aber auch an den Einreisebedingungen liegt, die einen Massen- und Billigtourismus (wie z. B. im Nachbarland Nepal) verhindern sollen. Neben einer Visumspflicht und einer Einreisegebühr von derzeit 40 US-Dollar, müssen Touristen pro Tag und Person eine Nachhaltigkeitsgebühr von 100 USD bezahlen (vor Corona waren es noch 200 USD). Auch individuelle Reisen sind nicht möglich. Bei der Beantragung eines Visums muss man die Buchung eines Guides und eines Fahrers über eine lokale Agentur vorweisen. Der internationale Flughafen Paro wird aus Bangkok, Delhi, Kathmandu und Singapur direkt angeflogen.
Unser MTB-Guide Tandin hat uns bestätigt, dass der “Prinzen-Trail” im Punakha-Tal tatsächlich einst von einer Militäreinheit geschaufelt wurde - im Auftrag des Prinzen, der selbst gern auf dem Mountainbike saß. Allerdings dürfte das knapp 20 Jahre her sein. Denn Jigme Khesar Namgyel Wangchuck ist heute 44 und folgte seinem Vater bereits im Jahr 2006 auf den Thron. Entsprechend verwittert ist der besagte Trail, aber Tandin hatte versprochen, dass er den Trail bis zum Asia-Enduro-Series-Rennen in zwei Jahren wieder aufgemöbelt haben will. Und wer weiß, vielleicht hilft der heute 8-jährige Prinzensohn dabei schon mit?
Die beste Zeit für eine Reise nach Bhutan ist im Frühling (März bis Mai) oder im Herbst (September bis November). In diesen Monaten ist das Wetter mild und klar, ideal für Trail-Touren und kulturelle Entdeckungen.
Die Amtssprache Bhutans ist Dzongkha. Englisch wird aber in den Schulen gelehrt und ist daher weit verbreitet.
BTS bietet maßgeschneiderte Mountainbikereisen an (2-4 Personen). bhutantravel.com.bt
Es gibt auch MTB-Veranstalter in Europa, die einen Pauschal-Trip nach Bhutan anbieten. Z. B. abenteuerreisen.ch