Andi Prielmaier
· 09.03.2023
Orientalisch, wild und geheimnisvoll – mit dem E-Bike durch Marokko, einem Land wie aus 1001 Nacht. Auf Abenteuer-Tour im Reich der Geschichtenerzähler, Schlangenbeschwörer, Hirten und Künstler.
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Wir passieren vier Polizeikontrollen in kurzer Folge, dann vermassle ich alles: „Something to declare?“, fragt der marokkanische Beamte. „Yes, Beers from Tegernsee“, rutscht es mir heraus. Ich lache. Doch im nächsten Augenblick ist Schluss mit lustig. Der Uniformierte neben unserem Wohnmobil kneift die Augen zusammen wie Clint Eastwood und winkt uns auf den Seitenstreifen.
„Was für ein dämlicher Spruch!“, schießt es mir durch den Kopf. Schlagartig realisiere ich: Alkohol ist nicht das, womit man im muslimischen Marokko spaßen und prahlen sollte. Vier Polizeibeamte steigen zu uns ins Fahrzeug, öffnen Schränke, wühlen in Taschen, ziehen an Schubladen. „Ah, eine Drohne!“, ruft einer von ihnen, als er einen Koffer mit Film-Equipment aufklappt. Drohnen dürfen in Marokko nur mit vorheriger behördlicher Genehmigung eingeführt und geflogen werden.
Ähnlich verhält es sich mit Funkgeräten. Kopfschüttelnd präsentiert der Polizist seine nächste Trophäe: zwei Walkie-Talkies. Ein Fauxpas nach dem anderen! Mir dämmert: Unser Ziel, das Atlas-Gebirge, ist eine andere Welt als die der heimischen Bayerischen Alpen. Scheitert unser Abenteuer-Trip schon, ehe er wirklich begonnen hat?
Jetzt schaltet sich mein Bike-Kumpel und Fotograf Christian Back in die Diskussion ein: „Morocco – strong soccer team. Germany not good, must go home.“ Mit einem Mal verklären sich die grimmigen Gesichter unter den Polizeikappen zu einem seligen Strahlen. Minuten später dürfen wir weiterfahren. Fußball forever! Unsere Suche nach versteckten Trails im Atlas-Gebirge und nach unvergesslichen Eindrücken und Erlebnissen kann beginnen.
„Morocco – strong soccer team. Germany not good, must go home.“
Zu Hause hatte ich immer wieder von einem dichten Netz aus Eselspfaden gehört, die einsame Berberdörfer im Atlas-Gebirge miteinander verbinden sollen. Verwunschene, magische Orte wie aus einer längst vergangenen Zeit. Die Trail-Recherche am Computer war alles andere als einfach. Die Auswahl an Routen auf Trailforks war ernüchternd überschaubar. Und auch sonst stieß ich auf wenig detaillierte Tipps. Doch gerade das ist ja der Reiz an einem Explorer-Trip wie diesem.
Der Atlas – wie ein gewaltiges Bollwerk säumt das am Horizont auftauchende Gebirge die Nordflanke Afrikas. Die höchsten Gipfel wie der Jbel Toubkal (4167 m), Nordafrikas höchster Berg, erreichen Westalpen-Niveau. Nach und nach verschwinden die letzten Vororte von Marrakesch im Rückspiegel. Das Land wird bergiger, einsamer. Die Abenteuerlust ist zurück. Christian und ich träumen von Orten, die auf befestigten Straßen nicht erreichbar sind, von wilden Berggegenden, so ursprünglich, wie es sie in den Alpen schon lange nicht mehr gibt. In Gedanken sehen wir uns auf einer Achterbahn aus roter Erde und Fels, die nur uns gehört. Wir sehen uns Bergflanken hinabsurfen und durch Orte rollen mit verschleierten Frauen und lachenden Kindern. Ein E-Bike-Märchen wie aus 1001 Nacht möchten wir erleben, orientalisch und exotisch. Um es unvergesslich zu machen, wollen wir einen Film darüber drehen. Er soll im Sommer auf einem Filmfestival laufen. Soweit unser Plan.
Am nächsten Tag treffen wir Redouan. Ein Enddreißiger mit wachem Blick, gewinnendem Lachen und einem Stirnband auf dem Kopf. Er ist Mountainbike-Guide – in Marokko bislang noch eine recht seltene Spezies. Ich habe in den vergangenen Monaten öfter mit Redouan telefoniert. Er hatte mir vom Jbel Toubkal erzählt, und dass es im Hohen Atlas nur so von Trails wimmle. „Here we are“, verkündet Redouan am Ende der Fahrt in die Berge. Ich schaue nach links, nach rechts, nach oben, nach unten. Einen Trail kann ich nicht erkennen. Redouan deutet auf eine Gruppe von Dornenbüschen. Der Einstieg liegt hinter diesem Gestrüpp. Allein hätten wir ihn nie gefunden. Frühwinterlicher Reif überzieht den Pfad. Wir sind auf 2000 Metern Höhe. Die Bergspitzen über den rotbraunen Hängen hüllen sich schon in Schnee. Wir brausen los, Redouan hinterher. Der Pfad mündet in einen Weg, der Weg in eine Forststraße, die Forststraße in eine breite Schotterpiste. Okay, die Aussicht ist schön. Doch dröges Rollen ohne Lenkeinschlag, ohne Kurvenlage reicht uns nicht. Das muss doch noch besser gehen!
Noch während wir weiterrollen, gehen die Gedanken auf Reise. Sollen wir den Viertausender Jbel Toubkal besteigen und unsere Traum-Trails suchen? Dort liegt bereits Schnee. Also, was tun? Am nächsten Tag führt uns Redouan in die Wüste. Schnell sind Christian und ich wieder versöhnt mit Marokko. Wellen in Ocker, so weit wir blicken können. Kamele schaukeln uns entgegen. An ihre Höcker klammern sich Touristen und schwanken nach links und rechts.
Während die Sonne sinkt, erklimmen wir stattliche Dünen. Gelber Sand, rotes Licht. Über samtigen Sand schlittern wir mit unseren Bikes in die Tiefe. Redouan hat’s wirklich drauf, denke ich. Er surft vor mir und zieht lange Turns. Dieses Sand-Biken fühlt sich fast wie Freeriden mit Ski oder Snowboard im Pulverschnee an. Jetzt stimmt auch der Fahrspaß! Ich kippe das Bike in Schräglage. Ein Spray aus Sand erfüllt die Luft. „Yeah!“, ruft Redouan. Wir sind dankbar für dieses Alternativprogramm. Wir freuen uns über den hohen Wüstenhimmel und das irre Licht, die Weite, die Leere, die Stille.
In der nächsten Nacht tauschen wir Wohnmobil gegen Berberdorf. Schon die Fahrt dorthin ist ein Abenteuer. In einem Allrad-Jeep winden wir uns enge Kehren hinauf, rumpeln über schmale Schottersträßchen und schlingern durch matschige Pfützen. Seitlich stürzen Felsklippen Hunderte Meter senkrecht in den Abgrund. Ich remple Christian mit dem Ellbogen an und raune ihm zu: „Das schaut doch vielversprechend aus!“ Nach gefühlt einer halben Ewigkeit erreichen wir ein entlegenes Bergdorf auf 1800 Metern Höhe. Redouan stoppt den Geländewagen vor einem Lehmhaus. Drinnen begrüßt uns Said mit dunklen, freundlichen und warmen Augen. Wir sind eingeladen, bei seiner Familie zu logieren.
Im Wohnraum von Saids Haus stehen eine Holzbank und ein Tisch – das war’s. In der Küche faucht ein kleiner Gasofen. Saids Frau Khadija kocht Tee. „Berber Whisky“ nennen die Marokkaner augenzwinkernd ihr alkoholfreies, bernsteinfarbenes Nationalgetränk. Traditionell veredelt Khadija den Grüntee mit frischer Minze und Zucker. Viel Zucker. Ein Zeichen der Gastfreundschaft. Denn: wenig Zucker – wenig Freundschaft, viel Zucker – viel Freundschaft. Zum Thé vert à la menthe reicht Khadija selbst gemachtes Fladenbrot mit Butter, Käse und Oliven. Im Haus hat sie das Sagen. In der Öffentlichkeit wirken die Frauen dagegen zurückhaltend. Die Rollen von Mann und Frau sind klar verteilt. Ein Ziel unserer Reise haben wir schon nach wenigen Tagen erreicht: Wir wollten Menschen kennen lernen, die fern der urbanen Zivilisation ein völlig anderes Leben führen als wir zu Hause. Duschen? „Das Badezimmer ist draußen, denn der Fluss fließt durchs Dorf“, sagt Said und lacht. Auch wir lachen, putzen unsere Zähne und schlüpfen in die Schlafsäcke. Gute Nacht, Marokko!
Früh am Morgen arbeiten wir uns weiter die Berge hinauf zu einem hoch gelegenen Pass. Ein Muli hilft uns, Christians schwere Kameraausrüstung über den mäandernden Pfad nach oben zu buckeln. Welch eine Schlepperei! Doch sie lohnt sich. Wir schauen ins Tal, viele Bergrücken und kleine Rinnen, ein Eselspfad und eine wilde, unberührte Landschaft liegen unter uns.
Ich blicke zu Redouan hinüber, rolle mit dem E-Bike auf ihn zu und klatsche ihn ab. Los geht’s! Redouan tritt in die Pedale, ich folge seiner Linie. Das Terrain unter unseren Reifen macht richtig Spaß. Felsstufen: fordernd, aber nicht zu ruppig. Steinfelder : spannend, aber die Nerven nicht zu sehr strapazierend. Spitzkehren: technisch, aber nicht hakelig. „Wow!“, rufe ich Redouan begeistert zu! Genau das haben wir gesucht. Der Trail wird schneller und verliert sich im Gelände. Nun rauschen wir über Geländewellen und Grate aus gepresstem Lehm. So ursprünglich und entlegen die Bergregion ist, durch die unsere Route führt, so fortschrittlich hat sich Marokko in den vergangenen Jahren entwickelt. Gut möglich, dass es sich beim Strom, mit dem wir unsere Akkus geladen haben, um Solarstrom handelt. Marokko zählt nicht nur auf dem afrikanischen Kontinent zu den Vorreitern im Bereich erneuerbarer Energien. Im weltweiten Klimaschutz-Index 2023 rangiert Marokko hinter den Vorbildern Dänemark und Schweden auf Rang drei. Deutschland liegt nur auf Position 16. Bis 2030 soll der Anteil an erneuerbaren Energien in Marokko auf 52 bis 86 Prozent steigen.
Auch wir fühlen uns voll frischer Energie. Wir suchen uns die nächste Abfahrts-Line, pressen unsere Boliden durch Senken, um uns Augenblicke später fast schwerelos nach oben tragen zu lassen. Wie in einem Rollercoaster wechseln kleine Bergrücken und Rinnen. Der sandige Boden bietet guten Grip. Das ist Big-Mountain-Freeriden – technisch und flowig zugleich! Der Eselspfad ist längst zum Traum-Trail mutiert. Ich muss mich selbst kneifen. Ist das ein Märchen oder Realität? So viel ist sicher – die weite Reise hat sich gelohnt.
Im Tal erreichen wir das nächste Dorf. Musik plärrt. Tröten tröten. Hupen hupen, Hände klatschen. Wir rollen die Straße entlang. Egal, ob Alt oder Jung, Frau oder Mann, Oma oder Opa – alle feiern wie verrückt. Auch Redouan. Er springt vom Bike, hüpft in die Luft. Erst jetzt kapieren wir: Marokko hat das Unmögliche geschafft. Sieg gegen Portugal bei der Fußball-WM. Fremde umarmen uns, auch Redouan, Christian und ich liegen uns in den Armen. Alle hüpfen, tanzen. Wir auch. Unsere Gastgeber sind im WM-Halbfinale. Und wir haben tatsächlich die erträumten 1001-Nacht-Trails gefunden. Im Freudentaumel umarme ich Redouan noch einmal. „Shukran – danke, Marokko!“
Vier Flugstunden von München nach Marrakesch. Flüge gibt es schon ab rund 150 Euro. Durch die Nähe zum Atlas-Gebirge bietet sich Marrakesch als Zielflughafen an. Anreise per Zug: nach Tarifa (Spanien), Fähre nach Tanger (Marokko) und weiter per Zug oder Bus nach Marrakesch. Dauer: 2–3 Tage. Wer genügend Zeit mitbringt, kann auch mit dem Auto (Fähre Tarifa – Tanger) anreisen. Auf entlegenen Bergstraßen ist ein Allradantrieb empfehlenswert. Diese Straßen sind häufig nicht asphaltiert.
Marokko ist ein Reiseland und bietet großartige Unterkünfte jeder Klasse zu erschwinglichen Preisen. Eine Nacht in traditionellen Riads ist schon für 25 bis 30 Euro pro Person erhältlich. Backpacker können in günstigen Hostels bereits ab 10 Euro unterkommen. Die Marokkaner sind sehr gastfreundlich. In entlegenen Dörfern sind Privatunterkünfte bisweilen möglich. Am besten, man fragt Locals oder Guides. Übernachtungstipps Marrakesch: Riad Bayti, Riad Dar Yassine
Nach Sonnenuntergang empfiehlt sich in Marrakesch ein Abstecher zum Djemaa-el-Fna-Platz. Hier herrscht ein buntes Treiben mit Gauklern, Schlangenbeschwörern, Wahrsagern, Künstlern und Musikern. Und natürlich gibt es auch jede Menge kulinarische Leckereien. Couscous und Tajine heißen die bekanntesten traditionellen Gerichte. Das Viertel Guéliz in Marrakesch bietet ein vielfältiges Angebot an Restaurants und Bars.
Geführte Mountainbike-Reisen im Atlas-Gebirge bieten der Veranstalter Triberg Reisen, oder der Bike-Guide Andreas Tonelli
Der Islam ist Marokkos offizielle Religion. Entsprechend sollte die Kleidung Schultern und Knie bedecken. Fotografieren von Menschen: immer vorher fragen.
Frühling und Herbst: Von März bis Mai und von September bis November sind die Temperaturen mild mit wenig Niederschlag. Die Sommermonate sind sehr heiß.