Markus Greber
· 12.03.2021
Die Ur-Route des Transalp-Pioniers Andi Heckmair ist bekannt für ihre anstrengenden Trage- und Schiebepassagen. Claus Fleischer, Stefan Schlie und Markus Greber wollten es trotzdem wissen.
„Verdammtes, bleischweres, unförmiges Ungetüm“ – nie hätte ich gedacht, dass ich das motorisierte Mountainbike einmal so verfluchen würde wie heute. Seit gefühlten Stunden versuche ich, dieses Monster über halbmeterhohe Stufen zu wuchten, durch Engpässe zwischen zwei Felsen durchzuquetschen, um Haarnadelkurven zu manövrieren – schweißüberströmt und mit Krämpfen in den Fingern vom Gedrückthalten der Schiebehilfe. Gefühlt dutzende Male hatte ich das Bike schon geschultert, hatte mich Schritt für Schritt und mit brennenden Oberschenkeln hochgekämpft, um dann festzustellen, dass es schiebenderweise doch leichter gewesen wäre. Nicht nur einmal wäre ich fast abgestürzt, weil dieser Metallklumpen auf meinen Schultern unerwartet gegen einen Felsvorsprung geknallt war. Dazu leistet die Mittagssonne an diesem Spätsommertag ganze Arbeit. Vor Hitze und Wut pulsiert es unter meinem Helm. Ich halte an und entlade meinen Frust in Form einer WhatsApp an meine Frau Sabine im Begleitfahrzeug: „Das Schlappiner Joch ist ein richtiges Arschloch.“
Meinen Gefährten Stefan und Claus war es nicht viel anders ergangen. Sie waren zwar mit besserer Kondition und etwas leichterem Gepäck etwas schneller unterwegs als ich. Aber als wir uns auf der Passhöhe wieder begegnen, sehen die beiden nicht weniger zerstört aus. Wir sind uns einig, dass sich bereits hier, auf der zweiter Etappe, die Sinnfrage unseres Experiments stellt: Nein, die Heckmair Route macht mit dem E-MTB keinen Sinn. Aber schon gar keinen.
„Ich werde es nicht mehr erleben, dass einer meine Route mit einem 25 Kilo schweren E-MTB macht“ – an diesem Zitat von Transalp-Pionier Andi Heckmair blieb Claus Fleischer, Chef von Bosch eBike-Systems, einen knappen Monat zuvor beim Durchblättern eines DAV-Magazins hängen. Seit Tagen schon war der Stuttgarter zusammen mit Freund und Team-Fahrer Stefan Schlie in den Alpen unterwegs. Neue Produkte testen, Touren auschecken, sich unters Biker-Volk mischen. Um zu sehen, was sich in der Szene tut. Zweimal im Jahr zelebrieren die beiden ihre „Studienreise“, und nicht selten kommt es vor, dass beim After-Ride-Bier neue Ideen entstehen. So wie an jenem Abend das Projekt Heckmair 2.0. Die Ur-Transalp mit dem E-MTB, das wär’s. Sind die berüchtigten Schiebe- und Tragepassagen der Ur-Transalp mit modernen E-MTBs, hohem Fahrkönnen und überdurchschnittlicher Leidensfähigkeit nicht doch machbar? Macht eine Alpenüberquerung auf der Klassikerroute mit begrenzten Akku-Kapazitäten überhaupt Sinn?
Einen knappen Monat später sitzen wir zusammen mit Heckmair in seiner Lieblings-Pizzeria in Oberstdorf und lauschen gespannt den Erzählungen des 79-Jährigen. Über seinen Vater, der als Erstbesteiger der Eiger Nordwand gilt. Über seine Reisen nach Nepal und seinen Trip durch Bhutan, wo er im vorigen Jahr noch eine geführte Mountainbike-Tour leitete. Für einen Moment kommen wir uns vor wie Waisenknaben – dachten wir doch, dass wir mit unserer Alpenüberquerung eines der letzten Abenteuer der Neuzeit vorhaben. Als Heckmair von der Planung seiner Ur-Route im Jahr 1989 erzählt, beginnen die Augen des Alpinisten zu funkeln. „Der Plan war damals, auf alten Säumerpfaden auf möglichst direktem Weg von Oberstdorf zum Gardasee zu fahren. Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, kratzt er mit dem Fingernagel eine gerade Linie auf seine Serviette. „Und da stellt sich einem halt einiges in den Weg: der Schrofenpass gleich zu Beginn und der Passo Campo auf der vorletzten Etappe. Da werdet ihr leiden wie die Hunde.“
Pünktlich um acht Uhr am nächsten Morgen startet das Projekt Heckmair 2.0 am Bikeshop des Oberstdorfers. Die Originalroute mit sechs Etappen über 312 Kilometer und 13500 Höhenmeter hatten wir im Vorfeld auf vier Etappen komprimiert. Grund dafür war eine Schlechtwetterfront, die ab Tag drei drohte, uns einen gewaltigen Strich durch die Rechnung zu machen. Die Strategie konnte also nur heißen: keine Zeit verlieren und so schnell wie möglich durch. Uli Stanciu, der etwa zeitgleich mit Heckmair die Alpen überquerte, war uns bei der Planung behilflich. Stanciu, Gründer des BIKE-Magazins und GPS-Touren-Spezialist, hatte dabei im Hinblick auf moderne Fahrtechnik und Trail-Erlebnis einige Etappen modifiziert. Vorgabe war jedoch, dass die entscheidenden Schlüsseletappen wie der berüchtigte Schrofenpass und der sagenumwobene Passo Campo unangetastet bleiben.
An ersterem befinden wir uns gleich eine gute Stunde nach dem Start in Oberstdorf. Andi Heckmair hatte es sich nicht nehmen lassen, uns die ersten Kilometer zu begleiten und hatte sich erst kurz vor den Schlüsselstellen von uns verabschiedet. Zuvor bläute er uns noch die „Schrofenhaltung“ für Biker ein: das Bike immer auf der linken Seite, Vorderrad hoch und kräftig schieben. Nach ein paar steilen Schiebeserpentinen wissen wir, warum. Abenteuerlich in den Fels geschlagen, windet sich der Pfad steil bergauf und durch die senkrechte Felswand. Er ist meist nur handtuchbreit, also nehmen wir dankbar das Stahlseil in Anspruch, das man den Wanderern als Lebensversicherung im Fels verankert hat. An manchen Stellen, an denen Erosion den Weg weggespült hat, balancieren wir über schmale Stege aus Stahl. Während Claus und ich mit der Schrofenhaltung auf Nummer sicher gehen, spielt Stefan als ehemaliger Trial-Profi seine Trümpfe aus und pedaliert mit entspanntem Grinsen nur ein paar Zentimeter neben dem Abgrund bergauf. Fazit auf der Passhöhe: Mit einer guten Schiebehilfe ist der Schrofenpass ein Klacks und fällt mit dem E-MTB sicher leichter als mit dem klassischen Bike – vorausgesetzt, man ist schwindelfrei.
Der Schrofenpass sollte das einzige wirkliche Highlight des Tages bleiben. Der Rest der Etappe verläuft eher unspektakulär: Forstwege, Asphalt, kaum Trails. Wir passieren das mondäne Lech und pedalieren zügig durchs Formarintal hoch zur Freiburger Hütte. Hier endete vor 30 Jahren Heckmairs erste Etappe. Wir dagegen haben noch einiges vor uns. Ein netter, einsamer Trail hinunter nach Vorarlberg, dann über Schruns, Dalaas und den Kristbergsattel nach Gargellen, wo unsere erste Etappe endet. Dort haben wir 92 Kilometer und 3250 Höhenmeter in den Beinen. Umso besser schmeckt das After-Ride-Bier.
Mit 3600 Höhenmetern und drei großen Fragezeichen wartet die zweite Etappe auf uns. Sowohl das Schlappiner Joch gleich zu Anfang der Route als auch der Scalettapass sind bekannt als reine Schiebepassagen, die auf unser Durchschnittstempo drücken. Zu guter Letzt wartet dann noch die alte Schmugglerroute über den Chaschauna-Pass. Wir hatten zwar gehört, dass diese, früher extrem steile Passage erst kürzlich für Biker ausgebaut worden ist, aber sicher waren wir uns nicht. Uns bleibt keine Wahl, wir müssen an diesem Tag Livigno erreichen. Denn das Damoklesschwert der bevorstehenden Schlechtwetterfront, die laut allen Wetter-Apps unaufhaltsam näherrückt, hängt über uns.
Zum Glück sollte das Schlappiner Joch die einzige echte Hürde an diesem Tag bleiben. Mit den Kilometern steigt auch die Stimmung im Team. In der Bahnhofs-Pizzeria von Davos laden wir unsere Batterien – die Bosch-Powerpacks mit dem Fast Charger und die körpereigenen mit einer doppelten Portion Pizzoccheri. Bei der Planung hatten wir beschlossen, dass jeder einen Ersatz-Akku und ein Ladegerät im Rucksack mitführt. Mit Nachladen in den Mittags- und Kaffeepause sollten wir trotz Nutzung der Spaß-Modi Turbo und E-MTB gut durchkommen.
Auffahrt zum Scalettapass: Der steile, felsdurchsetzte Übergang ins Engadin windet sich über 1000 Höhenmeter und stellt sich – entgegen aller Befürchtungen – als ideale Herausforderung fürs E-MTB heraus. Enge Kehren, Geröllfelder und hohe Stufen verlangen wohldosierten Pedaldruck, feinfühlige Gewichtsverlagerung und einen sensiblen Zeigefinger an der Hinterradbremse. Jeder Muskel ist gespannt und der Puls weit jenseits der anaeroben Schwelle. Dafür knacken wir die letzte 500-Höhenmeter-Rampe zur Passhöhe in Rekordzeit – sie ist trail-mäßig komplett fahrbar. Nicht minder spaßig gestaltet sich die Abfahrt auf richtigen Flowtrails ins Engadin. Jetzt steht nur noch der mächtige Chaschauna-Pass zwischen uns und dem Ziel dieser Monsteretappe. Doch der wurde tatsächlich entschärft. Während man hier früher das Bike über steilstes Almgelände wuchten musste, surft man jetzt fast 1000 Höhenmeter ganz entspannt über murmelbahnartige Flowtrails hoch zur Passhöhe. Auf einer steilen Schotterpiste geht es jetzt hinein ins Val Federia und von dort aus auf flowigen Wald-Trails hinunter nach Livigno. Nach fast viertausend Höhenmetern kommen uns die Strapazen vom Vormittag vor, als wären Tage vergangen. An der Hotelbar begießen wir die Königsetappe mit einem Aperol Sprizz. Doch draußen vorm Hotel wird es heute schneller dunkel als sonst, und ein eisiger Wind zieht durchs Tal.
Der längste Tag liegt vor uns. Die Vorboten des Unheils erwarten uns auf der Alpisella-Passhöhe. Bei schönster Morgensonne waren wir in Livigno gestartet, doch jetzt steuern wir direkt auf eine schwarze Wand zu, die sich bereits über den Cancano-See tief unter uns ausgebreitet hat. Dabei haben wir noch nicht mal zehn der 118 Kilometer geschafft. Doch zum Glück begnügt sich die angekündigte Schlechtwetterfront lange Zeit mit Drohgebärden. Über 40 Kilometer bleiben wir trocken. Doch mitten im einsamen Val di Dentro kommt es, wie es kommen muss: In wenigen Minuten steigert sich der leichte Nieselregen zum ausgewachsenen Wolkenbruch. Im Nu sind wir völlig durchnässt, dazu kriecht die feuchte Kälte durch jede Ritze unserer Funktionsklamotten. Steifgefroren erreichen wir nach 1800 Tiefenmetern endlich Grosio, wo uns Sabine mit dem VW-Bus und Wechselklamotten erwartet. Doch der Alptraum geht weiter: 1300 Asphalt-Höhenmeter hinauf zum Mortirolo-Pass im strömenden Regen, auch während der restlichen 37 Kilometer zum Fuße des Adamello-Massivs prasselt es unaufhörlich auf uns herab. Kalt, durchnässt und mit den Nerven am Ende erreichen wir Cevo, ein kleines Bergdorf am Fuße des Adamello.
Die Schlechtwetterfront war zu einem ausgewachsenen Unwetter herangewachsen. Im Radio hören wir Horrormeldungen von Überschwemmungen und Murenabgängen in der Lombardei. „Den Passo Campo könnt ihr die nächsten zwei Tage vergessen“ – der Hotelwirt zerstört beim Abendessen unsere letzte Hoffnung. Ohne den Passo Campo wäre das Projekt Heckmair 2.0 gescheitert. Aussitzen oder abbrechen? Wir entscheiden uns für ersteres. Allerdings mit Verzicht auf den Tremalzo-Pass und die Ankunft am Gardasee. Das würde unterm Strich noch einmal einen ganzen Tag kosten – vor allem bei Claus’ Terminplan leider nicht möglich.
Zwei Tage später starten wir in aller Herrgottsfrüh. Das Wetter ist immer noch unbeständig, aber wenigstens scheint es trocken zu bleiben. Stumm radeln wir nebeneinander her. Jeder ist angespannt von dem, was uns erwarten mag. „Eine Tortur, die man sich besser sparen sollte“, das ist die Quintessenz der Berichte von Bikern über diesen Pass – mit dem klassischen Bike, nicht mit dem schweren E-MTB samt Reserve-Akku im Gepäck. In meinem Kopfkino läuft „Gescheitert am Passo Campo“, und weil das Schlappiner Joch vor drei Tagen nur ein Vorgeschmack auf dieses Monster sein soll, scheint das gar nicht so unwahrscheinlich.
Doch es kommt ganz anders. Der Passo Campo erweist sich als E-MTB-Abenteuer ganz nach unserem Geschmack. Den Einstieg bildet ein uralter Plattenweg durch einen wilden Märchenwald. Fahrbar ist der Trail für mich nur stellenweise, dafür komme ich dank meiner extrastarken Schiebehilfe zügig voran. Claus und Stefan spielen an den Schlüsselstellen, filmen sich dabei gegenseitig und loten die Grenzen des Fahrbaren aus. Wir durchqueren wilde Bäche, die vom vielen Regen bedrohlich angeschwollen sind und überkraxeln den einen oder anderen umgefallenen Baum. Über der Baumgrenze öffnet sich eine Hochebene, an deren Flanke der Weg – jetzt felsdurchsetzt und schmal – Richtung Süden zieht. Dunkle Wolkenfetzen umwabern die Passhöhe, auf die wir schließlich zusteuern. Hoffentlich bringen die keinen Regen oder Schlimmeres!
Und während mich das mulmige Gefühl von heute Morgen gerade wieder vereinnahmen will, höre ich über mir aufgeregtes Stimmengewirr. Ich biege um die letzte Felsnase vor der Passhöhe und traue meinen Augen nicht: Da stehen Uli Stanciu und seine Frau Giovanna mit einer Flasche Spumante. „Gratulation zu Eurer gelungenen Mission“ – der Transalp-Papst grinst über beide Ohren. Ausgerechnet er, der uns für verrückt erklärt hat, die Heckmair-Route mit dem E-MTB zu fahren, hat es sich nicht nehmen lassen, uns oben am Passo Campo zu erwarten. Dafür waren die beiden extra von Trento angereist und uns zu Fuß von der anderen Seite her entgegengelaufen. Nach dem großen Hallo leeren wir gemeinsam die Flasche und nehmen unsere letzte Abfahrt, oder besser gesagt: den Abstieg in Angriff. Denn der Einzige, der die hochalpine Geröllhalde hinab zum Lago di Bissino fahren kann, ist Stefan. Claus und ich schieben und fluchen. Das hätten wir allerdings mit dem Bio-Bike genauso getan.
Macht die Heckmair-Route mit dem E-MTB Sinn? Unsere Antwort ist ein klares Jein. Einerseits haben wir einige echte Trail-Pralinen kennen gelernt, die vor allem mit dem E-MTB Sinn machen. Dazu gehört sicher der Scalettapass von Davos ins Engadin, aber auch der berüchtigte Passo Campo. Fahrtechnik-Freaks finden hier einen Abenteuerspielplatz weitab von den Mainstream-Routen. Definitiv umfahren würden wir allerdings die Vorarlberger Gebirgsketten. Und das nicht nur wegen dem für Biker gesperrten Schlappiner Joch. Kaum lohnende Trails, dafür eine Menge Verbots-schilder – für uns verschwendete Zeit. Die Heckmair-Route in vier Tagen ist allerdings ein Gewaltakt, für den man eine Top-Fahrtechnik, gute Kondition, einen Reserve-Akku und ein Begleitfahrzeug braucht. Mit leicht veränderter Routenführung und einem Tag mehr Zeit wäre die Heckmair-Route auch autark ein lohnendes Projekt.