Andreas Kern
· 24.11.2023
Was haben Engadin und Tibet gemeinsam? Es gibt noch namenlose Gipfel. Und was unterscheidet das Engadin von Tibet? Im Engadin kann man auf einen namenlosen Gipfel hochradeln, ohne den Fuß vom Pedal nehmen zu müssen. Jedenfalls mit dem E-MTB. Gibt’s doch nicht? Doch!
Drei Sekunden, nachdem mir mein Freund Bene von dem No-Name-Berg hoch über Livigno erzählt hat, zoome ich schon die digitale Kompasskarte groß. Stimmt, namenlos, 2917 Meter hoch. Aber die Schweizer haben diesen Grenzgipfel zwischen Engadin und Livigno sicher nicht vergessen. Also schnell die Karte des Bundesamts für Landestopographie gezückt – doch auch hier: 2917 Meter hoch, kein Name. Also hat Bene Recht. Und ich einen Grund, mal wieder nach Livigno zu pilgern. Zu einem alten Bekannten, der wie zufällig den Weiterweg zum namenlosen Gipfel weist: zum Passo Chaschauna.
Dieser 2694 Meter hohe Grenzpass zwischen Engadin und Livigno hat mich anno 1992, bei meiner allerersten Alpenüberquerung, nämlich auf Heckmairs Spuren von Oberstdorf an den Gardasee, die letzten Körner gekostet. Und dann diese ultrasteile Militärpiste nach Livigno hinunter – der reinste Kamikaze-Flug. Regen und Cantileverbremsen waren eine selbstmörderische Kombi. Da lobe ich mir das dritte Jahrtausend! Heutzutage fliegt man mit dem E-MTB in keinem dreiviertel Stündchen vom Val Federia hoch zur hässlichen Militärbaracke, die sich Rifugio Cassana schimpft. Schnell weiter! Auf steilem, aber perfekt fahrbarem Trail kurbeln Bene, Tassilo und ich in zehn Minuten zum Passo Chaschauna – und ich traue meinen Augen kaum: Haben die Engadiner doch glatt den alten, sausteilen Saumpfad aus dem hintersten Val Chaschauna stillgelegt und dafür das reinste Serpentinen-Wunderwerk in die Westflanke des Piz Chaschanella gezaubert. Der namenlose Gipfelsturm muss noch warten – diese Kurven sehen nach Spaß aus, da müssen wir mal runter! Unten genehmigen wir uns eine Rast an der netten Alpe Chaschauna, dann zoomen wir uns auf gleichem Weg wieder zum Pass hinauf. Es lebe die lässige Arroganz des E-Mobilisten!
Jetzt aber zum Gipfel! Nirgendwo wird Livigno seinem Künstlernamen “Little Tibet” so gerecht wie hier oben. Ein Pfad, so breit wie eine Gebetsfähnchen lang, schmuggelt sich auf der Nordseite eines mächtigen Bergkamms gen Westen. Nach einer halben Stunde, die selbst mit Motor-Unterstützung ordentlich in den Beinen ziept, stehen wir am Gipfel. Die letzten 50 Höhenmeter suchte sich auf der Glatze jeder seinen eigenen Weg. Selbstredend gibt’s hier oben kein Gipfelkreuz, kein Gipfelbuch, kein Gipfelbier. Aber eine Aussicht zum Niederknien. Und die Abfahrt hinab ins altbekannte Val Federia? Die ist in der fast 3000 Meter hohen Mondlandschaft anfangs schwierig zu finden. Aber schon bald entdecken wir doch so etwas wie den Hauch einer Spur, die sich immer mehr zu einem grumpeligen Pfad mausert, der durchs Val da le Verón bis hinunter zur Cheséira Federia führt. Das bestandene No-Name-Abenteuer feiern wir auf der Terrasse der Käserei. Standesgemäß mit Bier und Käse. Einem selbstgemachten Käse natürlich!