Die Bergflanken gegenüber sind satt grün bis hoch zu den Kämmen. Oben halten sich die letzten Schneereste. Trotzdem werde ich die Assoziation zu Dubai nicht los.
Die GPS-Daten zu diesen Touren finden Sie unten im Download-Bereich:
Aus den getönten Fenstern der Seilbahn fällt der Blick unverstellt auf Ascona und Locarno. Es scheint, als zögerten die beiden Hauptorte am Schweizer Teil des Lago Maggiores ein wenig, den riesigen Schwemmlandkegel des Maggia-Flusses komplett in Beschlag zu nehmen. Schnurgerade, wie mit dem Lineal gezogen, zerteilt der Fluss sein eigenes Delta in zwei symmetrische Hälften. Zu beiden Seiten verlaufen die Gassen und Alleen von Ascona und Locarno halbkreisförmig wie Palmwedel in den tiefblauen Lago Maggiore. Das Palm Island der Schweiz. Anders als bei den künstlich ins Rote Meer gezimmerten Luxusresort-Inseln, geht hier aber alles mit natürlichen Dingen zu. Vor gut 10000 Jahren verwandelten abschmelzende Gletscher den Südrand der Alpen in eine alpine Seenlandschaft. Genauso lange schon befüllt der Maggia-Fluss beharrlich den Nordrand des Lago Maggiores mit Sand, und treibt dabei sein eigenes Delta immer weiter in den See hinein. Etwa ein-, zweitausend Jährchen noch, dann dürften Ascona und Locarno jeweils ihren eigenen See haben. Landgewinn frei Haus. Den Sommerfrische suchenden Scheichs dürfte das gefallen.
Nun gut, ohne je einen Blick auf die Immobilienpreise in diesem exklusiven Teil des Tessins geworfen zu haben, lasse ich die Grundstücke dort unten nicht meine Sorge sein. Zumal das Terrain beim Blick nach vorne schon eher meiner Kragenweite entspricht: Lautlos schwebt die Gondel über einen dichten Mischwald aus Kastanien-, Ahorn- und Buchenbäumen. Vereinzelt lugen auch üppige Palmenwedel aus dem Blätterdickicht. Der Waldboden ist von hier oben zwar nicht zu sehen, doch das Display meines GPS’ enthüllt einen wild gezackten Spitzkehren-Trail, der sich direkt neben der Seilbahnschneise seinen Weg ins Tal sucht.
Patric hat meinen Blick bemerkt und grinst. "Von der Cardada ziehen Trails in alle Richtungen nach unten", verrät er. "Die meisten sind fahrtechnisch ganz schön anspruchsvoll. Mit Gästen fahre ich diese Trails daher eher selten." Patric Käslin ist der Kopf der Bike-Schule Ticino Freeride. Seit gut fünf Jahren arbeitet er zusammen mit einer Handvoll Mitstreiter daran, den Lago Maggiore und seine Trails als lohnendes Bike-Reiseziel in den Köpfen der Community zu verankern. "In den letzten Jahren haben sich die Trails hier immer mehr herumgesprochen", erzählt Patric. "Während der Saison haben wir jetzt gut zu tun. Aber von einem Run kann noch keine Rede sein."
Ein kurzes Transferstück führt von der Bergstation der hypermodernen Seilbahn hinüber zum zuckelnden Sessellift, der mit seinen überdachten Panoramasitzen wie ein Relikt aus Großvaters Zeiten wirkt. Im Winter dreht sich auf Locarnos Hausberg Cardada ein kleines Skikarussell, dessen einziger Magnet wohl der gigantische Tiefblick über den Lago Maggiore darstellen dürfte. Schon das Alter des Sesselliftes lässt erahnen, dass der Skitourismus in diesen Breiten nicht zu den wichtigsten Einnahmequellen zählt. Im Sommer aber bietet der Lift Bikern leichten Zugang für eine ganze Reihe interessanter Trails. "Der Cardada-Trail war der erste offizielle Freeride-Trail am Lago Maggiore, genau richtig zum Warmfahren", kündigt Patric an. "Allerdings sind die Trails nicht für Mountainbiker reserviert. Es können also auch Fußgänger unterwegs sein."
Ab dem markanten Gipfelkreuz des Lo Stallones folgt der Trail zuerst einem breiteren Karrenweg. Hier und da sind kleine Tables eingebaut. Kurze Wurzelteppiche halten die Aufmerksamkeit hoch, kleinere Felsen animieren mitten im Weg zum Springen. Doch ab dem östlichen Grat der Cardada haben sich die Trail-Bauer richtig ausgetobt. Einer Anliegermurmelbahn gleich surft der Trail nach unten. Dabei wird der Untergrund bald wieder technischer, gröber und verlangt ein gutes Auge für die Linienwahl. Am Ende entspannt sich der Pfad wieder vor einer großen Panoramakulisse, bevor er sich oberhalb von Minusio seinen Weg zurück zur Talstation der Seilbahn sucht. Ein gelungener Einstand, keine Frage!
Für die Nachmittags-Tour nehmen wir im Shuttlebus Platz. Er kurvt mit uns nach Locarno und dann gleich den Anstieg zur Corona dei Pinci hinauf. Zwar halten sich die aus eigener Kraft bewältigten Höhenmeter bisher in Grenzen, doch unsere Mägen melden sich mit Hunger. Also parkt Patric den Bus auf halber Höhe der Bergstraße und führt uns über einen Pfad in den Wald. Nach fünf Minuten Fußmarsch erreichen wir einen typischen "Grotto", wie die Bergbauernhöfe hier heißen. Aus dicken Steinmauern erbaut und mit Schiefer gedeckt, duckt sich das Bauernhaus in den Hang. Die Sonnenterrasse bietet einen Blick zum Niederknien: auf den tief unten liegenden Lago Maggiore. Die nicht vorhandene Speisekarte präsentiert dazu Käse, Polenta, Hausmannskost – für die hart arbeitende Bergbevölkerung. Wer nach diesem Mahl schlau ist, nimmt das Bike und tritt ein paar Höhenmeter zur Verdauung bergauf. Ich entscheide mich für einen der Ohnmacht ähnlichen Powernap im Shuttlebus und komme erst am Trail-Einstieg wieder zu mir.
Als eigenständigen Berg kann man die Corona dei Pinci nur schwer bezeichnen. Der bewaldete Mugel ist viel mehr ein Gratausläufer des mächtigen Monte Limidarios, der das Seeufer um gut 2000 Meter überragt. Zum Tummelplatz für Biker wird der Mugel durch seine Erreichbarkeit über die Fahrstraße – und durch seine Trails, die sich von hier oben in alle Richtungen gen Tal schlängeln. Pascal schlägt den "offiziellen" Bike-Trail ein, der mit diversen Schleifen grob Richtung Norden führt. Der Trail verläuft komplett durch dichten Bergwald. Doch der Untergrund lässt ohnehin wenig Raum für Kontemplation. Wurzelteppiche, Steinplatten, enge Kehren wechseln sich ab mit herrlich flüssig zu fahrenden Abschnitten. Dann fordern wieder hohe Steinstufen die volle Konzentration auf diesem alten Köhlerweg. Ab der Kreuzung dem Dörfchen Arcegno tauchen wir ein in ein wahres Labyrinth aus Trails. Willkommen im Feierabendrundenrevier der einheimischen Enduro-Locals! Zurück an der Strandpromenade von Ascona fallen wir in unserer Freeride-Kluft sofort auf. In diesem doch eher gediegenen Ambiente gehören Bergab-Biker offenbar noch lange nicht zum Straßenbild. Aber vielleicht entdecke ich in meinem Garten ja eine Ölquelle, dann siedle ich mich hier an.
Ralf Glaser, BIKE Touren-Autor:
Von einem Mountainbike-Run kann am Lago Maggiore noch lange keine Rede sein. Doch die wichtigsten Zutaten dafür sind vorhanden: See, Shuttle, Seilbahn – und vor allem: jede Menge Natur-Trails!
REVIER-HIGHLIGHTS
In seiner Entwicklung zum Mountainbike-Revier steht der Lago Maggiore erst am Anfang. Im dortigen Tourismus setzt man auf Kultur und ein eher gediegenes Ambiente. Genau dieser Kontrast macht aber auch den Reiz bei einem Bike-Ausflug ins Tessin aus.
ALLGEMEINE INFOS
Das Revier
Der Kanton Tessin ist der südlichste Kanton der Schweiz und markiert gleichzeitig am Lago Maggiore den mit 193 Metern Höhe tiefsten Punkt des Landes. Amtssprache im Tessin ist das Italienische, die Einheimischen verständigen sich untereinander auf Italienisch oder Lombardisch. Zumindest mit dem Teil der Bevölkerung, der mit Tourismus zu tun hat, kann man sich aber auch auf Deutsch recht gut verständigen. Nach dem Gardasee ist der Lago Maggiore der zweitgrößte See am Südrand der Alpen. Er erstreckt sich über eine Länge von gut 65 Kilometern und erreicht im Süden die Ausläufer der Alpen vor der Po-Ebene. Gut 80 Prozent der Seefläche teilen sich die italienischen Provinzen Piemont und Lombardei. Lediglich der nördlichste Abschnitt des Sees gehört zur Schweiz. Dort liegen auch die Schweizer Hauptorte am See. Ascona und Locarno sind zum großen Teil auf dem Delta des Flusses Maggia erbaut und werden auch von diesem getrennt. Mit knapp 16000 Einwohnern ist Locarno der größere der beiden Orte.
Bike-Touren
Seit etwa zwei Jahren arbeitet man in der Region Ascona-Locarno daran, den Mountainbike-Tourismus zu stärken. Man steht also noch ein wenig am Anfang der Entwicklung. Aktuell sind lediglich drei Trails als offizielle Bike-Trails ausgewiesen und wurden entsprechend für das Biken optimiert. Die Berge rund um den See bergen natürlich noch weit mehr Potenzial und bieten viele interessante Trails. Da diese Wege aber nicht für das Biken optimiert wurden, ist der Schwierigkeitsgrad hier oft höher. Wer abseits der ausgewiesenen Strecken auf Trail-Tour gehen will, sollte den Schwierigkeitsgrad S2 recht souverän beherrschen, um wirklich Spaß zu haben. Wenige, von Fußgängern viel begangene Wege, sind fürs Biken explizit gesperrt. Wenn die selbstverständlichen Regeln des rücksichtsvollen Umgangs mit Wegen und anderen Freizeitnutzern beachtet werden, ist ein Befahren der anderen Trails rund um den See problemlos möglich.
Seilbahnen
Sowohl die Kabinenbahn Orselina-Cimetta, als auch der Sessellift Cimetta-Cardada transportieren problemlos Bikes. Die Lifte laufen im Sommerbetrieb von Anfang März bis Ende der ersten Novemberwoche. Infos zu Betriebszeiten und Preisen: www.cardada.ch
Bike-Schule
Die Schule Ticino Freeride von Guide Patric Käslin bietet im Sommer geführte Touren, Fahrtechniktrainings und einen Shuttle-Service an. Infos und Buchung im Netz unter: www.ticinofreeride.ch
Bikepark
Kein Bikepark im eigentlichen Sinne, aber eine sehr anspruchsvolle Downhill-Piste findet sich am nahen Monte Tamaro. Diese beginnt an der Mittelstation der Seilbahn und bietet zu Beginn einige Sprünge, um sich dann über einen Mix aus Waldboden, Wurzelpassagen und Rockgardens ihren Weg ins Tal zu suchen. Der Zustand der Strecke war über die letzten Jahre sehr wechselhaft, von sehr gut hergerichtet bis katastrophal. Die Seilbahn zum Monte Tamaro ist aber auch ein guter Ausgangspunkt zu Touren an diesem Berg. Infos: www.montetamaro.ch
Karten
• Supertrail-Maps "Ascona/Locarno e Valli", "Lugano" und "Mendrisio" jeweils 16,95 Euro (auch als App fürs Handy), www.supertrailmap.com
• Singletrail-Map 016 Ticino/Sotto Ceneri, 18,50 CHF (ca. 16,50 Euro), www.singletrailmap.ch
Beste Tourenzeit
Locarno gilt als wärmste Ortschaft der Schweiz. Hier wurde ein langjähriger Jahresmittelwert von 12,4 Grad Celsius gemessen – ein mediterranes Klima, in dem auch Palmen und Zitronenbäume gedeihen. Auf der anderen Seite macht sich natürlich auch der Hochgebirgseinfluss bemerkbar. Die Berge im unmittelbaren Umfeld von Locarno, etwa die Cima dell’Uomo, ragen auf knapp 2500 Meter hinauf. An Locarnos Hausberg, der 1670 Meter hohen Cimetta, ist es mit dem Schnee spätestens Mitte März vorbei. Da die interessanten Trails vor Ort aber in den oberen Lagen der Berge starten, beginnt die Bike-Saison daher meist Anfang April, geht dann aber bis weit in den November hinein. Die schönste Reisezeit ist der Herbst. Dann leuchten die weiten Laubwälder in allen Farbschattierungen.
SZENE SPECIALS
Tamaro Bike Trophy
Zweitägiges Mountainbike-Rennen, das meist Anfang April als Teil des Swiss Bike Cups jedes Jahr die Schweizer Cross-Country-Saison eröffnet. Der Termin für 2018 steht noch nicht fest. Infos: www.swissbikecup.ch
XC Monte Verità
Der Bikeclub Ascona MTB Expedition veranstaltet regelmäßig im Herbst ein Cross-Country-Rennen am Monte Verità, oberhalb von Locarno. Termin: 1. Oktober 2017, Details zum Rennen werden noch bekannt gegeben. Infos: www.mtbexpedition.ch
Monte Tamaro und Monte Lema
Auf der Ostseite des Lago Maggiores warten der Monte Tamaro (1961 m) und der Monte Lema (1621 m). Beide Gipfel bieten eine gigantische Rundumsicht, die bei klarem Wetter bis zum Monviso in den Westalpen reicht. Eine Seilbahn hilft jeweils bergauf (April bis Anfang November), und bergab warten jede Menge Bike-Trails in alle Himmelsrichtungen. Einige Trails wurden speziell für Biker angelegt, haben aber dennoch ihren alpinen Charakter behalten. Ein gewisses Maß an Fahrtechnik ist daher nötig, um hier Spaß zu haben.
Vollmond-Spaziergang
Am Monte Lema shuttelt die Seilbahn am 6.10.17 auch nachts auf den Gipfel. Bei Vollmond ist der Spaziergang auf dem Grat zwischen Lago Maggiore und Luganer See ein ganz spezielles Erlebnis.
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