Gitta Beimfohr
· 03.11.2023
Die Fourcross- und Downhill-erfahrene Steffi Marth blickt aus dem Gondelfenster und knetet dabei nervös ihre Handschuhe. Oben am Berg geht es gleich nicht auf eine der Bikepark-Strecken von Verbier, sondern rechts ins Outback. „Der Vertigo ist brutal“, entfährt es der Brandenburgerin, kurz bevor die Gondel ins Gipfelhäuschen der Les-Ruinettes-Seilbahn rumpelt. Und Steffi muss es wissen, denn sie ist öfter zum Trainieren in diesen Schweizer Bergen.
Den Start übernimmt ein recht harmloser, breiter Almweg. Drei Kilometer lang führt er Richtung Südosten, leicht ansteigend um die Bergflanke herum. Weg vom Bikepark, rein in die wilde Hochgebirgslandschaft mit Blick auf die Gletscher der gegenüberliegenden Talflanke. Doch irgendwann endet diese Spazierfahrt, es ist so weit: Rechts zweigt der Vertigo-Trail ab. Noch nicht steil, aber ruppig schneidet er den zur rechten Seite abfallenden Berghang. Eigentlich ein Bild von einem Trail – wenn die Felsblöcke nicht wären. Sie quetschen den Pfad immer wieder in ein enges Korsett. Man muss aufpassen, dass man mit Vorderrad und Pedal nicht hängen bleibt. Doch dort, wo aus dem kargen Boden die ersten Grashalme sprießen, nimmt der Pfad nun merklich Fahrt auf. Im fast schon feinsandigen Slalom kurvt er bald einen weiten Wiesenhang hinunter. Noch mal Gelegenheit, die Augen übers 180-Grad-Panorama schweifen zu lassen, sagt Steffi, denn mit den Bäumen werden gleich die ersten Schlüsselstellen auftauchen.
Und wirklich: Kaum wirft die erste Fichte ihren Schatten, rappelt es im Fahrwerk auch schon gewaltig. Steil, wurzelig und steinig fädelt der Pfad in den Wald ein – holt auf einem kurzen, flacheren Wiesenstück noch mal Luft – und setzt dann mit einer beherzten Rechtskurve zum Sinkflug an. Fast senkrecht kippt der Trail in den Wald hinunter. Eine 100-Meter-Rutsche auf haltlosem Sand, für die man erst mal Mut aufbringen muss. Oder man schiebt und trippelt seitwärts bergab. Dabei bricht auch Steffi kein Zacken aus der Krone. Doch dahinter wird schnell klar: Der Trail gibt in Sachen Steilheit nicht viel nach. 1100 Tiefenmeter auf nur knapp drei Kilometern Strecke – wer die nicht komplett schieben will, wird sich mit dem Gefälle nun anfreunden müssen.
Steilkehre um Steilkehre stiert der Pfad eine Waldschlucht hinunter. Staub wirbelt auf. In jeder Kehre gräbt sich das Vorderrad zwar tief in den weichen Untergrund, krallt sich dort aber überraschend gut fest. Das macht das Umsetzen des Hinterrades fast zum Kinderspiel. Zumal man bei dem Gefälle nicht mehr viel Kraft zum Heckanheben braucht. Hat man den Rhythmus erst gefunden und die Steilheit ein wenig ausgeblendet, fühlt sich der Trail nun im Licht-Schatten-Geflackere der lichter stehenden Bäume tatsächlich nach Achterbahn an.
Schwindelgefühle stellen sich erst wieder ein, als der Pfad weit unten aus dem Wald hinausschießt und sich nun an einem nach links steil abfallenden Hang festklammert. Kurze Querung, dann setzt der Pfad auch hier in engsten Kurvenradien zum Sinkflug an. Eine Abschlussdramaturgie, an der auch ein Alfred Hitchcock große Freude gehabt hätte. Aber was heißt Abschluss, die Abfahrt ist mit dem Erreichen der Talstraße ja noch nicht zu Ende. Auf dem Tal-Hinausroller zurück nach Le Châble warten noch ein paar nette Trail-Verbindungen zwischen den Dörfern. Der Abspann sozusagen für einen wirklich außergewöhnlichen Bike-Krimi.
Der Vertigo-Trail gehört zu den steilsten Abfahrts-Trails der Alpen. Hinterradversetzen gehört in den meist steilabfallenden Spitzkehren zur fahrtechnischen Grundausstattung. Immerhin: In den anspruchsvollsten Abschnitten besteht keine Absturzgefahr, weil der Trail im Wald und nicht an der Hangkante entlang führt. Wer sich beherzt dem Gefälle stellt, wird aber schnell feststellen, dass der sandige, im Sommer oft sehr staubige Untergrund überraschend guten Grip bietet.
Startpunkt: Die Tour startet an der Talstation der Seilbahn Les Ruinettes in Verbier. Die Bahn hat von Mitte Juni bis Ende Oktober geöffnet.
Auf der Rückfahrt kann man von Le Châble nach Verbier ebenfalls den Lift nutzen (Mitte Juni bis Ende Oktober)
Bikeshop: Backside bietet eine gute Werkstatt, Ersatzteile und Leihbikes, www.backsideverbier.ch
Bikepark Verbier: Der Bikepark 9 Abfahrtsstrecken mit insgesamt 19 Kilometern Spielraum. Dazu warten 18 Endurostrecken von 178 Kilometern Länge. Info: www.verbierbikepark.ch
Events: Das Grand Rais BCVS (ehem. Grand Raid Cristalp) gehörte schon immer zu den ganz großen Marathon-Events für Mountainbiker. Inzwischen stehen hier auch Kinder, Teams und E-MTB am Start. Nächster Termin: 23.-24.8.24
Einkehr-Tipps: In Verbier gibt es einige gute Restaurants . Die beste Raclette-Adresse ist Le Caveau, www.theplacetobe.ch
Pizza bis spät abends gibt es im Chez Martin, www.chezmartin.ch
Etwas außerhalb, aber sehr urig und ausgesprochen lecker: La Marmotte, www.lamarmotte-verbier.com
Allgemeine Infos unter: www.verbier.ch
Die Freeriderin Steffi Marth aus dem ehemaligen Team der Trek Gravity Girls kennt die Challenge der Verbier-Locals: Wer den Vertigo-Trail ohne Absteigen schafft, gehört zur Elite, heißt es. Die Brandenburgerin selbst war mehrmals knapp davor, will aber definitiv noch mal hin.