Mathias Marschner
· 29.09.2024
Der Idrosee liegt fast genau in der Mitte der wunderschönen Lombardei, und doch finden wir uns hier gerade in einem fast vergessenen Landstrich Italiens wieder. “Ich würde sagen - das war, was die Frequenz an Menschen auf dieser Route angeht, in etwa Durchschnitt”.
Florian, der eine der beiden Brüder, die uns dieser Tage “ihren Lago” zeigen, lächelt aus stahlblauen Augen unter den langen Haaren hervor. Es ist Ende September. Im touristischen Sinne Nachsaison. Für uns: Das Beste, was der Herbst zu bieten hat. Die Tage lang genug, die Temperaturen unten mild bis warm, oben immer noch perfekt. Die Landschaft frühherbstlich, das Licht so golden wie es eben nur der Herbst kann.
Zwei Tage sind wir nun bereits mit den E-Mountainbikes am Idrosee unterwegs. Auf Florians Seite. Die beiden Brüder haben sich den See aufgeteilt, “EastSide” und “WestSide” nennen wir sie bereits. Florian residiert, wenn er hier ist, am Ostufer. Stefan hat ein Grundstück an der Westküste. Seit Kindesbeinen sind die Innsbrucker hier, die Eltern führen seit Jahrzehnten eine Surfschule.
So verschieden, wie die beiden Brüder sind, wirken auf uns auch die Tage hier am Idrosee. Hügelketten, vergessene Dörfer und Almen, weiter nördlich hochalpines Biken auf über 2000 Meter Höhe mit Blicken auf die Gletscher des Adamello, und zum fulminanten Finale filigrane Felsnadeln, die an die Dolomiten erinnern. Dazu erfrischende Zeitreisenmomente, weil hier nicht alles und jeder hinter den allerneuesten Entwicklungen herhechtet.
Durchschnitt also. Und was für einer. Keinen einzigen Biker, ja überhaupt keinen Menschen haben wir in diesen beiden Tagen auf den Trails getroffen. Hier fühle ich mich wohl, denke ich, und verspreche mir, diese Geschichte nicht mit dem oft genutzten Vergleich zum angeblichen großen Bruder dieses Sees zu beginnen. Denn - es ist eh alles ganz anders hier.
Es geht los am Südende des Sees. Nach einem ersten entspannten Aufstieg stehen wir mit offenem Mund vor einem wahren Ungetüm an Bunkeranlage. Das Ex Forte Valledrane wurde 1912 – 1915 als Teil des italienischen Verteidigungssystem “Sbarramento Giudicarie” erbaut - 500 Höhenmeter über dem Idrosee als schwer überwindbare Sperre für alles, was da von Norden kommen möge.
Man hatte Angriffe der österreichischen Kräfte erwartet, doch diese fanden nie statt. Die Front verlagerte sich vielmehr ein gutes Stück nach Norden und so stand Valledrane buchstäblich am falschen Platz. Nach dem Krieg wurden Teile der Anlage in das “Sanatorio infantile di Valledrane”, ein Kindersanatorium, umgewandelt und bekamen somit die Aufgabe zu heilen, statt zu töten.
Es sind Geschichten wie diese, die wir auf unserem Gran Giro del Idro jeden Tag zu sehen, spüren, fühlen bekommen. Stefan ist unser bikendes Geschichtsbuch, der studierte Geograph Florian weiß die kulturellen und geologischen Dinge dazu zu erzählen.
Wir erklimmen den Monte Manos, den ersten Gipfel unserer Tour. Einer dieser Kreuzträger, die allein stehen und einem 360-Grad-Blicke freigeben. Von hier können wir die gesamte Tour erspähen, während die herbstliche Sonne wärmt und der erste Tour-Caffè schmeckt. Florian deutet auf den markanten Monte Pizzocolo im Süden, das Südende des Gardasees mit der Halbinsel Sirmione. Blicke schweifen über die Brenta-Dolomiten ins Valle delle Chiese und die Region rund um den Passo Croce Domini, wo die Traversata del Orrizonte auf uns wartet, auf die ich mich ganz besonders freue.
Jetzt aber: Konzentration hochfahren! Auf der Rückseite des Manos mäandert ein handbreiter Gratweg durch die Bergflanke, garniert mit Spitzkehren und hohen Steinstufen. Wer sich hier nicht absolut wohlfühlt, schiebt. Oder besser noch: Rollt den letzten Teil des alten Militärpfades wieder hinunter und umrundet den Manos. Bis Capovalle wird man ohnehin noch mit ausreichend Trailnuggets versorgt. Wir tauchen jetzt in einen lichten Wald ein und lassen uns von vielen Kehren, Kurven, Wellen ins Tal tragen.
Nachmittags führt uns unser Weg mitten hinein ins Valvestino. Landwirtschaft und ein wenig Handwerk hat die Menschen hier über die Jahrhunderte ernährt. Mittlerweile holt sich der Wald weite Teile des Agrarlandes zurück, etwa in dem Maße wie die Menschen ihre Dörfer verlassen haben. Diejenigen aber, die geblieben sind, sind stolz, hier zu sein.
Wir sitzen vor der Antica Osteria Pace in Persone, unserem ersten Etappenort. Friedlich wie der Name unserer Osteria wirkt es hier. Und gastfreundlich, wie es gastfreundlicher nicht sein kann. Kalorienreich sowieso. Hausgemachte Ravioli. Mit Bergkäse überbackene Polenta. Hirsch und Wildschweingulasch. Natürlich Strudel und eine Salami di Cioccolato. Dazu ein Wirt, der sich mit der Flasche Wein zu uns gesellt. Und Mama, die aus der Geschichte des Tals erzählt.
“Ganz früher war die Bevölkerung hier österreichisch, und da ist etwas geblieben,” erzählt sie. Irgendwie kümmert sich ohnehin niemand um diese Dörfer. Für Rom sind sie unbedeutend und weit weg. Vor knapp 15 Jahren entschied die Bevölkerung in einem Referendum, dass sie der autonomen Region Trentino Alto Adige zugesprochen werden wolle. Ein Unding natürlich. Und doch stimmte Rom irgendwann zu. Kurz danach kam es zu einem der vielen Regierungswechsel und die Sache lag wieder auf Eis. Und so fährt der Bürgermeister des Valvestino in regelmäßigen Abständen nach Rom, um dort die Dinge voranzutreiben. Ich denke an Don Camillo und Peppone.
Der nächste Tag. Wir kurbeln gen Norden und vor allem hinauf. Die zweite Etappe ist die abwechslungsreichste der ganzen Rundtour, hat uns Florian versprochen, sowohl fahrtechnisch wie auch landschaftlich und kulturell. Vom wilden Valvestino über steile Militärschottersträßchen auf die alpine Bocca di Cablone, über fordernde Wald-Trails ins romantischen Bondone, am gemütlichen Uferweg ein bisschen Seeluft schnuppern und schließlich mit Uphill-Flowtrails ins kulturelle Highlight Bagolino, so unser Plan für heute.
Erwachsene 1600 Höhenmeter werden wir dabei aufsammeln und wohl den Akku bei einer Rast ein wenig zwischenladen. Immer näher kommen wir dem ehemaligen Grenzverlauf. Die Gegend wirkt so einsam, dass ohne Krieg wohl niemand die Idee gehabt hätte, hier auch nur einen Weg oder gar eine Straße zu bauen. Umso imposanter ist es, durch jahrhundertealte Kiefern und imposante Klippen zu kurven. In Bondone war ich das letzte Mal vor sicher fast 20 Jahren. Verändert hat sich nicht allzu viel und das ist gut so. Voller Eindrücke laufen wir abends im quirligen Bagolino ein.
Achtsam sein mit Akku und Atem heißt es heute. Der Weg, der ein Highlight dieser Tour zu werden verspricht, verläuft in stetem Bergauf und Bergab auf dem ehemaligen Grenzkamm nach Norden. Mal auf der italienischen, mal auf der alt-österreichischen Seite. Er tut dies auf über 2000 Metern Seehöhe, und da müssen wir erst einmal hinauf. Eco-Modus also. Oder die Gewissheit, dass das Schwere am Rücken der Zweit-Akku ist.
Wieder waren es militärische Überlegungen, die diese Wege entstehen ließen, aufgemauert für die Ewigkeit. “Im Prinzip alles fahrbar” - Uphill-Skills vorausgesetzt. Klassisches E-MTB-Terrain. Spätestens wenn die Bergseen der “Laghetti di Bruffione” zur Talseite ins Blickfeld geraten, weißt man wieder: So in etwa fühlt sich der Biker-Himmel an.
Während der anschließenden Abfahrt erreichen wir die Malga Bruffione, eine von nur gut 20 Almen, die den Bagoss herstellen dürfen. Der Bagoss ist der hiesige DOC Käse, und auf diesen ist man stolz. Die Einwohner von Bagolino - die Bagossi - kamen einst durch ihre Verbindung zu Venedig an das gelbe Gold, den Safran.
Und so wird die Milch des Bagòss mit ein wenig Safran versehen, der dem Käse seine starke, gelbe Farbe verleiht. Ein bis zwei Mal die Woche wird er gestreichelt und gewendet. Und reift in Ruhe. Mit jedem Jahr der Lagerung wird er würziger. Eine ordentliche Bombe ist er am Ende, rau wie die Landschaft hier, hergestellt wie vor Hundert Jahren.
Letzter Tag. Wir spüren, dass die drei Etappen bereits Tribut fordern. Auf dem Papier erwartet uns heute noch einmal ein ordentliches Pfund: 60 Kilometer werden noch zusammen bis zum Idrosee. Vor allem noch einmal sportliche 1450 Höhenmeter und 2600 Tiefenmeter.
Ab dem Passo Croce Domini erwartet uns ein ähnlicher Panorama-Superlativ wie tags zuvor, kilometerweit entlang glitzernder Bergseen auf über 2000 Meter Höhe, mit dem großen Unterschied, dass wir heute auf einfacherem Untergrund dahinfliegen dürfen. Den Einstieg in die „Dolomiten“ markiert das Bivacco Tita Secchi, das einem Freiheitskämpfer im Zweiten Weltkrieg gewidmet ist. Mit dessen Geschichte im Kopf und einer dramatischen Szenerie vor dem Lenker tasten wir uns die ersten paar Hundert Meter steilen und losen Trail-Einstiegs hinunter. Noch einmal ist Konzentration gefordert - der Pfad ist direkt in die Felsflanken gehauen und bietet fast senkrechte Tiefblicke. Also besser stehenbleiben und schauen, dann weiterfahren. Als sich die Sonne einmal mehr durch den Nebel bohrt, können wir noch einmal den Gardasee erahnen.
Es ist Nachmittag. Die letzten Tiefenmeter rumpeln wir über eine landestypische Mulatiera ins Tal und rollen voller Eindrücke in Richtung Idrosee. Am Ende wartet ein Sprung hinein ins kühle Nass. Vier Tage liegen hinter uns, angefüllt mit Eindrücken, wie es nur Mehrtagestouren in vielfältiger Landschaft gelingt. Am Ende waren es sieben Wanderer, die wir trafen. Und kein einziger Mountainbiker. Durchschnitt eben.
Der Idrosee liegt auf 368 Metern Höhe in den Judikarien, westlich des Gardasees, gerade mal 45 Autominuten von Riva del Garda entfernt. Auch hier ragen die Berge über die 2000-Meter-Marke hinaus und sind von alten Militärpfaden durchzogen. Mit dem Unterschied, dass man die Trails in dieser entlegenen Region noch für sich alleine hat.
Allerdings sollte man für den viertägigen Grande Giro del Idro gute Kondition und Fahrtechnik mitbringen. Insgesamt misst die Tour 164 Kilometer und sammelt dabei knapp 6500 Höhenmeter. Fahrtechnisch anspruchsvoll sind die teils ruppigen und von hohem Gras eingewachsenen Pfade, die ans Hochgebirge erinnern.
Auch bergauf gilt es, Rampen zu überwinden, die Bike-Beherrschung erfordern. Doch genau die machen mit E-Antrieb besonders viel Spaß. Die wenigen sehr verblockten Abschnitte lassen sich schieben oder auf leichter Strecke umfahren. Besonders charmant: die urigen Einkehrstationen!
Gesamt-Länge: 164 Kilometer / 6500 Höhenmeter
Die Route: Nach erstem Anstieg lohnt ein Abstecher zum Ex-Forte Valledrane, dann auf kurzem Trail zurück zur Hauptroute und weiter zum Rifugio Cavallino della Fobbia (Akku-Lademöglichkeit). Gute Fahrer nehmen anschließend den Militärpfad zum Gipfel des Aussichtsbergs Monte Manos (1515 m) und entscheiden dort, ob sie über den steilen und ausgesetzten Trail (S3) nach Osten abfahren. Leichtere Alternative: auf der Aufstiegsroute zurück und den Manos auf der Südseite umrunden. Achtung: Die meist flüssige Waldachterbahn nach Capovalle birgt einige hakeligen Überraschungen. Von Capovalle geht’s weiter in die Einsamkeit des Valvestino. Vor Moerna links noch mal 100 Höhenmeter bergauf, um bald rechter Hand in den flüssigen „Percorso Storico“ zu steuern, der zum Zielort Persone führt.
Übernachten: In Persone: Antica Osteria Pace - hier werden bei überragender Herzlichkeit Polenta mit Wildschwein, hausgemachte Teigtaschen und jede Menge andere Leckereien serviert.
Die Route: Ein Feuerwerk an Eindrücken! Es geht steil bergauf durchs Valle dell’Armarolo bis zur Almlandschaft Denai hinauf. Steil geht es auch hinauf zur Bocca di Caplone und damit direkt auf die Frontlinie des Ersten Weltkriegs (zahlreiche Schützengräben). Die folgende Abfahrt ist ein bunter Mix - auf einen breiten Militärpfad folgt der anspruchsvolle Sentiero Antonioli (S2 – S3) nach Bondone (Pause, Lademöglichkeit). Direkt unter Bondone wartet ein weiterer ausgewaschener Trail (S2 - S3), der zum See hinunter führt (alternativ: Straße). Doch südlich von San Antonio geht’s noch mal hoch, bis kurz vor das quirlige Örtchen Bagolino.
Übernachten: Albergo Al Tempo Perduto in Bagolino, altempoperduto.it
“Zur verlorenen Zeit” heißt diese Unterkunft übersetzt, “in vergangene Zeit“ wäre noch treffender. Einfache sympathische Zimmer und kulinarisch das Beste aus dem „Bagòss“, dem Käsestolz dieses Tals.
Die Route: Der Morgen beginnt mit einem langen Anstieg von über 1000 Höhenmetern auf einspuriger Asphaltstraße (Lademöglichkeit bei Bauernhöfen, keine Gastronomie am Weg). Ab jetzt folgt man der alten Militärstraße Richtung Norden, die irgendwann teils alles an Uphill-Skills fordernd den Passo delle Cornelle erreicht. Von hier im steten Auf und Ab immer dem Horizont entgegen. Vorbei an den Laghetti di Bruffione zur Selbstversorgerhütte am Passo di Bruffione (Pause mit Ausblick). Die Abfahrt beginnt auf einem abschnittsweise recht holprigen Trail. Wer es einfacher möchte, kann aber auf der breiteren Militärstraße bleiben. An der Malga Bruffione unbedingt den Bagòss verkosten. Der weitere Weg nach Gaver verläuft entweder wieder auf der breiteren Militärstraße oder für Fahrtechniker auf dem Sentiero 413 sehr technisch (S3) ins Tal.
Übernachten: Locanda Gaver, locandagaver.it
Einfache Zimmer, herrliche Lage und wieder ein einfaches und umso geschmackvolles „Bergleressen“ der Region.
Die Route: Die heutigen Höhenmeter führen zum Passo Croci Domini (an Wochenenden viel befahren). Es folgt eine lange Panorama-Traverse auf Asphalt- und Schotterwegen zum Passo Maniva hinauf (Kaffeepause / Lademöglichkeit). Volle Konzentration fordert der am Bivacco Tita Secchi beginnende Trail, der sich teils ausgesetzt und teils wild bergauf und bergab durch die zerklüfteten Bergmassive schlängelt. Hinter dem Monte Ario zweigt ein flüssiger Wald-Trail (S1) ab, der kurz vor dem Örtchen Avenone wieder in Schotter mündet. Dann rumpelt noch eine letzte Mulatiera ins Tal Richtung Vestone (Kaffee?), bevor es über Trails zurück an den Idrosee geht. Nur die letzten Meter rollt man wieder auf der Straße zurück zum Ausgangspunkt.
Übernachten: Wie auch bereits am Anreisetag vor der Tour:
B&B Fiore in Lemprato, bbfiore-idro.com
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Die Idrosee-Umrundung ist eine 4-Etappentour für gut fortgeschrittene (E-)Mountainbiker. Das fahrtechnische Level ist dabei durchaus anspruchsvoll. Bei 1400-1800 Höhenmetern am Tag insgesamt 165 Kilometern sollte man auch ausreichend Kondition mitbringen. Es gibt aber auch Möglichkeiten, sich den ein oder anderen Uphill shutteln zu lassen. Das dürfte vor allem für Biker ohne Motor interessant sein.
Guiding / geführte Tour:
Diese Reise ins einsame Idrosee-Hinterland, geführt von und mit Florian und Stefan inklusive Logistik, Unterkünften und Verpflegung, gibt es buchbar bei trailxperience.com
Shuttle / geführte Tagestouren:
guideandride.at
Bikeshop mit Verleih in Idro:
lakeidro.com