Kinder wollen ans Meer, Eltern auch – aber etwas Kultur, Sport und Erholung abseits touristischer Hotspots würden uns auch gefallen. Was viele Familien in langen Diskussionen erörtern, lösen wir ganz pragmatisch. Wir packen die E-Bikes samt Anhänger auf den Camper, bestücken den Stauraum mit Strandspielzeug und steuern eine Küstenregion oder Insel in Südeuropa an.
Diesmal fällt unsere Wahl auf Sardinien. Viele Radreiseveranstalter haben die zweitgrößte Insel des Mittelmeers im Portfolio und bieten mehrtägige, organisierte Gruppen- oder Individualtouren von Ort zu Ort an.
Da unser Wohnmobil als Basis dient, sind wir jedoch auf der Suche nach schönen Standorttouren, die wir mit unserer Tochter auf dem Mitläufer fahren können. Nachdem die Fährüberfahrt gebucht ist, bleiben uns noch ganze drei Monate für ausführliche Recherchen in topografischen Karten, Reiseführern und auf Google Earth. Wir erarbeiten uns fünf Touren, die wir gut verteilt während unserer geplanten Reiseroute auf der Nord- und Westseite in Angriff nehmen wollen.
3000 Jahre wurden die Sarden fremdbestimmt. Die Insel wurde überfallen, belagert, erobert und annektiert. Aber immer haben sich die Bewohner gegen die fremden Herrscher aufgelehnt und erhoben. Erst 1948 bekam Sardinien als autonome Region Italiens einen Sonderstatus. Die aufgrund ihrer Geschichte so stolzen, aber gelassenen Sarden kämpfen auch heute noch weiter: gegen eine moderne Form der Belagerung – die baulichen Ausuferungen des Tourismus.
1989 hat das Regionalparlament ein Gesetz zur Eindämmung des touristischen Ausbaus erlassen. Wo andernorts Bettenburgen und Freizeitanlagen die Sicht aufs Meer versperren, finden sich auf Sardinien noch kilometerlange, einsame Küstenabschnitte. Nur die vielen beeindruckenden Sarazenentürme, die strategisch an die Küsten gebaut wurden, fallen überall ins Auge.
Die wunderschöne, aber touristisch stark erschlossene Costa Smeralda im Nordosten lassen wir bereits am ersten Urlaubstag hinter uns. Zum Akklimatisieren stellen wir unser rollendes Zuhause in Aussichtslage über dem Meer auf den Campingplatz des Centro Vacanze Isuledda im kleinen Golfo di Arzachena.
Bereits die erste Tour, die wir bei Isuledda starten, erfüllt alle unsere Erwartungen vom Radfahren auf Sardinien: entspannte Besuche der Nuraghen Albucciu und La Prisgiona bei Arzachena, mittags sardische Köstlichkeiten in einem kleinen Ristoro, eine Panoramafahrt durch die Granitfelsen der Gallura mit Blicken auf die Insel Maddalena und hinüber nach Korsika. Zum Abschluss unserer Tour radeln wir an kleinen Sandbuchten vor klarem, azurblauem Wasser entlang.
Die hübschen Gassen der Altstadt von Alghero laden zum Bummeln ein. Der ein oder andere Souvenirshop wird uns dann doch zu viel, und wir sind die ersten Gäste im Ristorante Miques de Mirall auf der historischen Stadtmauer, wo neben sardischen auch katalanische Spezialitäten serviert werden. Die katalanische Mundart der Stadtbewohner rührt daher, dass die exponiert an der Westküste gelegene Stadt lange Zeit von Aragonien regiert und besiedelt wurde. Die breite Stadtmauer wird zur abendlichen Flaniermeile, Einheimische mischen sich mit Touristen und Liebespärchen; die romantischen Sonnenuntergänge sind legendär.
Nördlich von Alghero erstrecken sich auf einer Landzunge der Naturschutzpark Porto Conte und das Meeresschutzgebiet von Capo Caccia. Über Sandpisten arbeiten wir uns mit den E-Bikes durch Pinienwälder zu einigen der vielen Aussichtspunkte auf den Klippen. Wieder auf Asphalt, aber mit genauso schöner Aussicht, führt uns der zweite Teil der Tour entlang des Naturhafens Porto Conte zum südlichsten Punkt der Landzunge, dem Capo Caccia.
In der Nachmittagshitze steigen wir 654 spektakulär in die Steilküste gehauene Stufen zur Grotta di Nettuno hinunter. Sie zählt zu den schönsten Tropfsteinhöhlen des Mittelmeers. Trotz einer Führung durch die ganzjährig zehn Grad kühle Höhle ist man nach dem Wiederaufstieg über die Escala del Cabriol total verschwitzt. Zum Glück erwarten uns traumhafte Badebuchten auf der Rückfahrt.
>> Übrigens: In den sardischen Bergdörfern leben die meisten Hundertjährigen Europas. Die Universität von Sassari fand heraus: Alt werden jene, die hart arbeiten, dünn, zufrieden und gläubig sind. Zumindest drei der Argumente sprechen also für ausgedehnte Fahrradtouren über die Insel.
Obgleich Inselbewohner, sind die Sarden keine Seeleute, sondern Bauern und Hirten. Da „übers Wasser nichts Gutes kam“, besiedelten die Bewohner das Landesinnere. Auch wir wollen nach ein paar Strandtagen die Bergwelt erkunden und machen uns auf den Weg zu einem einzigartigen Naturreservat. Wie ein Tafelberg erhebt sich die Giara di Gesturi über die Landschaft der Marmilla. Nach einer steilen Auffahrt radeln wir über das unbesiedelte Basaltplateau durch Korkeichenwälder und beobachten die kleinen Wildpferde, die an den „Pauli“ genannten Sümpfen grasen.
Nachdem die weltweit einzigartige Pferderasse Is Quadeddus fast schon vom Aussterben bedroht war, wurden die Besitzer der Pferde – Bauern der umliegenden Dörfer – finanziell unterstützt. Später kaufte das Reservat die Herden, die seitdem wieder auf 600 Tiere anwachsen konnten.
Nach der Abfahrt vom Plateau besichtigen wir die Nuraghe Su Nuraxi. Der größte freigelegte Nuraghen-Komplex der Insel ist seit 1997 UNESCO-Weltkulturerbe. Durch engste Gänge über Steiltreppen gelangen die Besucher ins Innere der Festungsanlage. Was bei manchem Klaustrophobie hervorrufen mag, empfindet unsere Tochter als lustiges Abenteuer.
Europas höchste Dünen und die feinsandigen Strände der Costa Verde, die ihren Namen von der Farbe des hiesigen Meeres hat, sind berühmt. Weniger bekannt ist, dass an der wilden Westküste ab Mitte des 19. Jahrhunderts an vielen Orten unter unmenschlichen Bedingungen Zink, Blei und Silber abgebaut wurden. Immerhin wurde im Küstenort Buggerru der erste Generalstreik Italiens ausgerufen. Nur über Pisten erreicht man mitten in der Dünenlandschaft an der Mündung des kleinen Rio Piscinas Sardiniens abgeschiedenstes Hotel sowie zwei Strandhütten, die im Sommer viele Badegäste versorgen.
Im Herbst verirren sich nur noch wenige Urlauber hierher. Eine Gruppe Franzosen nutzt die Sandpisten als Spielwiese für ihre Geländewagen. Wir starten mit unseren Zweirädern zu einer ausgedehnten Rundtour über das Minendorf Ingurtosu und fahren auf Holperstraßen – vorbei an Förderruinen und Abraumhalden – zum Zentrum der ehemaligen Bergbauindustrie nach Montevecchio. Der morbide Charme lässt erahnen, wie der Bergbau die Region ein Jahrhundert lang geprägt hat.
Nach einer langen Abfahrt begegnen wir auf den letzten Kilometern wieder den Franzosen, und an einer Bachfurt müssen wir unsere Tour eine Weile unterbrechen, weil eine große Filmcrew gerade eine Szene dreht. Ganz so einsam ist der „Wilde Westen“ Sardiniens dann doch nicht.
Wer mit dem Auto oder Camper anreist, hat die Wahl zwischen mehreren Fährhäfen in Italien und Südfrankreich. Am schnellsten erreichen lassen sich aus Deutschland die Häfen von Genua und Livorno an der italienischen Riviera. Mehrere Fährgesellschaften bieten Überfahrten zu den sardischen Häfen Olbia, Golfo Aranci, Porto Torres, Arbatax und Cagliari an. Es empfiehlt sich, früh zu buchen.
Wir reisten komfortabel mit Corsica Ferries – Sardinia Ferries
(www.corsica-ferries.de)
Tipp: Nachtfahrt buchen! Man verliert keinen Urlaubstag und hat einen langen ersten Tag auf der Insel, um einen schönen Standort für die erste Zeit zu finden.
Einen guten Eindruck der Nuraghenkultur bekommt, wer die Nuraghe La Prisgiona bei Arzachena und die Nuraghe Su Nuraxi bei Barumini besucht; die Altstadt von Alghero mit ihrer imposanten Stadtmauer und den historischen Gassen; Costa Verde mit den Dünenlandschaften bei Torre dei Corsari und Piscinas; die wilden Pferde auf der Giara di Gesturi.
Von einfachen bis luxuriösen Campingplätzen hat Sardinien alles zu bieten. Außerdem findet man viele schön gelegene Stellplätze, auf denen man gegen eine geringe Gebühr übernachten kann. Meist mit Dusche, WC und Frischwasser. Manche dieser Plätze liegen direkt an Traumstränden oder -buchten. Besonders schön: in Buggeru, Cala Domestica und in der Bucht des aufgelassenen Bergbaudorfes Masua. Reisende ohne Wohnmobil finden außerhalb der Hauptsaison Unterkünfte in allen Preiskategorien.
Die besten Monate für aktiven Urlaub sind April bis Juni und Oktober. Mit schulpflichtigen Kindern also Oster-, Pfingst- und Herbstferien.
Juli und August sind zum Radfahren zu heiß. Im April und Oktober sind allerdings einige Unterkünfte und Campingplätze geschlossen.
>> Sardinien Mobile Touring Highlights – unterwegs auf den schönsten Reiserouten, www.rau-verlag.de, 18,90 Euro.
>> Baedeker Sardinien, inkl. Straßenkarte 1:200.000, www.baedeker.com, 22,99 Euro.
>> park4night, kostenlose App zum Auffinden geeigneter Übernachtungsplätze mit dem Wohnmobil.
Die Bezahlversion für 1,99 Euro Monatsabo oder 9,99 Euro Jahresabo lässt sich auch offline nutzen.
Genussrunde um die Stadt Arzachena mit Besuch der Nuraghen Albucciu und La Prisgiona und des Gigantengrabes Coddu Vecchiu sowie Fahrt entlang des Golfo di Arzachena mit Bademöglichkeiten an kleinen Stränden.
Auf Pisten zu den Traumbuchten beim Torre del Porticciolo und Aussichtsfahrt zum Leuchtturm von Capo Caccia mit Abstieg über 654 Felsenstufen hinunter zur Grotta di Nettuno.
Korkeichenwälder, Zistrosen, Wassertümpel und wilde Pferde – Rundtour über die Hochebene Giara di Gesturi und Besichtigung der eindrucksvollen Nuraghe di Barumini Su Nuraxi.
Eindrucksvolle Runde von den Dünen bei Piscinas an der wilden Costa Verde zu den aufgelassenen Bergwerks-Siedlungen von Ingurtosu und Montevecchio.
Einsame Schleife auf Asphalt und Schotter zu kleinen Buchten auf der Halbinsel Sant’Antioco.