In einer großen Kehre windet sich die Hauptstraße von Nago herunter nach Torbole. Fast jeder, der mal am Gardasee war ist hier vorbeigekommen. Was nur die wenigsten wissen: Direkt am zypressengesäumten Parkplatz mit der schönen Aussicht beginnt ein legendärer Trail, der einst Schauplatz eines der ersten Enduro-Rennens in Europa war.
Nur gut 250 Meter ist er lang, der Trail an den "Marmitte dei Giganti". S4 vermelden handelsübliche Singletrail-Karten heute. 2007, beim Start des ersten Rennens galt der Trail als fast unfahrbar. Trotzdem versuchten es einige Wagemutige. Die Idee: Eine Abfahrt auf Zeit. Für Fußabsetzer auf dem steilen und ausgesetzten Weg gab es Strafsekunden. Und weil man auch noch aus eigener Kraft innerhalb eines strammen Zeitfensters den Anstieg schaffen musste, konnte man keine Downhiller benutzen – die wären für den Aufstieg zu langsam gewesen. Eine Mission für echte Enduro-Bikes.
Bis 2012 lief das Rennen, bei dem auch Freeride-Stars wie Matt Hunter an den Start gingen – und sich nicht selten von ortskundigen Locals in die Schranken weisen lassen mussten. Gefährlich war es obendrein: Matt Hunter selbst verlor spektakulär die Kontrolle, als er sich auf dem ikonischen Drop über die Steinmauer verkalkulierte und nach einer kurzen Rutschpartie nahezu ungebremst im Grünzeug weiter unten einschlug.
Auf die Idee, dass dieser Trail auch bergauf fahrbar sein könnte, wäre damals wohl niemand gekommen. Bis Vertrider-Legende Christian "Picco" Piccolruaz den legendären Trail mit dem E-Bike bezwang und dann ganz angefixt auf dem Gelände des BIKE Festivals 2022 auftauchte. Zwei passende Partner dafür fielen Picco ebenfalls ein. E-Bike-Fahrtechniker Stefan Schlie und Trial-Meister Hans Rey.
Sie wühlen sich durch tiefes Geröll, krachen mit den Kurbeln an senkrechte Felsstufen, ziehen an den steilen Haarnadelkurven alle Register, stürzen immer wieder nach hinten in die Tiefe und rappeln sich wieder auf. Sie keuchen, lachen, fluchen und feuern sich gegenseitig an, bis die nächste Schlüsselstelle dieses Felsmonsters geschafft ist.
„Horch zua, i bin grad den Marmitte-dei-Giganti-Trail runtergfoan, des wär’ doch a fettes Uphill-Projekt.“ Völlig aufgeregt und mit leuchtenden Augen hatte Christian „Picco“ Piccolruaz, Innsbrucker Vertrider-Urgestein, mich am BIKE Festival in Riva abgepasst und mir von seiner fixen Idee vorgeschwärmt. Der Bergführer, der seit der E-MTB-Ära seinen Kick vor allem in möglichst schwierigen Bergaufpassagen sucht, hat auch schon zwei Sparringspartner ausgeheckt: „Da datn sich da Hans und da Stefan sicher die Zähn’ ausbeißn.“
Es ist der letzte Tag des BIKE Festivals, und die beiden Trial-Artisten Hans Rey und Stefan Schlie sind sofort Feuer und Flamme für Piccos Idee. Und so kommt es kurzentschlossen zu einem Shootout der Legenden auf einem Trail, der vor 16 Jahren Bike-Geschichte schrieb.
Der steile Pfad oberhalb von Torbole war damals Schauplatz des weltweit ersten Enduro-Rennens. Wer mitmachen wollte, musste es innerhalb eines Zeitfensters aus eigener Kraft bergauf an den Start schaffen, was mit reinen Downhillern kaum machbar war. Bergab ging es dann auf Zeit, und für jeden Fußabsetzer gab es Strafsekunden. Das Rennen etablierte sich, und über die Jahre gab sich, pünktlich zum BIKE Festival, am Marmitte dei Giganti die Crème de la Crème der Downhiller und Freerider die Ehre – von Wade Simmons über Matt Hunter bis hin zu Nicolas Vouilloz. Doch wahrscheinlich hätte es keiner von ihnen für möglich gehalten, dass diese steile Downhill-Strecke über 1,5 Kilometer und 270 Höhenmeter jemals bergauf bezwungen wird.
Schon die ersten paar Meter scheinen die drei Profis an ihre Grenzen zu bringen. Eine zwei Meter breite Rinne aus rutschigem Schotter, durchsetzt mit nabenhohen Felsblöcken, hier ist erst mal kein Durchkommen in Sicht. Weder Hans, der auf Old-School-Trial-ohne-Hüpfen setzt, noch Picco mit seiner Möglichst-viel-Momentum-Strategie schaffen bei den ersten Versuchen mehr als ein Drittel der Sektion. Nur Stefan, der die Schlüsselstellen hüpfend bewältigt und es schafft, mit jedem Hüpfer seinen Motor zu aktivieren, scheitert erst nach etwa zwei Dritteln.
Es folgt emsiges Fachsimpeln über die beste Linie und die passende Technik. Hans erklärt, dass er solch fiese Stelle eher mit etwas höherem Sattel fahre und dass er sich dann so weit über den Lenker beuge, dass er fast sein Vorderrad küsse. Picco, der Anti-Trialer, setzt dagegen eher auf den runden Tritt und Geschwindigkeit. Und Stefan schreibt seine Erfolge hauptsächlich dem gezielten Einsatz seines Motors zu. Das Ergebnis nach etlichen Versuchen: Am Ende schaffen alle drei Fahrer – mit völlig unterschiedlichen Techniken – die erste Sektion.
Es folgt die Schlüsselstelle des ehemaligen Enduro-Rennens: eine Felsstufe, die gar nicht besonders hoch ist. Doch wer hier sprang, landete in einem Gemenge aus losem Geröll und scharfkantigen Felsen. Prominentester Bruchpilot an dieser Stelle war Freeride-Star Matt Hunter, der 2007 die Geschwindigkeit beim Absprung falsch einschätzte und schmerzhaft im Schotterfeld einschlug. Bergauf funktioniert diese Stufe trotz Motorunterstützung nicht – zu wenig Traktion, um Schwung aufzubauen. Doch die Felsstufe durften die weniger Waghalsigen beim damaligen Enduro-Rennen über eine Chicken-Line umfahren. Diese 180-Grad-Spitzkehre bietet den Uphill-Künstlern genug Herausforderung: Hier können Hans und Stefan ihre Trial-Künste ausspielen.
Gekonnt ziehen sie die Front hoch, zirkeln auf dem Hinterrad durch die Kurve, platzieren das Vorderrad passgenau auf einem Felsen, um von dort aus mit einem seitlichen Hüpfer wieder auf den Weg zu treffen. Picco versucht sich auch hier in solider Freeride-Manier. Nach drei Anläufen und mit viel Schwung nimmt er die seitliche Felswand als Anliegerkurve und schafft das Manöver sogar, ohne das Vorderrad umzusetzen.
„Kessel der Riesen“, das heißt Marmitte dei Giganti übersetzt. Über Jahrtausende haben die Gletscher diese runden Felswände und -bottiche zwischen Nago und Torbole geformt. Der Sage nach sollen hier Riesen ihren Durst gestillt haben, indem sie aus diesen einst wassergefüllten Töpfen tranken. Die Marmitte liegen etwas abseits des Trails, aber die Ausläufer des Gletscherschliffs bilden die nächste Herausforderung auf unserem Uphill-Experiment. Die folgende Felsrutsche ist so steil, dass ich schon zu Fuß aufpassen muss, um nicht wegzurutschen. Damals, beim Enduro-Rennen, war diese ausgesetzte Stelle mit einem Netz gesichert. Wer hier zu stark bremste, bekam die Quittung sofort und rutschte weg.
Wilde Diskussionen entbrennen, welche Technik für diese Art von Steilheit wohl am besten geeignet sei. Die Half-Way-Rey-Methode sei „das Beste aus zwei Welten“, erklärt Hans dem staunenden Picco: „Links Klick und rechts flat. Mit dem eingeklickten Fuß kann man gut ziehen und Schwung generieren. Der hintere ist dann schnell weg vom Pedal, wenn’s brenzlig wird.“ Während Hans, die Mountainbike-Legende, noch fabuliert, kriecht Stefan, Mr. Uphill-Flow, bereits tief übers Oberrohr geduckt, die Felsrampe hoch. Sein Hinterreifen, dessen Luftdruck er auf weit unter ein Bar gesenkt hat, knetet über den Felsen, während das Vorderrad längst den Bodenkontakt verloren hat und erst wieder auf dem darauffolgenden Plateau Halt findet. Der Applaus aus der Tiefe hallt zwischen den Felsen.
Auch bei Hans und Picco läuft es in der Steilpassage, jeder mit seinem ganz persönlichem Fahrstil. So fährt Hans die Schlüsselstelle im Sitzen, die Sattelstütze zu drei Viertel ausgefahren. „Das spart eine Menge Kraft, und ich bringe mehr Druck aufs Hinterrad.“ Picco dagegen presst die Rampe im dritten Gang und mit voll versenkter Sattelstütze hoch. „Tut sauweh, aber ich bringe so einfach mehr Druck aufs Hinterrad“, sagt der Vertrider.
Fünf Minuten später hätte keiner mehr die steile Rampe geschafft. Ein kurzer Platzregen verwandelt den Felsen in eine Rutschbahn. Auch die folgende Trial-Sektion über garstige Felsblöcke ist durch die Nässe nicht leichter geworden. Doch aufgeben kommt nicht in Frage. Klatschnass und vom Ehrgeiz getrieben nehmen die drei die letzten Hürden der Strecke in Angriff. Nur einer der Felsblöcke bleibt unbezwingbar. Zu nass und zu rutschig.
Der finale Abschnitt zum Einstieg des Trails an der Hauptstraße führt über einige Treppenstufen. Nach einer guten Stunde Uphill-Stakkato, brennenden Armen, jaulenden Motoren und klatschnass bis auf die Haut stehen die drei Legenden an der Straße und gratulieren sich zur Erstbefahrung des Enduro-Klassikers. Kurze Zeit später werden beim Bier in der Mecki’s Bar Pläne geschmiedet. Könnte es machbar sein, das Ganze in einem Stück zu schaffen? To be continued ...