Freeride PatagonienAuf den Trails der alten Gauchos

Gitta Beimfohr

 · 04.10.2025

Im Herbst der Südhalbkugel - also im März - sind die Farben in Patagonien am wuchtigsten.
Foto: Martin Bissig
Am anderen Ende der Welt ist nicht nur der Sternenhimmel ein ganz anderer. Hier sind auch die Farben knalliger, die Trails wilder - und wenn man Pech hat, fegen einem alle vier Jahreszeiten an nur einem Tag um die Ohren. Dafür gibt’s unvergessliche Bilder!

Die Nadel des über 100 Jahre alten Grammophons kratzt über die Rillen der Schallplatte. Aus dem großen Trichter ertönt der Sound eines Tangos. Tito ist sichtlich stolz auf dieses Erbstück seines Großvaters. Es stammt aus einer Zeit, in der die ersten Siedler aus Argentinien hier unten in Zentralpatagonien ihr Glück versuchten. Tito ist ein Gaucho, wie man ihn sich aus Filmen vorstellt: Seine Haut ist ledrig, sein Körper von der Arbeit auf dem Feld und mit den Pferden richtig drahtig. Man sieht dem 62-Jährigen das harte Leben einfach an. Sein Blick fällt auf unsere Hightech-E-Bikes:

Früher haben wir nicht in Wochen oder Monaten gerechnet, sondern in Jahreszeiten. So lange hat es gedauert, um unsere landwirtschaftlichen Produkte oben im Norden gegen andere Waren zu tauschen. Ihr, auf euren elektrischen Pferden, ihr seht aus, als kämt ihr direkt aus der Zukunft.

Das mag sein, allerdings hat unsere „Zeitkapsel“ in Form eines Flugzeugs doch noch 48 Stunden gebraucht, um uns aus dem Frühling der Nordhalbkugel in den Herbstanfang der Südhalbkugel nach Zentralpatagonien zu beamen. „Im Herbst ist es noch nicht zu kalt zum Biken“, hatte uns Pato versprochen, „…und die Farben sind viel knalliger.“ Trotzdem sollten wir ausreichend warme Klamotten einpacken, denn da, wo wir unterwegs sein werden, wird es nicht viele Shops geben, um sich im Notfall noch eine dicke Jacke zu kaufen. Und so landen Tom Öhler und ich in Balmaceda mit ungewöhnlich dickem Bike-Gepäck für 12 Tage.

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​Aysén - das unbekannte Patagonien

Irgendwann hört der Asphalt auf. Dann übernimmt eine Schotterstraße bis zum südlichsten Zipfel Südamerikas.Foto: Martin BissigIrgendwann hört der Asphalt auf. Dann übernimmt eine Schotterstraße bis zum südlichsten Zipfel Südamerikas.

Die Region Patagonien erstreckt sich praktisch über die letzten 2000 Kilometer der südamerikanischen Kontinentspitze und wird durch das Andengebirge zweigeteilt: Die östliche, argentinische Seite ist wüstenartig trocken. Auf der westlichen, chilenischen Seite warten dagegen schroffe Bergspitzen, Gletscher mit tiefblauen Seen und riesige Regenwälder. Ein Sehnsuchtsort für Naturliebhaber, Abenteurer und Alpinisten.

Nur Mountainbiker gab es noch nicht so viele, als Pato im Frühjahr 2020 beschloss der Hauptstadt Santiago de Chile den Rücken zu kehren und samt Familie nach Patagonien umzusiedeln. Als Bergführer, Guide und Mountainbiker hat er sich dabei bewusst gegen die Touristen-Hotspots Torres del Paine und El Chaltén entschieden: „Klar sind das wunderschöne Gegenden, aber als Mountainbiker darf man dort nur auf den breiten Schotterpisten fahren. Das ist hier in der Region Aysén anders. Ihr werdet es erleben!“

Coyhaique – das Whistler von Patagonien

In Coyhaique, der Regionshauptstadt von Aysén, stechen uns sofort die zahlreichen Bikeshops ins Auge. Jede Menge Mountainbiker wieseln durch den Verkehr. Pato deutet auf einen Berg hinter der Stadt: Dort oben starten mehr als ein Dutzend angelegter Trails. Da fahr ich morgen Früh mit euch hoch.“ Und mit früh meint der Chilene wirklich früh, denn es ist noch dunkel, als wir am Morgen wieder in seinen Pickup steigen. Doch dafür können wir den Bergen beim Aufwachen zusehen.

Tom Öhler lernt das Wedeln in Patagoniens tiefen Schotterhängen. Bei ungebremstem Pazifik-Wind.Foto: Martin BissigTom Öhler lernt das Wedeln in Patagoniens tiefen Schotterhängen. Bei ungebremstem Pazifik-Wind.

Als wir an der Radarstation am Gipfel zum Stehen kommen, leuchten die umliegenden Berge in einem sanften, orangefarbenen Licht. Eine Szenerie, die man tief einatmen möchte, doch ich habe zum Aussteigen kaum den Türhebel gezogen, da reißt mir der Wind die Tür aus den Fingern. Wow!
Pato lacht: „Ja, die Pazifik-Winde fegen hier praktisch ungebremst durch die Berge. Wartet, ich parke andersrum.“

Die Windböen sind nicht nur scharf, sondern auch eiskalt. Gefühlt mindestens 10 Grad kälter als unten in der Stadt. Deshalb halten wir uns nicht lange mit der schönen Aussicht auf. „Vamos hermanos!“, ruft Pato und tritt ordentlich an. Ein Trail ist nicht zu erkennen. Wir stürzen hinter ihm her in ein gewaltiges Sandschotterfeld und versuchen es dem Chilenen nachzumachen: einfach weite Schwünge ziehen. Es fühlt sich an wie Tiefschnee fahren – und als wir nach ein paar Hundert Höhenmetern an der Waldgrenze stoppen und zurückblicken, sieht es tatsächlich auch so aus: Jeder hat seine eigene Line in den Hang gezogen.

In Coyhaique lässt sich noch ganz gut Shoppen, weiter gen Süden trifft man immer weniger auf Zivilisation.Foto: Martin BissigIn Coyhaique lässt sich noch ganz gut Shoppen, weiter gen Süden trifft man immer weniger auf Zivilisation.

Im Wald wird es dann erdig, wurzelig und einspurig, so wie wir es kennen. „Lass uns das gleich nochmal machen“, ruft Tom begeistert, als wir den Stadtrand von Coyhaique erreichen. Kein Problem: Der Shuttle steht bereit - auf zur nächsten Runde. Doch diesmal schlägt Pato oben im Schotterhang eine andere Richtung ein und so stehen wir ein paar Kilometer später vor einem Skilift, der schon bessere Tage gesehen hat. „Eigentlich war unser Plan, hier einen Bikepark mit Lift zu bauen“, erklärt uns Pato. Doch nach der anfänglichen Euphorie habe man eingesehen, dass es hier - im Gegensatz zum großen Vorbild Whistler - einfach doch noch zu wenig Biker für ein derartiges Projekt gibt.

Expedition zum Gletschersee

Villa Cerro Castillo heißt unser nächster Spot. Ein kleines Nest am Fuße eines gleichnamigen, 2674 Meter hohen Bergmassivs. Keine 400 Menschen leben hier, darunter aber Pato und seine Familie. Ein paar Fahrrad-Touristen verirren sich auch manchmal hierher, nur keine Mountainbiker mit Federweg. Außer Pato natürlich. „Ich zeig euch meine Hometrails, aber habt ihr danach Lust, mit mir eine neue Route auszuprobieren?“ Klar, haben wir!

Den Startpunkt unserer Mini-Expedition erreichen wir nach einer Stunde Autofahrt. Den ersten Teil der Strecke legen wir dank Motorunterstützung locker und schnell auf breiten Holzfällerwegen zurück. Danach wird's anspruchsvoller. Wir stehen vor einem massiven, steilen Geröllhang. Ein Blick auf die Karte bestätigt meine Vermutung: Da müssen wir wohl hoch.

Ich entscheide mich, mein Bike hier liegen zu lassen und zu Fuß weiterzugehen. Pato und Tom schultern ihre Bikes und los geht's. Zwei Stunden stapfen wir durch alpines Kiesgestein und als sich dann immer noch mindestens 100 Höhenmeter über uns türmen, breche ich ab. „Geht nur, ich folge euch einfach mit der Drohne!“ So sehe ich in meinem Display wie die Jungs oben starten: Pato fährt vor, Tom hinterher. Die beiden fräsen tiefe Spuren in den kiesigen Boden, ich höre schon von Weitem ihr Jauchzen. „Das ist Freeride, Hermanos“, ruft ein begeisterter Pato, als sie schließlich neben mir abschwingen und sich abklatschen.

Diese Farben: Gefühlt leuchtet der Gletschersee auf über 3000 Meter Höhe. Aber wir merken es am mühelosen Atmen, wir sind hier gerade mal über 1000 Meter über dem Meer unterwegs!Foto: Martin BissigDiese Farben: Gefühlt leuchtet der Gletschersee auf über 3000 Meter Höhe. Aber wir merken es am mühelosen Atmen, wir sind hier gerade mal über 1000 Meter über dem Meer unterwegs!

Weiter geht‘s nun runter zum Gletschersee. Gefühlt bewegen wir uns in einer hochalpinen Landschaft, locker um die 3000-Meter-Marke herum - aber, kaum zu glauben: Es sind gerade mal 1100 Meter über dem Meer. Trotzdem klebt direkt hinter uns eine riesige Gletscherzunge im Berg und es ist weit und breit keine Vegetation in Sicht. Eigentlich bestätigt nur unsere Atmung, dass die Höhenangaben in der Karte richtig sein müssen.

Im wilden Süden: Ritt in die Vergangenheit

„Lasst uns noch weiter in den Süden fahren, da wartet noch der ein oder andere Spot, den ihr gesehen haben müsst“, verkündet Pato nach ein paar Tagen auf seinen Hometrails. Wir sitzen noch nicht lange im Pickup, da taucht vor uns das tiefblaue Wasser des Lago General Carrera auf. Chiles größter See, der sich bis über die Grenze nach Argentinien ausstreckt. Bald wechselt die Straße von Asphalt auf Schotterbelag. „Ab hier ist fertig mit Asphalt“, erklärt uns Pato. „Bis auf wenige Meter durch die Dörfer zieht sich diese Gravel-Piste nun bis in die südlichste Spitze unseres Kontinents.“ Gott sei Dank sind wir hier nicht auf unseren Bikes unterwegs. Bei dem Verkehr wäre eine Staublunge vorprogrammiert.

Ihr seht mit euren elektrischen Pferden aus, als würdet ihr damit direkt aus der Zukunft kommen, finden die alten GauchosFoto: Martin BissigIhr seht mit euren elektrischen Pferden aus, als würdet ihr damit direkt aus der Zukunft kommen, finden die alten Gauchos

Es ist bereits Abend, als wir bei Gaucho Tito ankommen. Sein Sohn Eugenio ist mit Pato befreundet und hat uns eingeladen. Der Junge ist selbst passionierter Mountainbiker und Gletscher-Guide. Pato, Eugenio und Tom vertreiben sich die Zeit mit einem alten Gaucho-Spiel: Der Fußknochen eines Rindes muss möglichst nah an ein Ziel geworfen werden. Tito zeigt mir dagegen lieber das Grammophon seines Großvaters und wendet sich dann mit den knarzenden Tango-Klängen der Feuerstelle zu. Darüber sollen gleich die Fleischstücke für unser Abendessen brutzeln.

Am nächsten Morgen schafft Pato Platz auf der Ladefläche seines Pickups. Neben den drei E-Bikes und unserer Ausrüstung sollen nun auch noch zwei Zelte und ein volles Camping-Equipment mit. Es wäre doch eine Schande, Patagonien zu verlassen, ohne eine Nacht im Zelt verbracht zu haben, meint der Chilene. Und einen perfekten Platz dafür hat er dafür auch schon ausgekundschaftet: Bei Miraflores, direkt am Ufer eines Flusses, mit freier Sicht auf die Andenkette, schlagen wir die Zelte auf. Später am Lagerfeuer blicken wir in einen Nachthimmel mit uns völlig unbekannten Sternbildern und Pato erzählt von seiner Vision: „Irgendwann werde ich diese Region zu einer Bike-Destination gemacht haben. Sie hat das Potenzial.“

Pato überrascht uns bei Miraflores mit einer Nacht im Zelt. Was für ein sensationell schöner Platz.Foto: Martin BissigPato überrascht uns bei Miraflores mit einer Nacht im Zelt. Was für ein sensationell schöner Platz.

Wir können ihm nur zustimmen, denn auch Puerto Guadal, der letzte Trailspot unserer Reise, begeistert mit epischen Backcountry-Trails. Der Ort selbst ist ein verschlafenes Nest, aber auf den Bergpfaden drumherum treffen wir in zwei Tagen noch weniger Menschen. „Hermanos, ich hab eine gute und eine schlechte Nachricht für euch“, eröffnet uns Pato am Abend vor unserer Rückreise. „Die schlechte: Die Fähre von Chile Chico nach Puerto Ingeniero ist ausgebucht, wir können leider nicht mit dem Truck übersetzen.“ Also noch mal acht Stunden um den halben See drumherum fahren? Puh.
Okay, was ist die gute Nachricht? „Von hier aus sind es noch 105 Kilometer bis zum Fährhafen in Chile Chico. Das könnt ihr mit den E-Bikes schaffen, und Radfahrer haben auf dem Schiff auf jeden Fall Platz.

So kommen Tom und ich in den Genuss der längsten Bike-Etappe des Trips. Die Straße ist zum Glück kein Teil der starkbefahrenen Nord-Süd-Achse. 20 Autos begegnen wir vielleicht, wenn es hochkommt! Dafür ändert sich die Landschaft alle halbe Stunde und zusammen mit der zweistündigen Fährfahrt über den See erhalten wir zum Abschluss noch mal eine volle Ladung Hochglanz-Patagonien.

Acht Autostunden um den halben See drumrum oder Gas geben und die Fähre noch erwischen. Klar: Letzteres natürlich!Foto: Martin Bissig / <a href="http://www.bissig.ch" rel="noopener noreferrer">www.bissig.ch</a>Acht Autostunden um den halben See drumrum oder Gas geben und die Fähre noch erwischen. Klar: Letzteres natürlich!

Was für ein großes Glück wir mit dem Wetter hatten, wird uns erst auf der Fahrt zum Flughafen bewusst, denn da schüttet auf einmal wie aus Kübeln. Tatsächlich hatten wir 12 Tage Sonnenschein am Stück und nicht die vier Jahreszeiten an einem Tag, für die Patagonien sonst so berühmt ist. Daher fällt es uns fast ein bisschen schwer, mit unserer 48-Stunden-Zeitkapsel wieder zurück in die Zukunft zu fliegen.

Unser Guide Pato Gocola

Während der ersten Coronawelle siedelte Bikeguide Pato ins menschenarme Patagonien um.Foto: Martin BissigWährend der ersten Coronawelle siedelte Bikeguide Pato ins menschenarme Patagonien um.

Geboren und aufgewachsen in Santiago de Chile hat sich Pato in der chilenischen Mountainbike-Szene bereits früh einen Namen als Extrembiker gemacht. Sein über Jahre andauerndes Projekt, die höchsten Berge von Chile mit dem Bike zu befahren, hat er im Jahr 2024 erfolgreich abgeschlossen. Er lebt mit seiner Familie in Villa Cerro Castillo.

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