Trails UnlimitedAlpe d'Huez in den Westalpen

Dan Milner

 · 19.04.2021

Trails Unlimited: Alpe d'Huez in den WestalpenFoto: Dan Milner
Trails Unlimited: Alpe d'Huez in den Westalpen

Tour de France und Megavalanche – den Bergort Alpe d’Huez verbinden Radsportler mit Mythos und Schmerz. Dan Milner fuhr die endlosen Trails ohne Rummel.

Die Region

Der Bergort Alpe d’Huez liegt auf 1850 Metern Höhe in den Französischen Nordalpen und hat durch spektakuläre Events wie die Tour de France (seit 1952 Bergankunft, nach 21 „mythischen Kehren“) und die Megavalanche vom 3300 Meter hohen Pic Blanc hinunter (seit 1995) Kultstatus erreicht.

Die Tour

Die Megavalanche-Abfahrt mit Start auf dem Schneefeld des Pic Blanc ist nur während des Rennens erlaubt. Aber in den Bergen rund um Alpe d’Huez warten genügend Pässe und Gipfel, die ähnlich lange Trail-Abfahrten ermöglichen. Fotograf Dan Milner, der Franzose Fred Horny und der ehemalige britische Straßenrennfahrer Kieran Page wählten als Startpunkte für ihre beiden Mega-Alternativen die asphaltierten und mit dem Auto erreichbaren Pässe Col de Sarenne und Col du Sabot. Letzterer lässt sich im Sommer auch mit der Seilbahn des Bikeparks erreichen. Zu den Trail-Einstiegen selbst fehlen allerdings noch einige Hundert Höhenmeter, die man zum großen Teil schiebend und tragend zurücklegen muss. Während es sich bei der Col-de-Sarenne-Abfahrt um einen anspruchsvollen Natur-Trail handelt, wartet am Col du Sabot eine Bikepark-Abfahrt. Allerdings ist dieser Trail gerade im oberen Abschnitt sehr schmal und führt oft sehr exponiert an Hangkanten entlang. Nur für schwindelfreie, gute Fahrtechniker empfehlenswert. Beste, schneefreie, Touren-Zeit: Ende Juni bis Anfang September.

Tour de France und Megavalanche – den französischen Bergort Alpe d’Huez 
verbinden Radsportler mit Mythos und Schmerz. „Warum die schier endlosen Trails nicht einfach mal ohne  den Rummel genießen?“, dachte sich Fotograf Dan Milner – und litt am Ende doch.
Foto: Dan Milner

Bikepark

Alpe d’Huez hat sich mit den Orten Vaujany, Oz en Oisans und Bourg d’Oisans zu einem großen Bikepark zusammengetan und bietet damit eines der größten Trail-Netze (260 km) der Alpen an. Neun Seilbahnen sowie Shuttle-Busse helfen bergauf, seit 2020 gibt es einige neue Trails für Einsteiger. Beim Gros der Abfahrten handelt es sich aber um schmale, anspruchsvollere Trails. Saison: von Anfang Juli bis Anfang September, Tagesticket 18,50 Euro. Infos: www.alpedhuez.com

Megavalanche – das Jubiläumsrennen Im Juli 2020 hätte das große Enduro-Event zum 25. Mal stattfinden sollen. Wegen Corona findet das Jubiläumsrennen nun vom 5.–11. Juli 2021 statt. Anmelden unter: www.ucc-sportevent.com

  Das wohl krasseste Enduro-Event der Welt: die Megavalanche vom 3300 Meter hohen Pic Blanc hinunter.Foto: Laurent Salino
Das wohl krasseste Enduro-Event der Welt: die Megavalanche vom 3300 Meter hohen Pic Blanc hinunter.
Foto: BIKE Magazin

Kein Seilbahngeklappere und kein Heli-Wummern. Im November ist die Bergwelt um Alpe d'Huez einfach still.

Es gibt ja viele Möglichkeiten, seiner Angst Ausdruck zu verleihen. Wenn man noch sprechen kann, sagt man einfach: „Ich habe Angst“. Wenn es ganz schlimm kommt, ist vielleicht schon die Hose voll. Letzteres scheint gerade bei Kieran Page zuzutreffen. Stumm und blass hockt er neben mir und krallt sich mit Füßen und einer Hand in das betonharte Schneefeld. Seine andere Hand umklammert sein Bike. Hätte er es bei seinem Ausrutscher gerade eben losgelassen, wäre es Hunderte Meter den Steilhang runtergerutscht. Und er wie eine Kanonenkugel hinterhergeschossen. Fred und ich setzen uns auch ganz vorsichtig hin und warten, bis der Brite das Adrenalin wieder halbwegs abgeatmet hat. Ich würde auch gern etwas Aufmunterndes sagen, aber ich weiß nicht, was. Der Blick nach oben verrät: Wir sind noch lange nicht am Col du Couard, und Hang und Wegspur bleiben vereist. Ich versuche es mit einem: „Die andere Pass-Seite zeigt gen Süden und ist bestimmt schneefrei.“ Endlich dreht Kieran seinen Kopf. Er spricht nicht, aber seine zusammengekniffenen Augen sagen: „So was hast Du gestern Abend auch schon behauptet …“

  Fotograf Dan Milner hat eine Vorliebe für die nicht alltäglichen Touren.Foto: Dan Milner
Fotograf Dan Milner hat eine Vorliebe für die nicht alltäglichen Touren.

Damit hat Kieran leider recht. Ich hatte meinen beiden Mitstreitern eine Megavalanche-Alternative in Alpe d’Huez in Aussicht gestellt – und zwar eine sanfte. Einfach zwei super lange Abfahrten in dieser berühmten Bergkulisse, ohne Massenstart, Zeitdruck und hochgradiger Verletzungsgefahr – wie es sonst beim legendären Megavalanche-Rennen so üblich ist. Als Fotograf habe ich das vielleicht heftigste Enduro-Event der Welt schon mehrfach begleitet. Aber vom sicheren Helikopter aus. Hunderte von Bikern würfeln da jedes Jahr beim Massenstart das Schneefeld vom 3300 Meter hohen Pic Blanc hinunter, fahren in verblockten Hochgebirgs-Trails die Ellbogen aus und versuchen, sich unten in wurzeligen Waldserpentinen gegenseitig noch den Weg abzuschneiden. Die Schnellsten erreichen das 2000 Meter tiefer gelegene Ziel nach knapp 40 Minuten, dahinter schaffen es die wenigsten unverletzt. Niemals würde ich mir für dieses Spektakel eine Startnummer anheften, aber die langen Trail-Abfahrten haben mich schon immer gereizt. Und als nun das Rennen zum 25. Jubiläum letzten Sommer Corona-bedingt ausfiel, sah ich meine Zeit gekommen.

Allerdings brachte das Virus auch meine Planungen durch­­ei­n­ander. So wurde es nicht August, sondern November, bis wir nach Alpe d’Huez reisten. Was bedeutet: geschlossene Lifte und deutlich kürzere Tage. Aber immerhin noch keinen Schnee, so viel habe ich in den Wochen zuvor über die Webcams in Erfahrung bringen können. Unserem Vorhaben, zwei Tage mit jeweils einer „Mega“-langen Trail-Abfahrt, sollte also nichts im Wege stehen. Viel Zeit mit Auffahrten wollten wir allerdings nicht vertrödeln. Deshalb schliefen wir die erste Nacht auf dem 1999 Meter hohen Col de Sarenne in unseren Transportern. So blieben uns am nächsten Morgen nur noch 370 Höhenmeter zum Croix de Cassini hinauf. Die brauchten wir auch, um unsere in der Nacht tiefgefrorenen Glieder wieder aufzutauen. Dahinter erwartete uns ein Blick über ein Gipfelmeer und ein Hochgebirgs-Trail, der in Sachen Steilheit, Anspruch und Herausforderung unseren Vorstellungen entsprach. Als wir nach 1600 Tiefenmetern in unserer Herberge in Bourg d’Oisans eintrudelten, lag das Tal fast schon in völliger Dunkelheit. Aber wir hatten unseren ersten sonnigen Trail-Tag in der Tasche. Der Blick in die Karte für morgen war da reine Formsache: Mit dem Shuttle hoch zum 2130 Meter hohen Col du Sabot, dann eine Traverse hoch zum Col du Couard und über den Lac Blanc diesen langen Trail ins Tal zurück. Wird super! Genau.

Und jetzt das. Gerade mal eine halbe Stunde vom Startplatz entfernt krallt sich Kieran immer noch in den Steilhang des Col du Couard. Ob wir nicht besser wieder umdrehen wollen, will er wissen. Auf keinen Fall! Bergab ist so ein vereister Trail noch viel gefährlicher. Also vorsichtig weiter. Tatsächlich schaffen wir es alle zum Pass und blicken auf seiner Südseite in eine geschlossene Schneedecke. Verdammt, wir sind gefangen. 400 Höhenmeter fehlen uns noch zum höchsten Punkt der Tour, und ob die Abfahrt dann schneefrei wird, ist fraglich. Aber zumindest ist der Schnee auf dieser Pass-Seite von der Sonne angetaut. Unsere Schuhe versinken bis zum Knöchel darin, und ganz so steil ist das Gelände hier auch nicht – wir kommen voran, auch wenn der Schnee bald tiefer wird. Wir passieren kleine angeeiste Seen und pedalieren am Ende sogar über den komplett zugefrorenen Lac Blanc und hoffen, dass er uns trägt. Bei jedem Knacken explodiert fast mein Herz, und Adrenalin zuckt bis in jede einzelne Haarspitze. Abenteurer in der Arktis dürften sich in etwa so fühlen.

  Col de SarenneFoto: Dan Milner
Col de Sarenne

Es ist wirklich eine komplett andere Welt, als wir sie gestern am staubtrockenen Sarenne-Pass erleben durften. Satte fünf Stunden brauchen wir, bis wir auf 2700 Metern Höhe endlich den höchsten Punkt unserer Tour erreichen. 100 Höhenmeter pro Stunde – was für ein mieser Schnitt. Auch die Hoffnung auf eine besonders spaßige Abfahrt habe ich längst aufgegeben. Womöglich ist die erste Hälfte der 2000 Tiefenmeter vereist. Dann schaffen wir es auf keinen Fall bis Einbruch der Dunkelheit ins Tal. Tatsächlich schlingern unsere Reifen die ersten Tiefenmeter über eine Trampelspur im Schnee, aber sie greifen bald in den matschigen Almboden einer geshapten Bikepark-Line. Als wir im goldenen Nachmittagslicht über eine weite Grasflanke fliegen, staubt es sogar schon in den Anliegern. Zur blauen Stunde erreichen wir die Gerippe eines entblätterten Buchenwaldes. Auf dem tiefer und immer tiefer werdenden Laubteppich verlieren die Reifen wieder Grip, aber wir schweben wie auf Watte dahin. Nur ab und zu knallt unvermittelt eine Wurzel durch. Als wir nach mehr als einer Stunde Abfahrt Bourg d’Oisans erreichen, bin ich fix und fertig. Nicht nur wegen der massiven Anstrengung beim Aufstieg, auch wegen der durchlebten Adrenalinschübe. Megavalanche-Feeling eben. Nur ohne Massenstart, Seilbahnklappern und Heli-Wummern über unseren Köpfen.