Patrick Kunkel
· 06.12.2017
Zwischen den Pässen der Tour de France spinnt sich in den Hautes-Pyrénées ein weites Trail-Netz. Dort, wo sich die Rennradler am Tourmalet und Col d'Aspin hochkämpfen, biegen Biker in die Natur ab.
"Merde," flucht Robin und reisst sein Bike herum. "Schnell weg hier!" Vor uns setzt sich gerade Eine halbe Tonne Pyrenäen-Rindvieh mit gesenk- ten Hörnern in Trab.
Wir springen aus den Sätteln und hetzen unserem französischen Guide hinterher. Stolpern planlos ins Gebüsch. Stacheln zerren an Haut, Helm und Bike, unter uns bricht eine kleine Böschung ab – egal, Hauptsache in Sicherheit. "Uff, das war knapp", grinst Robin am Ende der Rutscheinlage. Immerhin landen wir auf historischem Asphalt. Die Passstraße von Luz-Saint-Sauveur hinauf zum Col de Tourmalet gehört zu den großen Mythen der Tour de France. Man merkt das sofort: Wwwusch – rauscht ein schnelles Rudel Lycra-Jungs an uns vorbei ins Tal. Krrrks, malträtiert ein schnaufender Rennradler seine Gangschaltung auf der steilen Rampe in Gegenrichtung.
Die GPS-Daten zu diesen Touren finden Sie unten im Download-Bereich:
Etliche Kehren unter uns erblicken wir Dutzende Groß- und Kleingruppen, die auf Rennrädern die Serpentinen bergauf kurbeln. Weiter oben bietet sich ein ähnlicher Anblick: Buntscheckige Trikots gondeln auf dem Asphaltband zwischen Almwiesen und steilen Felsflanken im Wiegetritt gen Radsport-Olymp. "Unsere Tour-de-France-Pässe ziehen Rennradler aus der ganzen Welt an", erklärt Robin sichtlich stolz. Vor allem der Tourmalet – und zwar nicht nur, weil dieser mit 2115 Metern der höchste asphaltierte Straßenpass der französischen Pyrenäen ist.Sein Mythos resultiert aus der Historie: Als erster Hochgebirgspass überhaupt wurde er 1910 in das Programm der Frankreich-Rundfahrt aufgenommen, obwohl er zu der Zeit bloß ein schmaler, steiniger Pfad war. Der damalige Gesamtsieger der Tour, Octave Lapize, bezwang zwar den Tourmalet, bezeichnete aber die Tour-Organisation anschließend wegen der krassen Streckenführung als Mörder. Bis heute gilt die Auffahrt als eine der schwersten der Tour. "Kein Wunder also, dass auf der Straße immer die Hölle los ist", sagt Robin.
Mountainbiker haben die Bergwelt rund um den Pic du Midi de Bigorre scheinbar weniger auf dem Plan. Auf unserer fast 24 Kilometer langen Abfahrt von der Spitze des 2877 Meter hohen Massivs treffen wir jedenfalls keinen Menschen. Komisch: Die Gegend ist durchzogen von kilometerlangen Singletrails. Ein Rätsel, warum hier so wenige Biker unterwegs sind. "Doch, doch, es werden jedes Jahr mehr. Langsam spricht es sich herum, dass wir hier geniale Strecken haben," sagt Robin, Veranstaltungen wie der Downhill-Weltcup in Lourdes, dem Wallfahrtsort am Fuße der Pyrenäen, hätten die abgelegene Gegend bekannter gemacht. In einigen Skigebieten gäbe es inzwischen Bikeparks, alleine in den Tälern zwischen Lourdes, Luz und Cauterets wurden über 1100 Kilometer Bike-Strecken ausgewiesen: "Und da sind richtig gute Trails dabei", versichert Robin. "Ich zeige euch allerdings meine Lieblingsstrecken – und das sind ausnahmslos Naturpfade."
Zum Auftakt unserer viertägigen-Trail-Entdeckungsreise durch die wilden Hochpyrenäen starteten wir mit dem schwersten Brocken weit und breit: der Abfahrt vom Pic du Midi. Schon aus dem Seilbahnfenster blickend zweifeln wir, ob wir nicht lieber unsere Kletterausrüstung hätten einpacken sollen. Die höchste Sternwarte Frankreichs thront auf einem Gipfel, der nach allen Seiten nahezu vertikal abbricht, und wir surren direkt darauf zu. "An guten Tagen kannst du von hier bis zum Leuchtturm von Biarritz sehen, 150 Kilometer Luftlinie von hier", versucht uns Robin abzulenken. Aber unser Blick gehört den jähen Abgründen rings um die Besucherplattform. Bis ich endlich in der steilen Südflanke eine Spur entdecke, die dem verblockten Terrain so etwas wie eine Abfahrt abtrotzt.
"Es wird sehr technisch", verkündet Robin, als wir aus der Seilbahn steigen. Mich fröstelt – was aber auch an der kräftigen Brise liegen kann, die uns hier oben empfängt. "Weiter unten warten aber auch viele Abschnitte, auf denen es richtig gut rollt," beschwichtigt unser Begleiter.
Im Zickzack tasten wir uns die ersten 200 Tiefenmeter ein mondartiges Geröllfeld hinunter. Die erste Kehre schiebe ich, die zweite rutsche ich auf Knieschonern – doch dann läuft’s: Unter den Stollen gerät das scharfkantige Geröll erst noch ins Rutschen, dann hakt es sich immer fester in den Boden und die Reifen bekommen Grip. Die Blockhalde weicht nach und nach dem struppigen Bewuchs von Almwiesen und ab dem kristallklaren Bergsee Lac d’Oncet weiten sich auch ein paar Kurven. Kuhherden, Ziegen und Lamas haben hier einen Naturpfad in die Bergweiden getrippelt und dabei nicht unbedingt auf durchgängigen Flow geachtet. Immer wieder erinnern uns Passagen mit Spitzkehren, Rinnen oder Felsbrocken im staubigen Untergrund daran, in welch anspruchsvollem Gelände wir unterwegs sind. Bald entdecken wir sogar Spuren anderer Biker im Untergrund. Bei Sonnenaufgang, berichtet Robin, seien 260 Teilnehmer eines Bike-Rennens vom Gipfel des Pic du Midi gestartet. Pyr’Epic nennt sich die 116 Kilometer lange Zweitages-Challenge. Episch daran sind vor allem die Abfahrten: Dank zweier Sessellifte sind doppelt so viele Tiefen- wie Höhenmeter zu bezwingen, nämlich 4400 bergauf und 9000 Höhenmeter runter.
Wir wollen dem Streckenverlauf der Pyr’Epic bis Cauterets folgen. Sollte kein Problem sein – zumindest laut Karte. Bloß stehen schon in Luz 2700 Meter Abfahrt und 500 nicht minder anstrengende Höhenmeter auf dem Tacho. Die kilometerlange Auffahrt zum nächsten Col treten wir daher bereits mit weichen Beinen an. Robin kurbelt mit stoischer Ruhe bergan, ich leide dagegen an Schnappatmung, als wir gut 1400 Höhenmeter weiter oben endlich den Col de Riou erreichen. Dieser ist kaum mehr als eine Kreuzung wilder Pfade inmitten einer urtümlichen Hochgebirgslandschaft. Wir wählen einen sieben Kilometer langen Bilderbuch-Trail, der Naturflow mit Spitzkehren, Felsabsätze mit Geschwindigkeitsrausch und Wurzeltreppen mit traumhaft lang gezogenen Kurven kombiniert. Nur manche Kehre zieht sich schon sehr arg zu und so manche Fahrlinie erschließt sich in den ausgewaschenen Rinnen erst, wenn es schon fast zu spät ist. Doch unten steigen wir zufrieden strahlend vom Bike – völlig ausgelaugt.
Abends in Cauterets schlurfen wir auf wackligen Beinen ins klassizistische Casino des Thermalorts. Laute Bässe wummern aus Lautsprechern, an den vollbesetzten Tischen im und vor dem Gebäude schaufeln müde Fahrer des Pyr’Epic-Rennens Pasta mit Fleischsoße.
Patrice Bordères, der Präsident des örtlichen Bikeclubs aus Lourdes, winkt uns an seinen Tisch und lädt uns zum Essen ein. Bei Rotwein aus Plastikbechern gerät er ins Schwärmen: "Die Natur in den Pyrenäen ist noch intakt. Großartig und wild! Es gibt hier sehr, sehr lange Abfahrten und sehr harte Anstiege. Diese wollten wir in einem Rennen zusammenfassen. Wir haben ein paar Trails in der Vorbereitung entdeckt, die wir selbst vorher nicht kannten. Traumhaft!" Auch Manuel und Adán, zwei Endurobiker aus dem spanischen Saragossa, sind hellauf begeistert von den Strecken auf der französischen Seite der Pyrenäen: "In Spanien sind die Trails noch technischer, hier gibt es mehr Flow als bei uns. Fantastisch." Bloß eine Sache sei nicht ganz so fantastisch: "Die Zeit wird auch in den Auffahrten genommen, bei uns ist das anders. Hätten wir das gewusst, hätten wir leichtere Bikes mitgebracht." Wobei die beiden sicher kein Hardtail meinen. Wer wäre schon so verrückt und würde sich in dieses Hochgebirge ohne Federung wagen? Bruno Valcke ist so jemand. Im Sommer ist Bruno Bikeguide, im Winter führt er Skitourengeher über die Gletscher der Pyrenäenspitzen. Wir lernen den schlaksigen Franzosen zwei Tage später kennen. Die Pyr’Epic ist da längst vorbei. Und längst steht fest, dass von den 260 Starten bloß 160 ins Ziel kamen. Bruno wurde Vierzehnter – mit seinem Hardtail. Doch er versichert: "Noch mal mache ich das nicht. Es war eine gute Erfahrung, aber eigentlich mag ich es ruhiger." Was der leichtfüßige Local unter "ruhig" versteht, merken wir auf der Asphaltauffahrt, die uns zu einem Traumtrail in den Gletscherkessel von Gavarnie bringen soll. Während er die raue Schönheit der umstehende Berge preist und über die Historie der Gegend plaudert, kommen wir mit unseren schwereren Fullys kaum hinterher.
Oben tut sich ein halbkreisförmiger, gigantischer Bergkessel mit nahezu senkrechten Wänden vor uns auf – der Cirque de Gavarnie. Der Umfang der Wand betrage 14 Kilometer. Bruno zeigt auf den höchsten Gipfel des Felsenzirkus: "Ganz rechts, das ist der Marboré. Er ist 3248 Meter hoch." Der gigantische Gletscher, der das Tal schuf, reichte einst bis nach Lourdes. Etwa auf halber Höhe schießt weiße Gischt aus dem Fels: Der höchste Wasserfall Europas, gespeist von einem unterirdischen Gletschersee, fällt über 422 Meter in die Tiefe. Über einer Almwiese etwas weiter weg sehen wir Dutzende Geier kreisen. "Dort wird wohl eine Kuh abgestürzt sein", vermutet Bruno – und auch das sind die Pyrenäen: Bartgeier und Braunbären finden hier noch Rückzugsräume, weil manche Schluchten und Täler für den Menschen einfach unzugänglich oder gesperrt sind. Gott sei Dank!
REVIER-HIGHLIGHTS, ALLGEMEINE INFOS UND SZENE-SPECIALS
Seit vielen Jahren pilgern passionierte Rennradfahrer in die Zentralpyrenäen. Eine radfahrerfreundliche Infrastruktur ist also bereits vorhanden. Neben ersten Bikeparks und Shuttle-Angeboten kann man sich inzwischen auch an einer Worldcup-Strecke und einem Epic-Rennen versuchen.
Allgemeine Infos
Das Revier
Die französischen Hochpyrenäen (Hautes-Pyrénées) zeichnen sich besonders durch ihre beeindruckende Vertikalität aus. Nähert man sich von französischer Seite, erhebt sich recht abrupt eine dunkle, massive Wand hintereinander gestaffelter Bergriesen. Die Kette der Zwei- und Dreitausender bildet den zentralen Bereich des 430 Kilometer langen Faltengebirges, das von der Atlantikküste bis ans Mittelmeer reicht und dessen höchste Grate die Grenze zwischen Frankreich und Spanien bilden. Die Pyrenäen entstanden, wie die Alpen, vor rund 50 bis 100 Millionen Jahren.
Eiszeitliche Gletscher haben eine Vielzahl an Hängetälern, Gletscherseen und tiefen Taleinschnitten geformt. Dank der Tour de France sind mythenumrankte Pyrenäen-Pässe wie der Tourmalet, der Col d'Aspin oder der Col du Soulor Radsportfans längst ein Begriff. Doch während man auf den asphaltierten Bergstraßen Myriaden von Rennradlern aus aller Welt begegnet, sieht es auf den schmalen Gebirgspfaden ganz anders aus: Meist sind die Trails durch die wilde Hochgebirgslandschaft wie leergefegt. Selbst episch lange Traumabfahrten hat man meist für sich allein. Dabei unterstreichen nicht nur die nach und nach entstehenden Bikeparks die hohe Trailqualität der Region, sondern auch der UCI-Downhill-Weltcup, der 2017 in Lourdes stattfand. Der Pic du Midi du Bigorre ist mit seinen 2877 Metern zwar nicht der höchste Gipfel der Pyrenäen, aber dank seiner pyramidenhaften Form und der Sternwarte auf dem Gipfel schon weithin sichtbar. Von seiner riesigen Besucherterrasse bietet sich ein atemberaubender Rundblick über die gesamte Pyrenäen-Kette, im Norden erspäht man sogar die ersten Ausläufer des Zentralmassivs.
Anreise
Am besten mit dem eigenen Wagen. Lourdes, am Fuße der Pyrenäen, erreicht man per Flugzeug nur mit Zwischenstopp oder dreimal täglich ab Paris mit dem TGV.
Geführte Touren
Die Guides Robin Sally und Bruno Valcke bieten geführte Biketouren an und organisieren bei Bedarf einen Shuttleservice. Robin Sally, Tel. 0033/63/2225737, www.montavelo.com; Bruno Valcke, Tel. 0033/63/065531, www.bivouac.fr
Bike-Shop/Verleih
• Café und Verleih, Bike & Py, 16, Esplanade du Paradis, 65100 Lourdes, Tel. 0033/562414426, www.bikeandpy.com
• Bike-Verleih und Werkstatt, Alex Sports, Rue de la piscine, 65170 Saint-Lary-Soulan, Tel. 0033/562392895, www.alex-sports.com
Karten/Literatur
• Wanderkarten der IGN, Top 25, Série bleue, Nr. 1647, ET, 1747 ET, 1748 OT, 1748 ET, 1:25000, 12 Euro; Übersicht: Straßenkarte Michelin Local, Hautes-Pyrénées, Nr. 342, 1:150000, 8,99 Euro.
• Reiseführer: Midi-Pyrénées, Michael Müller-Verlag,19,90 Euro. Top recherchiertes Reisehandbuch, das zwar ein deutlich größeres Gebiet als die Zentralpyrenäen umfasst, aber mit einigen hintergründigen Infos auch über die Bergregion aufwartet.
• Rother Wanderführer: Pyrenäen 2, Französische Zentralpyrenäen: Arrens bis Seix, 14,90 Euro. Die Rother-Wanderführer: hervorragend recherchiert, liefert die rote Wanderbibel reichlich Inspirationen zur eigenen Tourenplanung.
Unterkünfte
Cauterets: Hotel Christian, 10 rue Richelieu, www.hotel-christian.frVal d'Azun: Hotel Picors, 6 Rue du Picors, www.hotel-picors.com
Szene-Specials
Bikeparks in Cauterets und Saint Lary
• Vom Gletscherkessel Cirque du Lys oberhalb von Cauterets stürzen sich drei Pisten mit Kunstflow über 1500 Höhenmeter ins Tal. Ein Tagesticket kostet 17,50 Euro für Erwachsene und 14,50 Euro für Kinder. Der Park ist zwischen dem 13.7. und 3.9.2017 täglich von 10 bis 17:15 Uhr geöffnet. www.cauterets.com/bikepark
• Etwas größer ist der Bikepark in Saint Lary mit neun Pisten unterschiedlichen Niveaus. Die längste misst 5,6 Kilometer (600 hm) und in dieser Saison soll eine neue Abfahrt über weitere 800 Höhenmeter bis zur Talstation der Seilbahn hinzukommen. Geöffnet ist der Park zwischen Anfang Juli und Ende August, täglich von 9:45 bis 16:45 Uhr. Ein Tagesticket für die Seilbahn kostet 18,80 Euro. An der Talstation befinden sich Bikeshops und -verleih. Infos: www.sancy.com/superbesse/vtt
Mythische Pässe
Selbst abfahrtsorientierte Biker halten sich in den Pyrenäen mit dem Rennrad fit. Wenn er nicht gerade neue Strecken in den Hang fräst oder mit seinem Endurobike gen Tal rauscht, erklimmt Nicolas Bonneau, Gründer des Bikeparks in Saint Lary, am liebsten auf schmalen Reifen die legendären Pyrenäen-Pässe. Sein Lieblingspass: der 1580 Meter hohe Col d'Azet bei Saint Lary. Wenn man also schon mal in der Gegend ist: Eine Pass-Auffahrt mit dem Rennrad ist eigentlich ein Muss! www.pyrenees-cyclo.com
Lourdes
Die Pilgerstadt am Fuße der Pyrenäen hat auch eine Wallfahrtsstätte für Biker im Angebot: Der Weltcup-Downhill stürzt sich auf nur zwei Kilometern über 477 Höhenmeter vom Pic du Jer ins Tal. Dabei zugezogene Schrammen kuriert man praktischerweise in der örtlichen Mariengrotte. Nach der Wunderheilung geht es wieder rauf mit der Zahnradbahn. Die einfache Fahrt kostet 7,50 Euro, eine Halbtageskarte 15 Euro. Info: www.picdujer.fr
Pyr’Epic
Das All-Mountain-Etappenrennen vom Pic du Midi bis nach Lourdes fand 2016 das erste Mal statt – und weniger als zwei Drittel der Starter kamen ins Ziel. Die nackten Zahlen: 2 Tage, 116 km, 4400 Höhenmeter und 9000 Höhenmeter bergab. Nächster Termin: September 2018. www.lourdesvtt.com
Infos Allgemein
de.rendezvousenfrance.com und www.pyrenees-mtb.com
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