Matthias Rotter
· 08.09.2016
Beim Nachbarn ist das Gras ja immer grüner, sagt man. Doch in den Vogesen, direkt gegenüber dem Schwarzwald, passt die Redensart wirklich. Hier sind die Trails länger, spannender und dazu erlaubt.
Das Flämmchen lodert gelb und blau, spendet Wärme und Trost. Das ist auch dringend nötig, denn die Vogesen zeigen uns zum Auftakt ihre nasskalte Schulter. Urplötzlich waren die Wolken hereingezogen und verhüllten das Gebirge mit einem fiesen Grauschleier. Bei einem solchen Sauwetter steigt der Franzose selbstverständlich nicht aufs Mountainbike. Thomas Dietsch reibt seine Hände symbolisch an der Mini-Flamme und grinst schelmisch. Denn wir sitzen keineswegs irgendwo im tiefen Wald beim Survival-Training am Lagerfeuer, sondern in einem gemütlichen Restaurant im Örtchen Kaysersberg. Langsam erlischt die Flamme auf der Crème Brulée und hinterlässt eine knusprige Karamellkruste.
"Noch einen Kaffee zum Dessert?" Der Wirt schaut in die Runde. Allgemeines Nicken. Angesichts derartiger kulinarischer Leckereien lässt sich das Trommeln der Regentropfen gegen die Scheiben locker aushalten. "Savoir vivre" nennt man das jenseits des Rheins. Obwohl – so richtig französisch scheint das Elsass nicht zu sein. Die Weinberge erinnern an den benachbarten Kaiserstuhl, die Ortsbezeichnungen klingen ziemlich deutsch, und das gilt auch für den Namen unseres prominenten Guides. Marathon-Ass Thomas Dietsch will die Auszeit zwischen zwei Rennwochenenden nutzen, um uns die schönsten Trails in seinem Heimrevier zu zeigen. Beim Blick durch die beschlagenen Scheiben bin ich mir zwar nicht so sicher, ob das heute noch klappt. Aber Thomas ist optimistisch. "Der Wetterbericht gelobt ab Nachmittag Besserung." Zur Bekräftigung durchsticht der Elsässer hingebungsvoll die braune Zuckerschicht auf der Kalorienbombe. Ein neidvoller Blick auf seine hagere Figur bestätigt, dass er es sich leisten kann: kein Gramm zu viel auf den Knochen.
Drei Kaffees später dreht tatsächlich jemand da oben den Hahn zu. Fünfzehn Uhr – noch genügend Zeit für eine schnelle Runde. Mon dieu! Wenn einer wie Thomas Dietsch von einer schnellen Runde spricht, dann löst das in meinen Beinen Alarm aus. Meine Nervosität erweist sich jedoch bald als unbegründet. Denn als Pro hat Dietsch überhaupt kein Problem damit, auch mal drei Gänge zurückzuschalten. Aufgrund des fortgeschrittenen Tages beschließt er, die ursprünglich geplante Tour bis auf die Essenz einzudampfen: ein Singletrail, der sich vom Col du Wettstein kilometerlang über einen Bergrücken zieht, um dann in idealem Gefälle ein paar Hundert Höhenmeter zu vernichten. Als wir am Pass in den Pfad einbiegen, hat der Wind die meisten Wolken vertrieben. Warmes Abendlicht ergießt sich über die kahlen Kuppen und bringt das herbstgelbe Gras zum Leuchten. Ein paar gescheckte Kühe schauen uns interessiert beim Trailsurfen zu. Endlich mal was los hier oben.
Diese fünf Touren haben wir für Sie gecheckt - die GPS-Daten finden Sie unten als Download:
• TOUR 1: Weinberge & Trails (34,8 km | 906 hm | 3:00 h) – leicht bis mittelschwer
• TOUR 2: Col Du Bonhomme (33,2 | 1035 hm | 3:30 h) – leicht bis mittelschwer
• TOUR 3: Lac de Schiessrothried (31,3 km | 850 hm | 2:30 h) – leicht
• TOUR 4: Drei Seen Runde (50 km | 1485 hm | 5:30 h) – mittelschwer
• TOUR 5: Petit Ballon (38,4 km | 1139 hm | 4:00 h) – mittelscher
"Der Hauptkamm der Vogesen ist eine Wetterscheide, die Wolken aus dem Westen abhält. Das beschert dem Bike-Revier auf der Ostseite überdurchschnittlich oft trockene Trails."
Der Hauptkamm der Vogesen liegt nochmals vierhundert Meter höher, scheint aber zum Greifen nah. Im benachbarten Munstertal kriechen bereits lange Schatten über die Hänge. Kaum zwei Stunden nach dem Wolkenbruch sind die Wege schon wieder erstaunlich trocken. Rötlicher Sand hat die Nässe aufgesaugt, eine wirksame Drainage der Natur. Nur im Wald, in den wir bald eintauchen, steht noch die Feuchte zwischen den Bäumen. Griffiger Boden verschluckt unsere Fahrgeräusche, die Stille wirkt fast andächtig. Bereits am Col du Wettstein haben wir einen Soldatenfriedhof passiert, nach einigen Kilometern am Collet du Linge folgt der nächste. Kaum zu glauben, dass in dieser Idylle vor rund einhundert Jahren der Erste Weltkrieg mit voller Wucht tobte. Deutsche und Franzosen lagen sich am Linge nur wenige Meter voneinander entfernt in Schützengräben gegenüber. Die Chronik von 1915 berichtet von Artilleriefeuer, das den Berg mit ungeheurer, noch nicht erlebter Gewalt erbeben ließ. Jahrelang. Zehntausende starben. Die Frontlinie aber verschob sich kaum.
Wir lassen den Wahnsinn der Vergangenheit hinter uns. Thomas genießt den Flow dieser Pfade, seit er in den frühen Neunzigern das erste Mal auf einem Mountainbike saß. "Die Vogesen begeistern mich noch immer bei jeder Ausfahrt", schwärmt er: "Die Berge sind nicht so spektakulär wie in den Alpen, aber dafür sorgen die Trails für maximalen Fahrspaß." Sein Tipp: Den besten Flow findet man unterhalb der 1000-Meter-Höhenlinie. Richtung Hauptkamm sind die Wege zunehmend mit Felsen gespickt und fahrtechnisch anspruchsvoller. Am Gipfel des Galtz’ breitet eine überdimensionale Jesus-Statue ihre Arme über uns aus. Der Aussichtspunkt hoch über seinem Heimatort Ingersheim ist Dietschs Lieblingsplatz. Inzwischen ist der Himmel aufgeklart, und es herrscht eine wunderbare Abendstimmung. Der Blick reicht über die Rheinebene bis hinüber zum Schwarzwald. Wie Miniaturen schmiegen sich Weindörfer in die Wellentäler am Rand der Vogesen. Im letzten Tageslicht rauschen wir zu Tal.
"Die Vogesen sind vielleicht nicht so spektakulär wie die Alpen. Dafür haben unsere Trails mehr Flow. Der griffige Waldboden unterhalb der 1000-Meter-Marke ist ein Genuss."
Viertel vor neun am nächsten Morgen. Wir treffen uns beim Bäcker in Kaysersberg. Erstmal einen Café au Lait zum Aufwachen, dazu ein paar knusprige Croissants. Einheimische laufen mit den obligatorischen Baguettes unterm Arm durch die Gassen. Man ist unter sich. Noch sind die Busse mit den Touristen nicht angekommen. Denn mit seinen pittoresken Fachwerkhäusern gilt Kaysersberg als einer der schönsten Orte im Elsass. Am Nachbartisch unterhalten sich ein paar rüstige Rentner im Elsässer Dialekt. Die vom Aussterben bedrohte Sprache klingt wie eine amüsante Mischung aus Französisch, Schwäbisch und Schweizerdeutsch. Dann schwingen wir uns aufs Bike. Lac Noir, Lac Blanc und Lac du Forlet heißen die Ziele, kleine Stauseen entlang des Vogesen-Hauptkamms. Die Höhenmeter erkämpfen wir uns auf einem ruppigen Weg, der sich ab Orbey in direkter Linie in die Vertikale legt. Wer auch nur einen Tritt auslässt, wird mit sofortigem Stillstand bestraft. Die Chance zum Wiederanfahren: ungewiss.
Entsprechend durchgegart erreichen wir den Lac Noir, der spektakulär in einer Felsmulde liegt. Leider führt auch eine Hauptstraße am See vorbei, was mitunter für ein ziemliches Touristenaufkommen sorgt. Doch Konflikte mit Wanderern gebe es in den Vogesen kaum, erzählt Thomas. Obwohl in Frankreich sogar etwas Ähnliches wie eine Zwei-Meter-Regel existiere, versteckt in irgendwelchen Paragraphen. Als ich überrascht nachfrage, winkt Thomas ab. ",Laissez-faire‘ heißt die Devise auf unseren Trails", gegenseitige Rücksichtnahme. Rund um den Haufenwannkopf schlängeln sich die Pfade besonders einladend durch die Wiesen. Aber zuerst einmal machen wir Rast am Aussichtspunkt. Dietsch ist kein abgeklärter Kilometerfresser, der nur anhält, wenn er einen Platten hat. "Ich brauche ein schönes Ziel, um mich zu motivieren", erzählt er, während sein Blick über die epische Landschaft schweift. "Und wenn ich oben bin, nehme ich mir immer ein paar Minuten zum Genießen." Es sei ihm eine Herzensangelegenheit, die Freude am Bike-Sport und an der Natur an den Nachwuchs weiterzuvermitteln. Thomas trainiert regelmäßig mit den Jugendlichen des Bikeclubs Munster.
Im Hauptort des Munstertals startet auch unsere Abschluss-Tour. Tour-de-France-Experten dürften vom berüchtigten Petit Ballon schon mal gehört haben. Auf den ersten Blick ein harmlos wirkender Buckel, typisch für ein Mittelgebirge. Ausgerechnet dort hinauf führt aber eine extrem steile Pass-Straße – mehr Schlaglochpiste als Asphaltband – die selbst Alberto Contador das Fürchten lehrte. Er steuert dort bei der Tour 2014 in den Graben und musste das Rennen aufgeben. Zu Bikern ist der Berg wesentlich freundlicher.
"Jeder Flow-Trail am Petit Ballon rollt besser als diese Folterpiste", erfahren wir von Bruno, einem Local aus Munster. Der Bikeguide will uns die besten Trails an seinem Hausberg zeigen. Und er hat nicht zu viel versprochen. Schon der herrliche Anstieg zum Gipfel lässt unsere Herzen höher schlagen, nicht nur, weil es ordentlich bergauf geht. Ab der Waldgrenze schrauben wir uns auf einem aussichtsreichen Wiesenpfad in die Höhe. Jetzt wird auch klar, warum der Berg zu deutsch "Kahler Wasen" heißt. Oder ganz frei übersetzt: Glatze mit Aussicht. Die Madonnenstatue am höchsten Punkt hat sich wirklich einen Premiumplatz gesichert, das 360-Grad-Panorama ist tadellos. Das gilt auch für die Pfade, die Bruno für die Abfahrt in petto hat. Zuerst umrunden wir die Glatze, so, dass jede Himmelsrichtung optisch zur Geltung kommt. Dann wechseln sich griffige Wiesen-Trails mit schattigen Waldwegen ab. Man weiß nicht, was man besser finden soll. Die Entscheidung wird uns bald abgenommen, denn mit dem ellenlangen Downhill nach Soultzbach hat Bruno noch ein Ass im Ärmel. Und was für eins! Dieser Singletail will einfach kein Ende nehmen. Jetzt wird mir klar, warum sich Gott ausgerechnet in Frankreich so wohl fühlt. Apropos: Wenn wir unten sind, wäre es eigentlich mal wieder Zeit für eine leckere, flambierte Crème Brulée.
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Fünf Dinge, die man in den Vogesen nicht verpassen darf.
1. Flammkuchen essen
Den Flammkuchen als "Elsässer Pizza" zu bezeichnen, wird diesem kulinarischen Ereignis nicht gerecht. Auch wenn es sich hier ebenfalls um einen belegten Teigboden handelt. In der Ur-Version besteht der Belag aus rohen Zwiebeln und Speck. Clou ist jedoch die Creme aus Schmand, die dem Flammkuchen seine leicht säuerliche, frische Note verleiht. Tipp: Flammkuchen modern interpretiert gibt es im Flamme & Co. in Kaysersberg oder Colmar. Info www.flammeandco.fr
2. Weinprobe
Die Ostflanke der Vogesen ist die Sonnenseite des Gebirges. Die aus Westen nahenden Tiefs regnen sich jenseits des Hauptkamms ab. In der Folge entsteht ein Fallwind, der mild ins Rheintal hinabbläst. Beste Hanglage für Weinreben! Die Weine aus der Region Kaysersberg gelten als besonders edle Tropfen. Zahlreiche Weingüter bieten Führungen und Proben an.
3. Colmar
Die drittgrößte Stadt im Elsass liegt am Eingang der Täler von Kaysersberg und Munster. In der mittelalterlichen Innenstadt drängen sich Fachwerkhäuser um das Martinsmünster mit seinem 71 Meter hohen Turm. Unbedingt ansehen: Das Stadtviertel Krutenau, bekannt als "Klein-Venedig", ist durchzogen von Wasserkanälen. Und wie in der italienischen Lagunenstadt kann man sich auch in Colmar in langen Kähnen durch die Stadt schippern lassen. Info www.ville-colmar.fr
4. Mémorial du Linge
2015 war es genau 100 Jahre her, dass am Lingekopf 17000 Soldaten – Deutsche und Franzosen – ihr Leben lassen mussten. Diesen blutigen Kämpfen folgte ein sinnloser Stellungskrieg, der sich über drei Jahre hinzog. Heute befindet sich am Col du Linge ein Museum, das an dieses Schlachtfeld erinnert. Die Bunker und Schützengräben erzeugen immer noch ein Gefühl der Beklemmung. Man passiert den Col du Linge auf Tour 4. Info www.linge1915.com
5. Munster-Käse
Die schwarz gesprenkelte Vogesen-Kuh ist den Einheimischen heilig, fast wie in Indien. Ihre Milch ist der Rohstoff für den Munster-Käse. Der kräftige Käse besitzt eine orangefarbene Rinde und ist über die Grenzen des Munstertals hinaus berühmt. Unbedingt in einer Ferme Auberge probieren: Der Munster als einen Tag junger Frischkäse, angerührt mit Honig oder Kirschwasser! Zum Beispiel bei der Fromagerie du Glasborn (Tour 4).
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INFOS VOGESEN
Das Revier Vogesen und Schwarzwald waren mal ein Gebirge. Heute trennen sie das Rheintal und die französische Grenze. Dennoch kann man die beiden Mittelgebirge gut miteinander vergleichen. Die Vogesen verlaufen westlich des Rheins, beginnend im Süden auf Höhe Mulhouse, endend im Norden auf Höhe Karlsruhe. Das Bike-Revier liegt im zentralen Teil der Vogesen, im Einzugsbereich der Täler von Kaysersberg und Munster. Etwas weiter südlich ragt mit dem Grand Ballon (1424 m) der höchste Berg des Mittelgebirges auf. Charakteristisch ist der ausgeprägte Hauptkamm mit seinen kahlen Kuppen.
Anreise
Aus Bayern und Baden-Württemberg über die A8 oder A6 ins Rheintal. Aus Norden über die A5 und A3. Ab Karlsruhe weiter gen Süden. Auf der Höhe von Offenburg nach Frankreich und über Sélestat und Colmar nach Kaysersberg oder Munster.
Karten und Touren-Infos
Supertrail Map "Vosges/Lac Blanc", 1:25000, www.supertrail-map.com und Wanderkarte "Vallée de Munster" IGN, 1:25000, erhältlich vor Ort in den Tourismusbüros
Unterkünfte
In den Tälern von Kaysersberg und Munster findet man zahlreiche Unterkünfte, von Camping bis Hotel. Übersichten auf den jeweiligen Websites. Tipps:
Hotel Hassenforder, 129 Rue du Général de Gaulle, 68240 Kaysersberg, Tel. 0033/(0)389/471354, www.roger-hassenforder.com, Roger Hassenforder ist ein ehemaliger Tour-de-France-Profi, dessen Familie das Biker-freundliche Hotel führt.
Auberge et Chalets de la Wormsa, 72 Rue de l’Altenhof, 68380 Metzeral, Tel. 0033/(0)389/777290, www.alsace-chalets.fr, urig-modere Chalets inmitten der Natur
Bikeshops
Bike Air (Mobiler Bikeservice), 1 Rue Klobb, 68150 Ribeauville, Tel. 0033/(0)681/115899, www.bikeair.fr
Veranstalter
Top-Bike-Trails in Schonach, Tel. 0049/(0)7722/920751, www.top-bike-trails.com und Formanature in Munster,
Tel. 0033/(0)698/220700, www.rando-alsace.com
Infos allgemein
Office du Tourisme de la Vallée de Kaysersberg, Tel. 0033/(0)389/782278, www.kaysersberg.com
Diesen Artikel finden Sie in BIKE 1/2016. Sie können die gesamte Ausgabe in der BIKE-App (iTunes und Google Play) lesen oder als Print-Heft im DK-Shop nachbestellen (solange der Vorrat reicht):