Dan Milner
· 05.10.2022
Abenteurer Dan Milner macht sich auf die Suche nach den Geistern der Vergangenheit in der Hauptstadt der Alpinisten: Chamonix. Er findet nicht nur Lost Places, sondern berichtet auch von einem der abenteuerlichsten Trails, die er je fahren ist.
Ein Mal! So oft bin ich das Cosmiques-Couloir in Chamonix hinuntergefahren – eine fünfundvierzig Grad steile, zehn Meter breite Rinne, die sich 800 Höhenmeter durch Felsen stürzt. Das mache ich nie wieder! Denn dieses Snowboard-Erlebnis beruhte nur auf zwei Dingen – meinem Eispickel und meiner Hoffnung. Also genau die Art von „großartigem“ Tagesausflug, die Menschen nach Chamonix lockt. Menschen, die sich etwas beweisen müssen. Aber ich habe mir nichts zu beweisen, nicht mehr. Wenn ich eine Abfahrt auf dem Bike oder dem Snowboard verletzungsfrei und mit einem Lächeln beenden kann, dann bin ich glücklich.
Jetzt stehe ich mit dem Schweizer Profi Ludo May und Chamonix-Local Jez Wilson neben einer verfallenen Liftstation und blicke auf diese fiese, vereiste Rinne, die mich vor einem Jahrzehnt so erschreckte. Ich bin froh, dass wir uns heute auf Dirt konzentrieren, nicht auf Eis, denn vor unseren Füßen beginnt eine 1400-Höhenmeter-Abfahrt. Feinster, sich windender Singletrail durch alpines Gelände. Einen Eispickel brauchen wir hier nicht, Hoffnung dagegen sollte man immer dabeihaben, wenn man sich Chamonix als Spielplatz aussucht.
„Chamonix – die französische Stadt in den Alpen hat den Ruf, das Leben außerhalb der Komfortzone zu zelebrieren.“ Dan Milner, Abenteurer
Unser Trail kippt nahe der Fall-Linie den Berghang hinunter, schwingt nur ein paar Mal nach links und ein paar Mal nach rechts – als hätte ihn jemand mit einem Stift auf die Karte gezeichnet, dem bald die Tinte ausgeht. Wir kennen die Herausforderungen, schließlich haben wir uns gerade vier Stunden hier hochgekämpft, mit den Bikes auf dem Rücken. Wir kennen die Felsplatten, die sich schmierig und glatt im Schatten verstecken. Wir kennen die Spitzkehren, die den Trail nur kurz aus der Fall-Linie boxen. Aber was soll ich hier auch anderes erwarten? Das ist Chamonix! Eine französische Stadt in den Alpen mit einem „extremen“ Image und dem Ruf, das Leben außerhalb der Komfortzone zu zelebrieren.
Ein Ruf, der seit einem Jahrhundert Alpinisten, Skifahrer und sensationslustige Touristen anlockt und dazu geführt hat, dass die Gipfel rund um Chamonix mit verlassener Infrastruktur übersät sind – wie die ausrangierte Glaciers-Liftstation, neben der wir gerade stehen. Diese Überbleibsel wiederholter Versuche, zerklüftete, lebensfeindliche Gipfel zu bezwingen, sind jetzt unsere Ausrede für einen coolen Tag auf dem Bike. Ich sage: Wer würde nicht die Chance ergreifen, einen Haufen alter Geisterbahnen zu erkunden, die durch ein Netz von Singletrails miteinander verbunden sind?
Wir begannen unsere Mission früh und nahmen direkt den steilen Aufstieg in Angriff mit der Gletscherstation im Visier. Während wir durch den Wald nach oben stiegen, schauten wir uns das Gelände ganz genau an: Felsen, die wie eine Rampe auf dem Trail liegen – ideal, um abzuziehen. Wurzeln, die wir mit den Augen sortierten, um die beste Linie durchs Gewirr zu finden. Gerümpel, dem wir entweder ausweichen oder das wir geschickt durchfahren könnten. Wir versuchten, uns all die Features zu merken für die Abfahrt und hofften, dass noch genügend Licht vorhanden sein würde, um sie zu erkennen – immer ein Glücksspiel, wenn man lange Touren mit kurzen Herbsttagen kombiniert.
Nach neunzig Minuten und sechshundert Höhenmetern erreichen wir eine Lichtung neben einem Gebäude aus Granit: die verlassene Para-Liftstation aus dem Jahr 1924. Sie ragt in den Himmel, als wolle sie den zersetzenden Absichten des Waldes entkommen, aber am Boden ist der Kampf verloren; aus dem Zement der Fundamente sprießen Schösslinge, und Unkraut quillt in die dunklen, feuchten Gewölbe des Gebäudes. Wir folgen ins Innere und rollen eine Reihe von ehemals dekorativen Steintreppen hinunter. Hier unten rosten Maschinen; es riecht nach Schmieröl. Eine genietete Seilbahn, Baujahr 1937, hängt noch immer am Seil. Einsteigen? Lieber nicht!
Wir setzen unseren Aufstieg fort, lassen die Baumgrenze hinter uns und entdecken die Ruinen der Pierre-Pointue-Hütte. In den 1840er-Jahren war sie die erste Station auf dem damals gerade populär gewordenen Aufstieg zum Mont Blanc, doch von der Hütte ist heute nur noch ein Viereck aus zerbröckelten Mauern übrig, das von Wacholderbüschen verschluckt wird. Wir blicken auf spektakuläre Gipfel und den nahe gelegenen Bossons-Gletscher. Er ist berüchtigt für seine tückischen Spalten und zwei furchtbare Flugzeugabstürze. 1950 und 1966 prallten zwei indische Passagierflugzeuge gegen die Felshänge des Mont Blancs. Eines nur 60 Meter unterhalb des Gipfels. Der Pilot dachte, den Mont Blanc schon überflogen zu haben. Ein tödlicher Irrtum. Im ersten Flugzeug saßen 58 Menschen, im zweiten 117 – niemand überlebte die Abstürze, und noch heute werden im Schnee des Gletschers Flugzeugsitze gefunden, Koffer, Schuhe, eine abgetrennte Hand. Einmal entdeckten Bergsteiger sogar eine Metallbox mit der Aufschrift: India. Darin: Edelsteine im Wert von einer viertel Million Euro.
Nach mehr als vier Stunden erreichen wir unser Ziel: die Station der Glaciers-Gondel. Wir stellen unsere Räder ab, beißen in Käse-Baguettes, trinken das beste Wasser der Welt und freuen uns auf die 1400-Höhenmeter-Abfahrt.
Weit über unseren Köpfen, nur einen Steinwurf vom berüchtigten Cosmiques-Couloir entfernt, sehen wir die winzigen Fragmente einer dritten verlassenen Liftstation, die einen weiteren Kilometer höher an einem Felsvorsprung klebt – ein winziger, stählerner Vorstoß industriellen Knowhows und nietenbesetzter Tapferkeit. Die Liftstation wurde erbaut, als der Tsunami der Industrialisierung über die Alpen schwappte und Ingenieure versprachen, die Berge mit Hilfe von Technik erobern zu können. „Das ist verrückt“, sagt Ludo und schüttelt den Kopf über die steil aufragende Silhouette. Ludo ist auf der anderen Seite der Schneefelder des Mont Blancs aufgewachsen, in der Nähe von Verbier in der Schweiz. Er kennt die Berge seit seiner Geburt, aber diese haarsträubende Gondelbahn verblüfft selbst ihn. Sie war geplant als vorletzte Station der langen Seilbahn auf die 3842 Meter hohe Aiguille du Midi – heute dank einer modernen Gondel das bekannteste und meistbesuchte Wahrzeichen von Chamonix.
Mit dieser einsamen Plattform im Fels, in dünner Luft und von Stürmen umtost, hatten die Ingenieure zu viel gewollt. Vier Arbeiter stürzten beim Bau in den Tod, und einer erfror, als er versuchte, auf dem Gipfel zu übernachten. Später erfahre ich, dass die Stahlträger für den Bau dieser Bergstation von den Bauarbeitern über einen Pfad getragen wurden zwischen Gletscherspalten auf den nahe gelegenen Mer-de-Glace-Gletscher – eine ehrgeizige, zweitägige Wanderung, die unseren eigenen vierstündigen Aufstieg lächerlich erscheinen lässt. Aber unabhängig von den Risiken – Ingenieurs Ehrgeiz lässt sich kaum bändigen, und diese Bergstation hier oben ist im wahrsten Sinne des Wortes der Gipfel der technischen Ambitionen von Chamonix im Willen, die scheinbar unerreichbaren Gipfel für zahlenden Touristen zu erobern.
Ob man nun einen Lift baut oder ein Fahrrad den Berg hochschleppt, alpine Genüsse wollen hart erarbeitet werden: das Yin und Yang des Abenteuers. Seit Jahrtausenden sind die Menschen auf der Jagd nach Belohnungen risikofreudig. Sei es, ob sie damals Handel mit fernen Ländern betreiben wollten oder ob sie heute dem Endorphin-Schub hinterherjagen, den eine Spitzkehre über dem Abgrund auslöst. Wie auch immer die persönliche Komfortzone aussieht, es liegt uns im Blut, ihre Grenze auszutesten und zu versuchen, das Nicht-Verhandelbare neu zu verhandeln. Chamonix ist sicher nicht der einzige Ort in den Alpen, der einen dazu ermutigt, aber ein ganz besonderer – egal, welchen Zugang man zu den Bergen hat und welches Sportgerät man wählt. Heute fällt unsere Wahl auf Bikes. Während die Sonne zum Horizont sinkt, machen wir uns an die Abfahrt – und sind ganz kribbelig, wie’s werden wird.
Ich halte einen Moment inne, unterbreche meinen Flow durch einen Pedaltritt an einer besonders bösen Serpentine und denke an die Geschichte, die sich an diesem Berghang abgespielt hat. Das Geröllfeld um uns herum hallte einst vom Gejohle der Skifahrer, die nur mit primitiver Ausrüstung und Pioniergeist bewaffnet auf die unpräparierten Schneehänge losgelassen wurden. Im Jahr 1927 fand hier sogar ein französisches Skirennen und im Jahr darauf ein Weltcup statt, mehr als fünfzig Jahre bevor ich mein erstes Paar der damals noch viel zu schmalen Skier in die Hand bekam. Ich schaue auf die
komfortable Federung meines Enduros und seine dicken Reifen und schwöre mir, nie wieder einen Trail zu verfluchen.
Unsere Reifen knirschen durch Granitschotter und Bodenfrost, bis uns die Baumgrenze verschluckt. Die Sonne steht tief, wir müssen uns beeilen. Also: sparsam bremsen, Rhythmus finden, Flow erzeugen! Wir rollen durch einen alpinen Spielplatz, schwingen das Hinterrad durch Kehren, drücken uns ab über Felsplatten, landen wieder auf dem handtuchbreiten Trail mit aufgerissenen Augen und pochendem Herzen, denn der Abgrund lauert überall.
Aus Felsenmeer wird Lärchenwald, Steingerümpel weicht Wurzelfeldern. Wir hüpfen und carven, kurven und walzen über Äste, Erdklumpen und Steinplatten, rollen entlang eines brodelnden Gletscherbachs und erreichen den Mont-Blanc-Tunnel – ein weiterer Ort, der eine Tragödie erlebte. 1999 fing der Motor eines belgischen LKWs im Tunnel Feuer. Im Stau gefangen, gerieten die Menschen in Panik, 39 Menschen starben, und der Tunnel blieb für drei Jahre gesperrt. Wir rauschen vorbei am Tunnel mit seinem ständigen Autostau und biegen in einen Mini-Canyon mit vertikalen Wänden aus moosbewachsenen Steinen: die Ruinen der allerersten olympischen Bobbahn – sie wurde 1924 gebaut.
Hohe Kiefern umwachsen die alte Bahn und verstecken sie in einem Tunnel aus Zweigen. Sie wuchern aus den Steinmauern, sprengen den Zement, als wollten sie den Ruhm der olympischen Vergangenheit ungeschehen machen – einer Vergangenheit, die von schwersten Verletzungen und vier Todesfällen geprägt war und 1950 schließlich dazu führte, dass die Bobbahn stillgelegt wurde. Wir kurven auf dieser kilometerlangen Strecke hinunter, lassen uns durch die Turns tragen und müssen die Lenker unserer Bikes bei dieser Sturmfahrt verdammt gut festhalten – denn hier darf alles passieren, doch bitte kein Sturz!
Im letzten Licht des Tages bremsen wir in der Talsohle und blicken zurück auf die hoch aufragenden Gipfel hinter uns. Wir beobachten, wie die ferne Gletscherstation in die Dunkelheit gleitet, wie sie es seit fast einem Jahrhundert täglich tut. Stille und Kälte liegen in der Luft. Chamonix ist ein Ort der Geister und ein Ort der Abenteuer und Anstrengungen – so war es schon immer. Wir lächeln über unsere eigene
bescheidene Leistung und über die krasse Abfahrt, die wir gerade bewältigt haben.
Gemessen an den Geistern, die uns hier umgeben und gemessen an Chamonix-Maßstäben mag unser Triumph winzig sein, aber hier, inmitten hoch aufragender Berge, die ihre Belohnungen hartnäckig bewachen, ist jeder Sieg süß.