Peebles ist ein Dorf, das man dem ZDF als Rosamunde Pilcher-Kulisse nur ans Herz legen kann. Kleine, bunte Läden mischen sich zwischen rustikale Steinhäuser. Das Pub-Schild lässt sich vom Wind schaukeln, ein Herr in Anglerausrüstung hebt gut gelaunt die Rute zum Gruße und in der langen Schlange vor dem Fat Batard wird entspannt geratscht – heute gibt es wieder Robs berühmtes Sauerteig-Brot.
Nur wenige Kilometer gen Osten zeigt sich Innerleithen kaum weniger malerisch. Allerdings sind die Bärte dort struppiger, die Hosen schmutziger und – man ahnt es – die Bike-Dichte ist noch höher. „Vier Bike-Shops kommen auf 3500 Einwohner“, meint Marc Crowley, der die Entwicklung des Trail-Netzes in der Scottish Borders-Region verantwortet – also dem Gürtel in Schottlands Süden, der sich der englischen Grenze nähert.
Innerleithens High Street war schon einmal im Rennen für die Schönste in ganz Schottland. Nicht schlecht für einen Ort, der vor nicht allzu langer Zeit noch von Abwanderung gezeichnet war. Aber dazu später mehr. Reden können wir gleich, jetzt gilt es das Sonnenfenster zu nutzen. Das Tweed Valley liegt 40 Kilometer südlich von Schottlands Hauptstadt Edinburgh inmitten kuscheliger Hügel, die von Schafen besetzt und von Trails durchzogen sind. Wie viele? Marc schnauft und zuckt mit den Schultern. Da sind die gebauten, die adoptierten, die geduldeten. Alte Schafpfade über weite Weiden, tricky Downhill-Trails am Golfie, Flow und Jump Lines in Glentress, die XC-Strecke der UCI Weltmeisterschaft 2023, unzählige Enduro-Trails…
An den „Park & Pedal“-Plätzen reiht sich ein ausgebauter Bus an den anderen. Kleine Grüppchen treten bergan (viele mit E, aber auch noch viele ohne) und tauchen hier und da nach rechts in den Wald ab. Wir kurbeln weiter, hinauf in die baumlose, moorige Hügelwelt von Kirnie Law. Es öffnet sich der Blick auf den Tweed und die Wellen der schottischen Lowlands, sanft und rau zugleich. Immer wieder schießt die Sonne durch die regenschwangeren Wolken – wie ein Spotlight, das die grünen Weiden mitsamt weißer Schaftupfer in Szene rückt. Der Himmel über Schottland, er beherrscht die dramatische Inszenierung. Pechschwarz hingegen ist der torfige Boden uns zu Füßen. Marc winkt geradeaus und schon geht es hinab über wilde, schmale Pfade, hinein zum Tree Surfing in den dichten Mischwald. Anhalten, durchschnaufen, den Matsch aus dem Mundwinkel streichen – und abtauchen in die 63 Kurven von Flat White, einem der entspannteren Trails in Innerleithen. Die meisten hier orientieren sich im schwarzen Farbspektrum.
Megan Giblin grinst. Genau hierfür ist sie – wie einst Marc – ins Tweed Valley gezogen. Die 28-Jährige ist amtierende Meisterin der British National Enduro Series, stammt ursprünglich aus dem Westen Schottlands, hat sich aber in Peebles angesiedelt, „weil einfach alles passt“. Und das „alles“ steht primär für die Tweed-Bike-Vibes. Man sieht es ihm nicht an, aber Marc bringt durchaus ein paar Jahrzehnte mehr Bike-Erfahrung mit als Meg. 47 ist er und kam schon in den frühen Nullerjahren ins Tweed Valley zum Biken. Dass er darin eines Tages seinen Beruf finden würde, zeichnete sich allerdings keineswegs ab. Marc machte Karriere. So richtig. Als Mechatroniker in der Luft- und Raumfahrtindustrie. Kein unterbezahlter Job. „Über 20 Jahre habe ich gearbeitet, um Geld für mein Hobby zu verdienen“, meint er und schüttelt den Kopf. „Ich bin jedes Wochenende ins Tweed Valley gependelt, manchmal auch nach der Arbeit.“
Und dann kommt die Pandemie. Marc arbeitet 60 Stunden die Woche und hinterfragt irgendwann alles. Er wirft seinen Job hin, zieht in den Süden und startet neu bei Developing Mountain Biking in Scotland – dem MTB-Zweig von Scottish Cycling. Keine Sekunde habe er es bereut, meint er. So obsessiv wie er auf dem Rad sitzt, nimmt man es ihm sofort ab. Mit Bike-Besessenheit kennt sich auch Meg aus. Sieht man sie die verzwickt-verwinkelten Golfie-Trails in ihrem buttrig-smoothen Style hinabzirkeln, mag man kaum glauben, dass sie erst vor fünf Jahren zum Biken kam.
Mir war so klar: das ist es. Der Sport, die Menschen, die Natur – das fühlte sich alles richtig an. - Megan Giblin, amtierende Meisterin der British National Enduro Series
Richtig gut würde sich langsam auch eine Mahlzeit anfühlen. Wir haben die Lunch Time verpasst, aber im Findra legt der Koch für uns eine Extra-Schicht ein – auch weil hier im Valley alles sehr familiär ist. Meg räumt auf, verschwindet in der Küche, ratscht vorne im Shop. Findra startete als Outdoor-Bekleidungsmarke für Frauen. Doch nachdem sich ausreichend Männer beschwert hatten, erweitere Designerin Alex Feechan ihre Kollektion für die Herrenwelt – und dazu gleich ihre kleine Präsentationsfläche um ein hübsches Café. Während Petrus draußen die Wolken schauern lässt, machen wir es uns gemütlich für eine Geschichtsstunde.
Marc holt aus: „Ich erinnere mich an Zeiten, da hast du dich hier über einen Instant Coffee gefreut. Im Pub gab es zweimal die Woche einen Pie, das war’s.“ Innerleithen entwickelte sich im 19. Jahrhundert zu einer Hochburg der Textilproduktion. Riesige Spinnereien und Fabriken wurden errichtet, der Ort boomte und die Industrie nahm weiter Fahrt auf, als 1864 die Bahnlinie durchs Tal gebaut wurde. Doch im ausgehenden 20. Jahrhundert wurde der globale Wettbewerb zu stark und die Vorliebe für synthetische Materialien zu groß. Innerleithens Wollstrickwaren waren nicht mehr gefragt, Hunderte von Arbeitern verloren ihre Jobs.
2001 dann der nächste große Schlag: Die Maul- und Klauenseuche überzog Großbritannien. Wanderwege und Bike-Trails durften nicht mehr betreten werden, die Tourismuszahlen brachen massiv ein. „Die schottische Regierung hat damals nach alternativen Tourismuszweigen gesucht, um sich breiter aufzustellen“, erklärt Marc. „Und daraus wuchsen schließlich die 7Stanes.“ Die sieben Trailcenter, die sich wie eine Halskette um Schottlands Süden legen, wurden von der Regierung mitfinanziert und liegen größtenteils auf dem Grund der schottischen Forstverwaltung. Bis heute gelten sie weltweit als eines der Vorzeigeprojekte, wenn es um die nachhaltig erfolgreiche Transformation von ländlichen Regionen geht. Und was passierte mit Innerleithen?
„Die Menschen wanderten ab und die Immobilienpreise in den Keller“, erzählt Marc. Doch während sich das Dorf leerte, füllten sich die Wälder mit Trails. „Und niedrige Lebenshaltungskosten ziehen Biker an.“ In Caerlee Mill war zuletzt noch Cashmere für die Luxusmode produziert worden. Über ein Jahrzehnt stand die Fabrik leer. Dann der Paukenschlag: Das Areal soll zum ersten MTB Innovation Centre der Welt umfunktioniert werden. Doch die Renovierungskosten hätten das Budget gesprengt. So wird die Anlage wohl bald abgerissen und das Zentrum komplett neu errichtet – samt Forschungseinrichtungen, Produktentwicklung und professioneller Infrastruktur für Athleten.
Kontrastprogramm: Marc scheucht uns am nächsten Tag ins einsame Hinterland von Peebles. In der weiten Heide- und Weidelandschaft zwischen Preston Law und Kirkhope Law zeigen sich die Schafe irritiert von uns Besuchern, die wir erst durch Bäche schießen, um dann den steilen Anstieg hochzukurbeln. Oben auf dem Sattel wird verschnauft und genossen. Die Wogen der Lowlands sind das Gegenstück zur Schroffheit der Highlands. Doch auch hier kann man sich wunderbar in der Abgeschiedenheit verlieren. Immer auf dem Bergrücken entlang schießen wir auf dem Trail hinab. Flankiert von zwei Steinmauern, die einst dem Schaftrieb dienten.
Einfach Marc folgen, links, rechts, hinein in die Wälder, bis da plötzlich wieder der Tweed ist und wir in Peebles einrollen. Nach einem Kaffee-Stopp im Milkman wechseln wir die Seiten und pedalieren in die Wälder von Glentress. Im Trailcenter, das nicht aufhören will zu wachsen, wuselt es. Die Kids pumpen sich über die Roller, Teenies in Jogginghosen ziehen ihre Whips. Je höher wir klettern, desto wirrer wirkt das Trail-Knäuel von Glentress. Einen Tag, meint Marc, kann man hier schon gut verbringen, bis man sich erstmal orientiert hat.
Wir machen uns locker auf "Berm Baby Berm", genießen den Flow auf "Electric Blue" und arbeiten uns auf die andere Seite vor bis zum "Twitcher", der seine Anlieger offen in die weiten Hänge legt. Nein, ein Tag reicht nicht für Glentress. Und drei Tage nicht für das Tweed Valley. Marc grinst. „Ja, ein guter Anfang,“ sagt er. Damit meint er allerdings nicht unseren Besuch. Er meint vielmehr die Entwicklung der Region insgesamt.
Die Zeiten, in welchen man sich morgens durch ein Full Scottish Breakfast mit Haggis und Black Pudding kämpfen musste, sind vorbei. Längst gibt es im Tweed Valley auch gut sortierte Coffee-Shops und vegetarische Küche.
Das Tweed Valley mit Peebles, Glentress und Innerleithen liegt rund 40 Kilometer südlich von Edinburgh in den schottischen Lowlands. Die Orte sind über einen Radweg auf der stillgelegten Railway-Strecke perfekt miteinander verbunden. Das Tweed Valley war Brutstätte der 7Stanes-Trailcenter. Hier entstand zudem die erste Trail Association Schottlands (inzwischen sind es landesweit 22) und zur UCI-Weltmeisterschaft 2023 fanden im Tal die Marathon- und Cross Country-Wettkämpfe statt.
Das Tweed Valley ist von Edinburgh (nächster Flughafen) schnell erreichbar. Die Buslinie X62 von Borders Buses fährt ab Waverley Station alle halbe Stunde nach Peebles (Fahrzeit ca. 1 Std.). Von Amsterdam gibt es eine Fährverbindung nach Newcastle. Von dort fährt man noch ca. 2,5 Stunden ins Tweed Valley.
Einen sehr besonderen Ride in/Ride out-Schlafplatz bietet Glentress mit seinen Forest Cabins mitten im Wald, umzingelt von Trails. Die Log Cabins wirken von außen unscheinbar, innen aber entpuppen sie sich als luxuriöse Apartments samt Küche, geräumigem Deck und Hot Tube. Am Eingang des Trailcenters kann man auch in rustikaleren Pods übernachten (ohne Bad).
Verleih von Bikes und E-MTBs, Fahrtechnik-Kurse und Guiding bekommt man hier:
Um die berühmte Trail-Baukunst der Schotten voll zu erleben, lohnt sich ein zweiwöchiger Roadtrip durchs komplette Land. Und das sind nur die allerwichtigsten Stopps:
Direkt südlich von Edinburgh gelegen, sind die Strecken im Tweed Valley nicht nur einfach zu erreichen, sondern auch besonders variantenreich. 2023 war das Tal Austragungsort der UCI WM Marathon- und Cross Country-Bewerbe.
Die Gegend südlich von Glasgow ist nicht nur für seine Rinder bekannt, sondern auch für seine vielen Trailcenter – fünf davon sind Teil der legendären 7Stanes. Von Wurzelwerk bis entspannte Pfade gibt es hier alles.
Der aufsteigende Star am schottischen Bike-Himmel: Im Osten des Landes haben die Locals zwischen Nordsee und Nationalpark ein buntes Netz an Trailcenter und Touren etabliert. Um Balmoral kann man dabei durchaus mal dem König begegnen …
Mitten im Herzen Schottlands findet sich eine starke (und sehr offene) lokale Bike-Szene. Große Touren und technische Trails gibt es in Aberfeldy, Comrie Croft hat einen der besten Trail Center des Landes und von Alyth bis Perth gibt es Jumplines.
Der zweite schottische Nationalpark liegt unweit von Glasgow im Norden und bietet von der Küste bis zum riesigen Loch Lomond unterschiedlichste Strecken. Von Enduro um Aberfoyle bis hin zu XC-Loops, Natur-Trails und langen Touren um Balquhidder.
Seit über 20 Jahren berühmt berüchtigt für seine Downhill Weltcup-Strecke am Aonach Mòr bietet die Region in den westlichen Highlands (und direkt am Meer) inzwischen sogar flowige Trails und unzählige lange Touren.
Cairngorms ist der größte Nationalpark Großbritanniens und entsprechend episch ist das Tourenmaterial etwa um Aviemore und Ballater. Beste Trail-Unterhaltung (für die ganze Familie) gibt es in den Parks von Cairngorm Mountain, Glenlivet und Laggan.
Einsam, rau, weit – viel abenteuerlicher geht es nicht in Schottland. Da wären die ruppigen Trails von Torridon und Ben Bhraggie, die Trailcenter von Golspie und dem Meeresarm von Kyle of Sutherland – und die unzähligen Pfade dazwischen.
Infos zu allen Trailcentern: forestryandland.gov.scot