Das Schicksal des Fort Chaberton war in wenigen Minuten besiegelt. Am Nachmittag des 21. Juni 1940 zerstörten die Franzosen mit gezielten Schüssen aus Schnellfeuermörsern erst die lebenswichtige Materialseilbahn, kurz darauf die acht mächtigen Artillerietürme der Italiener. Geduldig hatten die Franzosen zuvor gewartet, bis das Fort auf 3136 Metern Höhe einsatzbereit war und dann in aller Ruhe ihre eigenen vier zerstörerischen Geschütze – für die Italiener unsichtbar – tief im Tal hinter einem Felsriegel in Stellung gebracht. Mit dem Fort Chaberton fiel eine der spektakulärsten Militäranlagen der Alpen, ohne dass sie je richtig im Einsatz war.
Dabei war das Fort noch nicht einmal für den Zweiten Weltkrieg gebaut. 1898 begannen die Italiener mit dem Bau des Bollwerks, um in Zeiten der sich ankündigenden Konflikte gegen Frankreich gerüstet zu sein. Der Gipfel des Mont Chaberton wurde abgetragen, dahinter entstand das Fundament für die acht mächtigen Geschütztürme. Bis heute erinnert der von Menschen geformte Berggipfel an eine Krone. So mächtig, dass man sie sogar vom Tal aus sieht. Daher auch der Name „König der Cottischen Alpen“. Für die Bauarbeiten wurde damals eine 14 Kilometer lange Straße angelegt, die sich von Fenils aus in 72 Haarnadelkehren hoch zum Gipfel windet. Auf dieser Straße, besser gesagt auf deren Relikten, erkämpfen wir uns jetzt mit unseren E-MTBs Meter für Meter Richtung Gipfel.
Mit dem klassischen Bike ist der Aufstieg einer der härtesten im gesamten Alpenraum. Aber sogar mit dem E-MTB hat man zu kämpfen. Ständig drohen die Räder im steilen, losen Schotter durchzudrehen – ein kraft- und stromraubendes Unterfangen. Und da wir für vier Leute nur zwei Reservebatterien zur Verfügung haben, versuchen wir es mit einem speziellen Tauschsystem. Sobald der Erste nur noch drei Balken hat, wird getauscht. Denn Strom sparen mit niedrigen Unterstützungsstufen funktioniert nur auf den wenigen Flachstücken. Im Sattel schaffen wir den letzten Abschnitt zur Passhöhe Col du Chaberton nur mit dem Turbo. Hier zeigt der Weg seine Zähne in Form von groben Schotterwacken, die einen aus dem Sattel zwingen. An einer Stelle, kurz vor dem berühmten „gespaltenen Fels“ auf 2370 Metern Höhe, ist die Trasse sogar komplett abgebrochen, sodass wir uns an einem Stahlseil über dem Abgrund vorbeihangeln müssen. Kaum zu glauben, dass diese Route noch in den Achtzigerjahren mit einem kleinen Suzuki-Jeep befahrbar gewesen sein soll, wie uns später ein anderer E-Biker auf dem Gipfel erzählt. Doch die Militärstraße ist seit 2003 für motorisierte Fahrzeuge verboten und wird seither der Natur überlassen. Während wir bis zum Col du Chaberton die italienischen Alpen im Rücken und vor Anstrengung ohnehin kaum Zeit fürs Panorama hatten, öffnet sich ab der Passhöhe der Blick in die Westalpen.
Die letzten Kehren ins oberste Stockwerk des pyramidenförmigen Bergs sind fahrtechnisch zwar immer noch fordernd, aber wir kommen mit dem losen Geröll jetzt bestens klar. Außerdem schwindet mit jedem Meter die Angst vor leeren Akkus, und so wühlen wir uns jetzt im Turbo-Modus die letzten Meter durchs tiefe Geröll. Schließlich säumen Panzersperren und verrostete Barrieren aus Stacheldraht den hochalpinen Weg. Dann stehen wir fassungslos auf dem Gipfelplateau. Freier Blick in alle Himmelsrichtungen, tief unter uns das Susatal, dahinter die italienischen Alpen. Auf der anderen Seite staffeln sich die Viertausender der französischen Alpen. Die Krone des Königs ist noch imposanter als wir sie uns vorgestellt haben: Meterhoch bauen sich die gewaltigen Geschütztürme vor uns auf und erinnern an die Brutalität des Krieges.
Brutal ist auch die erste Sektion der Abfahrt nach der Passhöhe. Die ersten Meter vom Gipfel bis zum Pass kennen wir bereits von der Auffahrt. Doch ab der Passhöhe kippt der Weg nach links ab und fordert schon bald Material und Fahrtechnik. Mit gewagten Trial-Einlagen auf einem Weg, der eigentlich mehr ein Steig ist, tut sich Maxi als ehemaliger Enduro-Profi besonders hervor. Gekonnt zirkelt er auf dem Vorderrad durch die Spitzkehren, schlägt der Schwerkraft auf steilen Stufen ein Schnippchen und zieht Bunnyhops über scharfkantige Felsen. Für alle anderen ist zumindest an manchen Stellen dieser hochalpinen Felsrutsche Schieben angesagt. Doch nach 120 Tiefenmetern wird der Trail wieder zahmer und schlängelt sich spaßig oberhalb eines Bachs entlang. Wenig später tauchen wir in Claviere wieder in die Zivilisation ein. Schnell eine Pizza, dann wird es Zeit für den langen Rückweg zum Ausgangspunkt. Zurück nach Fenils lassen sich einige Straßen mit Autoverkehr leider nicht vermeiden, trotzdem finden wir auch hier noch lohnenswerte Trail-Abschnitte. Wir erreichen unser Auto bei Dämmerung und mit leeren Akkus. Wolkenfetzen ziehen hoch über dem Susatal und umwabern den Berg und die Krone des Königs. Der Mont Chaberton trägt seinen Namen wirklich zu Recht.
Die Eroberung des Mont Chaberton hat schon so manch ambitionierter Mountainbiker entkräftet abbrechen müssen. Die Militärstraße aus dem Jahr 1891 ist durchgehend gemein steil, grobschottrig, unwegsam und an wenigen Stellen gefährlich abgebrochen. Es gibt keine Aufstiegshilfen und auch keine Einkehrmöglichkeiten. Brunnen oder Bäche? Fehlanzeige. Man muss also genügend Proviant mitnehmen und ein schwerer Rucksack macht das Uphill-Unternehmen auch nicht leichter.
Mit einem E-MTB ist man daher deutlich besser aufgestellt. Allerdings sollte bei der Länge des Anstiegs unbedingt ein zweiter Akku mit.
Startpunkt: Die Tour startet im Talort Fenils im Val di Susa (Piemont).
Einkehrmöglichkeit: Erst am Ende der Abfahrt rollt man durch den Ort Claviere, wo es zwei Restaurants gibt.