Der Wind bläst uns die Zeltplanen um die Ohren. „Halt mal die Zeltstange fest!“ Henna lässt die Stange einfach fallen und wirft sich nach ihrer davonfliegenden Daunenjacke. Das Gewitter hat niemand kommen sehen. Doch 20 Minuten später sitzen wir, ohne wirklich nass geworden zu sein, in unseren Zelten. Zumindest das hat geklappt. Draußen geht jetzt für ein paar Minuten die Welt unter. Auf Blitz wummert sofort der Donner, noch lauter prasselt der Regen aufs Zelt. „Ziehen Fahrräder Blitze eigentlich an?“, brüllt Fabi aus dem Nachbarzelt. Doch so schnell das Unwetter aufgezogen ist, so schnell ist es auch wieder vorbei. Trotzdem sollten wir uns darüber Gedanken machen. Es ist schließlich erst Tag 1 unseres Abenteuers. Wer weiß, wie oft und heftig die Gewitter im Großen Kaukasus normalerweise ausfallen. Dabei sieht schon unsere geplante Route alles andere als gemütlich aus. Wir wollen den Tusheti-Nationalpark im Norden Georgiens durchqueren. Von Ost nach West in sieben Tagen. Eine Route, die nah an der russischen Grenze verläuft, nah am Kasbek (5047 m) vorbei und für die man zu Fuß zehn Tage braucht. Wir wollen das Ganze mit Bikes, kompletter Campingausrüstung und Trockenessen in sieben Tagen schaffen.
Das sollte gut machbar sein, erklärte ich meinen Mitstreitern Henna, Fabi und Moritz vor ein paar Wochen beim Bierchen in einer Innsbrucker Bar. Denn ich kenne die Region mit ihrer unglaublich weitläufigen Landschaft bereits von ein paar Skitrips her. Doch als wir am Morgen des zweiten Tages Richtung Chaukhi-Pass unterwegs sind, bin ich mir gar nicht mehr sicher. Zwei Stunden schieben und tragen wir bereits, an Fahren ist nicht zu denken. Der Weg ist zu steil, zu grob und je näher wir dem Bergkamm kommen, desto schärfer bläst der Wind. Als wir auf 3338 Meter Höhe endlich die Bikes von den Schultern werfen, löst der Ausblick auf unsere erste Abfahrt auch noch kein Hurra aus. Zwar tut sich rechts der Blick auf einen Gletschern auf, aber die Wegspur aus plattem Schuttgestein hangelt sich recht abenteuerlich an der Hangkante entlang. Die Kälte lässt uns auch nicht gerade geschmeidig in den Sattel steigen. Doch das ändert sich schnell, weil wir in jeder Kehre das Hinterrad hochlupfen müssen. Gerade als wir einen Rhythmus gefunden haben, bremst uns ein entgegen-kommender, schwer beladener Pferdetrek aus. Wir müssen uns an den Hang pressen, damit die Reiter-Kolonne passieren kann.
Ich hätte panische Angst, auf so einem ausgesetzten Pfad auf einem Pferd zu sitzen, Moritz kann gar nicht fassen, was er da sieht.
Dann widmen wir uns wieder unserer immer flowiger werdenden Abfahrt. Leider verpassen wir vor lauter Fahrspaß einen wichtigen Abzweig nach links – und der Weg, den das GPS-Gerät als Alternative vorschlägt, gibt es in der Realität nicht. So stapfen wir am Nachmittag stundenlang durch kniehohes Gras gegen peitschenden Regen an. Irgendwann sind wir so durchnässt und durchgefroren, dass wir uns doch lieber in einer Unterkunft einmieten. Vor deren Tür parkt bereits ein Heli.
Drinnen ist die Crew des Helis gerade fertig mit Essen. Die erste Flasche Chacha kreist über den Tisch und deren 60-prozentiger Inhalt lässt den Geräuschpegel im Raum schnell ansteigen. Moritz grölt später noch ein paar georgische Lieder mit, alle anderen suchen nach dem Essen ihre Betten auf. Doch kaum ist das letzte Lied der Heli-Piloten verklungen, schlägt draußen der erste Hirtenhund an. Fabi tippt auf sein Handy: „Moah, 3:22 Uhr…“ und dreht sich wieder in seine Decke.
Müde rollen wir am nächsten Morgen los und verpassen gleich mal wieder den ersten Trail-Abzweig. Also schießen wir bei noch frostigen Temperaturen die Schotterstraße runter, als knapp hinter uns plötzlich zwei riesige Hirtenhunde aus dem Gebüsch brechen und die Verfolgung aufnehmen. Eine der bellenden Schnauzen kommt meiner Wade so nahe, dass ich ihren Atem spüre. Henna lässt ihr Hinterrad mehrmals blockieren, da lassen die Kolosse von uns ab. „Wow, da braucht man keinen Espresso mehr zum Wachwerden“, hüstelt sie erleichtert. Unser erster Tagesanstieg zieht sich eine Straße hinauf, die wohl erst kürzlich von einem Unwetter malträtiert wurde. Wir umfahren Löcher, so groß wie Autos, teilweise ist die Trasse zur Hälfte weggespült. Umso überraschender, als uns plötzlich von hinten ein sowjetischer Muldenkipper überholt. Den Fahrer sehen wir nicht nur durch die Scheibe, sondern auch durch die faustgroßen Rostlöcher in den Türen. Und weil er so freundlich grüßt, halte ich reflexhaft den Daumen raus. Das zusammengeflickte Stahlvehikel stoppt mit einem ohrenbetäubenden Kreischen. Nicht sehr vertrauenserweckend, aber wenn wir auf die Ladefläche aufspringen, sparen wir uns immerhin 1000 Höhenmeter. Wir beschließen, die Helme aufzulassen. Schon weil wir über Bodenwellen rumpeln, die uns fast über die rostige Reling werfen. Drei Mal hält der Fahrer auf dieser Strecke an, steigt mit einem Eimer aus, füllt ihn in einem Bach und kippt das Wasser in den Kühler. Dabei grinst der Mann und dann blitzt in seinem Unterkiefer ein Goldzahn auf. Freistehend wie der Gipfel des Kasbek.
Der rostige Muldenkipper macht nicht wirklich vertrauenserweckende Geräusche. Aber er hilft 1000 Höhenmeter zu sparen.
Zwei Tage später kreisen meine Gedanken irgendwo zwischen Khachapuri und Khinkali. Also zwischen Fladenbrot mit Käse in der Mitte und georgische Teigtaschen mit Fleischfüllung. Was man halt so denkt, wenn man das Bike mal wieder seit Stunden trägt und der Magen längst in den Kniekehlen hängt. Heute steht der Atsunta-Pass an, der mit 3539 Metern höchste Punkt der ganzen Tour. Also 2000 Höhenmeter tragen, manchmal auch schieben. Dabei erreichen wir eine Art Grenzposten. Wir legen unsere Bikes ins Gras und müssen mehrere Passierscheine unterschreiben. Anschließend wollen zwei Soldaten mit Sturmgewehren wissen, was das für eine weiße Flüssigkeit ist, die aus Fabis Hinterreifen tropft. Während wir den Reifen flicken, dreht einer der Soldaten eine Runde auf meinem Bike über die Wiese. All das kostet natürlich Zeit und so reicht das Tageslicht heute nicht mehr für den Pass. Immerhin schaffen wir es bis zu einer Mulde im Grashang, wo sich die Zelte gut aufstellen lassen. Es ist auch noch Zeit zum Blasen versorgen, Klamotten aufhängen und Abendessen kochen. Heute gibt es Linsen-Curry aus der Packung und eine Dose weit gereister Sardinen, bevor uns die rapide fallenden Temperaturen in die Schlafsäcke scheuchen. Unser Campspot liegt deutlich über 3000 Meter Höhe, wahrscheinlich kriegen wir nachts Frost. Ich höre noch, wie aus dem Nachbarzelt stinkende Socken aus dem Zelt geworfen werden und falle dann sofort in den Schlaf.
„Zwei Tage lang geht’s jetzt praktisch nur bergab“, meint Fabi am nächsten Morgen und rührt in seinem Kaffee, der sich im lauwarmen Wasser nur widerwillig auflöst. Georgien, das Land in dem Abfahrten nicht in Tiefenmetern, sondern in Tagesetappen angegeben werden. Es ist kurz nach Mittag, als wir unsere Bikes endlich auf den höchsten Punkt des Atsunta-Passes schieben. In alle Himmelsrichtungen breiten sich die Weiten des Kaukasus aus, aber hängen bleibt der Blick am alles überragenden, weißen Kasbek-Gipfel. „Hinter dem Riesen fängt schon Russland an“, liest Henna aus der Karte vor. Wir zurren gerade unsere Taschen für die lange Abfahrt fest, da entdecken wir eine Gruppe Gravelbiker, die sich schwer bepackt von der anderen Seite den Pass hochkämpft. Ihre Bikes fünf Schritte tragend, zwei Schritte schiebend. Neugierig poltern wir ihnen auf dem hochalpinen Steig entgegen: Es handelt sich um eine Finnin, zwei Österreicher, einen Deutschen, zwei Russen und einen Ukrainer. Auch sie haben zwei Tage nur getragen und geschoben. Ihre Bikes sind natürlich leichter, aber ich befürchte, dass sie damit auch bergab nicht viel Spaß haben werden.
Für uns dagegen starten jetzt die zwei schönsten Tage des Trips: Der Trail zieht erst in weiten Kurven durch ein riesiges Geröllfeld, dabei müssen wir viel Abstand halten, um in der Staubfahne des Vordermanns nicht zu ersticken. Dann sprießt wieder Grün aus dem Boden und wir kurven in weiten Radien durch Grasflanken. Dort wo der Hang steiler abfällt, ziehen sich die Kehren auch mal eng zu. Oder der Pfad hat sich so tief in die Grasnarbe gefressen, dass wir mit den Pedalen hängen bleiben. Aber in diesen Bergwiesen fällt man weich. Mehrmals müssen wir noch durch hüfthohes, eiskaltes Flusswasser waten und auch noch mal bergauf treten. Nur schieben müssen wir bis zum Ziel in Omalo Gott sei Dank nicht mehr.
Das Revier: Der Tusheti-Nationalpark befindet sich im Georgischen Teil des bis zu 5642 Meter hohen Großen Kaukasus'. Seine baumlosen Grasflanken sind steil und mit nur wenigen Straßen und Wegen erschlossen. Unterkünfte findet man nur entlang der Touristenrouten. Bei einer Durchquerung mit dem Bike sollte man daher Zelt und Verpflegung dabei haben. Doch je mehr Gepäck, desto härter natürlich die langen Anstiege auf häufig unfahrbar steilen und verblockten Trails.
Geführte Touren: Mit Guide, gebuchten Unterkünften, Verpflegung und Shuttle-Fahrzeug kann man sich die Tour durch den Tusheti-Nationalpark deutlich vereinfachen. Zum Beispiel buchbar bei www.flatsucks.at
Beste Tourenzeit: Im Sommer wird es in Georgiens Flachland zwar sehr heiß, aber auf den über 3000 Meter hohen Pässen im Großen Kaukasus wehen auch im Juli frostige Winde. Hüten sollte man sich vor den Gewittern, die hier oft unwetterartig ausfallen. Mit Regenmengen, die nicht nur Straßen unterspülen, sondern auch Murenabgänge auslösen können. Das kann in Schluchten sehr gefährlich werden.