Die Belgier haben die Pommes Frites erfunden. Daran gibt es wohl keinen Zweifel. Und die Wallonen haben noch etwas erfunden. Es nennt sich RAVeL (Réseau Autonome des Voies Lentes), und das heißt übersetzt so viel wie „Autonomes Netz für langsam fließenden Verkehr“. Überall im Land sind diese RAVeL angelegt, sie sind bestens ausgeschildert, und ihre Routen führen gerne über ehemalige Bahntrassen oder entlang von Flüssen. So auch der Eurovelo 3, ein Fernradweg, der in seiner Gesamtheit im norwegischen Trondheim beginnt und über mehr als 5.000 Kilometer nach Santiago de Compostela führt. Also in jenen „Ich-bin-dann-mal-weg-Pilgerort“ im Nordwesten Spaniens, den Hape Kerkeling durch sein Buch noch einmal so richtig populär gemacht hat. Zahlreiche Wege führen zum Grab des Heiligen Jakobus, eines der zwölf Apostel Jesu Christi. Und einer davon ist der Eurovelo 3.
Ganz bis Spanien wollten wir nicht fahren, also haben wir uns für den Trip durch die Wallonie entschieden, vorbei an zahlreichen Kirchen und Klöstern. Vom Dom zu Aachen über die ehemalige Abbaye d’Aulne bis hin zur ältesten noch erhaltenen Kirche Belgiens in Lobbes. Das Herver Land ist eine Landschaft, die wie geschaffen ist fürs Pilgern. Und da auf dem RAVeL kein Autoverkehr herrscht, sondern eben nur dieser „langsam fließende Verkehr“, macht es die Angelegenheit noch einen Tick entspannter.
Wenn man das nicht Pilgern nennen will, etwas Spirituelles hat es doch durchaus. Wir rollen auf dem Bahntrassenweg L38 durch eine grüne und äußerst liebliche Landschaft. Viel Obst wird hier angebaut, die typischen Hecken im Pays de Herve rahmen Weiden ein, auf denen es sich stattliche Rindviecher gut gehen lassen. Aus ihrer Milch macht man den Herver Käse, einen pikanten Weichkäse mit einer orange-rötlichen Rinde. Eine Delikatesse und eine von nur ganz wenigen Käsesorten in Belgien, die das AOP-Siegel (Appellation d’Origine Protégée) tragen dürfen.
Bei Aubel, wo der in der Wallonie allgegenwärtige Sirup produziert wird, machen wir einen Abstecher in die Abbaye du Val-Dieu, also in die Abtei im Tal Gottes. Bereits 1216 gründeten Zisterziensermönche das Kloster, wenngleich die meisten Gebäude der beeindruckenden Anlage aus dem 17. und 18. Jahrhundert stammen. Val-Dieu ist übrigens die einzige Abtei im heutigen Belgien, die in ihrem jetzigen Erscheinungsbild die Französische Revolution „überlebt“ hat. Das Kloster im Tal Gottes wurde bis 2001 von Mönchen geführt, heute lebt und arbeitet in der Abtei eine zisterziensische Laiengemeinschaft, die sich u. a. um die Pilger kümmert, die hier vorbeikommen. Wir kommen auch so klar und lernen im Klostergarten, wie man den recht strengen Fromage de Herve am besten genießt: nämlich zusammen mit dem aus Äpfeln und Birnen hergestellten „Sirop“. Die Frage, was man zur Käseplatte trinkt, erübrigt sich. Nicht nur hier in der Abbaye du Val-Dieu, wo über Jahrhunderte von den Mönchen Bier gebraut wurde, sondern in ganz Belgien.
Das Bier an sich haben natürlich weder die Flamen noch die Wallonen erfunden. Man geht davon aus, dass vor rund 10.000 Jahren irgendwo in China, in Mesopotamien oder dem heutigen Israel erstmals ein bierähnliches Getränk gebraut wurde. Aber natürlich dürfen sich die Belgier als „Erfinder“ des so vielfältigen und grandiosen belgischen Biers rühmen. Und das ist immerhin seit 2016 immaterielles UNESCO-Weltkulturerbe.
Um die Besonderheit des belgischen Biers kurz zu erklären, muss man ins Jahr 1919 zurückgehen. Jean-François, Brauer in der kleinen Privatbrauerei Angélus in Erquelinnes, erzählt: „Die sozialistische Regierung unter Émile Vandervelde hatte damals ein Gesetz erlassen, nach dem es verboten war, Hochprozentiges in Bars auszuschenken. Also fingen die Bierbrauer aufgrund der gestiegenen Nachfrage an, Bier mit einem höheren Alkoholgehalt zu brauen.“ Alles natürlich auf der Basis der jahrhundertealten Bierbrau-Tradition der Klöster.
Meistens geht es bei belgischem Bier erst ab sieben Prozent los. Besondere Sorten mit einem Alkoholgehalt jenseits der zehn Prozent bekommen dann gerne mal Namen wie „Grand Cru“, angelehnt an die Spitzenprodukte beim Weinbau. Im Gegensatz zu ihren deutschen Kollegen müssen sich die belgischen Brauer nicht an ein gesetzlich festgeschriebenes Reinheitsgebot halten. Sie dürfen mehr als Hopfen, Malz und Wasser verwenden – und tun das insbesondere in den kleinen Privatbrauereien mit viel Hingabe und Fachwissen. Da werden dann schon mal Aromen wie Lakritze oder Kardamom hinzugemischt. Durchaus spannend, finden alle aus unserer kleinen Pilgergruppe, wohingegen wir uns einig sind, dass die belgischen Brauer sich das mit dem Kirsch-, Himbeer- oder sonstigem Fruchtgeschmack auch sparen könnten.
Unser Weg führt uns weiter nach Lüttich, Luik auf Niederländisch, Liège auf Französisch. Einst war Lüttich eines der großen Zentren der Schwerindustrie in der Wallonie. Das meiste ist inzwischen Geschichte; Minen, Stahlwerke, alles verschwunden oder als Kulisse sichtbar an den Ufern des Flusses. Die Stadt hat sich neu erfunden: das gepflegte Zentrum Cœur historique mit der Treppe Montagne de Bueren, Hinterhofgässchen mit netten Cafés und Hotels, Museen und ein modernes Bahnhofsgebäude. Man spricht in diesem Zusammenhang gern vom Bilbao-Effekt. Denn die einst graue Industriestadt im Baskenland war die erste Stadt Europas, die den Wandel zu einer spannenden Kulturmetropole mit ebenso spannender Architektur schaffte. Was in Bilbao das weltbekannte Guggenheim-Museum von Frank Gehry ist, das ist in Lüttich Liège-Guillemins, der vielleicht großartigste Bahnhof Europas – erschaffen vom Stararchitekten Santiago Calatrava.
Weiter geht es an der Maas via Huy nach Namur. Bei Tihange treffen wir Christian aus Hamburg. Er ist dort auf dem deutschen Jakobsweg gestartet und pilgert tatsächlich bis nach Spanien. Der Mann ist spindeldürr, fast zwei Meter groß – ein Asket, wie er im Buche steht. Gegessen wird nur am Mittag, getrunken wird nur Wasser, wie der Bilderbuch-Pilgerer uns verrät. Irgendwie beeindruckend und irgendwie befremdlich, kann der Mann doch so gar nichts von diesem fantastischen Bier und den regionalen Delikatessen probieren. Trotzdem gefällt es ihm richtig gut in der Wallonie. „Schöne Gegend, richtig idyllisch und sehr freundliche Gastgeber“, sagt der pilgernde Radler und fügt hinzu: „Ich kannte bislang echt nur die beleuchteten Autobahnen von Belgien.“
Namur, unser nächstes Ziel, ist zwar kleiner als Liège und Charleroi und dennoch die Hauptstadt der Wallonie. Deutlich hübscher ist das Städtchen am Zusammenfluss von Maas und Sambre auch. Kneipe an Kneipe reiht sich in der pittoresken Altstadt aneinander, und über allem wacht die Zitadelle von Namur. Als Napoleon Bonaparte sie einst inspizierte, nannte er sie aufgrund ihres imposanten unterirdischen Labyrinths von Gängen „den Termitenhügel Europas“. Zu Fuß, mit dem Rad oder mit der Seilbahn geht es hinauf. Dort kann man an einer Führung durch die Katakomben der Zitadelle teilnehmen oder einfach nur den Ausblick über Stadt, Land und Fluss genießen.
Unsere Reise geht weiter entlang des Sambre-Ufers via Charleroi zur Abbaye d’Aulne. Während man die Region um die ehemalige Industriestadt Charleroi das „pays noir“, das „schwarze Land“ nennt, wird das Tal der Sambre weiter westwärts als „pays vert“ bezeichnet, als „grünes Land“. An einer malerischen Schleife des Flusses liegt das auf das 7. Jahrhundert zurückgehende Benediktinerkloster. Beeindruckend ist es, auch wenn nicht allzu viel übrig geblieben. Auch hier hatte der Mob ganze „Arbeit“ geleistet und vieles im Jahr 1794 zerstört, u. a. um die 40.000 wertvolle Bücher. Inzwischen gibt es Pläne und Fördermittel, die Abtei zu einem noch größeren Touristenmagneten auszubauen. Aber die Geschichte dieses Klosters ist spannend genug, die Gemäuer imposant genug, um ihr schon jetzt einen Besuch abzustatten.
Wenige Pedalumdrehungen weiter gelangen wir nach Thuin mit seinem beeindruckenden Belfried und den hängenden Gärten unterhalb der mittelalterlichen Festungsmauern. Die Belfriede gibt es überall in Belgien; sie sehen zwar aus wie Kirchtürme, sind aber Profanbauten, die als Symbol für die Macht des Bürgertums standen und deren Glocken einst vor Feinden oder vor Feuersbrünsten warnten. Auch sie sind von der UNESCO in die Weltkulturerbe-Liste aufgenommen. In den hängenden Gärten gedeiht Wein, dessen Trauben in der Distillerie de Biercée zu einem ganz besonderen Likörwein verarbeitet werden.
Wir lassen die Finger davon, schließlich soll man nichts durcheinandertrinken, und für uns steht noch der Besuch in der kleinen, aber feinen Brasserie von Erquelinnes an, ein paar Meter von der französischen Grenze entfernt und das Ende unserer Pilgertour. Als wir ankommen, sitzt man bereits gesellig zusammen, es wird gekocht – und getrunken. Das mit dem Kochen bzw. mit dem Essen ist eine gute Idee, um eine Grundlage zu schaffen. Denn wir kommen natürlich nicht drum herum, die Biere zu probieren. „Angélus“ hat Gründer und Braumeister Alain Brootcoorens sie genannt, nach dem Angelusläuten der Kirche gegenüber von seinem Wohnhaus. Es gibt die unfiltrierten Biere als „Blonde“ und „Brune“ mit jeweils rund 7 %, als „La Sambresse“ mit 8 % und als Abbaye de la Thure mit satten 10 %. Alain und sein zweiter Braumeister Jean-François sind nicht eben geizig bei der Bierprobe. Irgendwo findet Alain noch weitere Flaschen, die gar nicht in den normalen Verkauf gelangen. „Wir haben keine Kunden, wir haben nur Freunde“, erklären die beiden Braumeister ihre Philosophie. Und wir gehören spätestens nach dem zweiten Bier dazu.
Der Eurovelo 3, die Pilgerroute, führt über insgesamt rund 5.400 Kilometer aus dem norwegischen Trondheim ins spanische Santiago de Compostela und verbindet mehrere Fernradwege in sieben europäischen Ländern – darunter den Ochsenweg in Dänemark oder auch die Via Mosana von Aachen bis nach Namur. Unser gefahrener Abschnitt auf dem wallonischen Teilstück des Eurovelo 3 führt von Aachen über Namur und Charleroi hinaus bis an die belgisch-französische Grenze und ist rund 200 Kilometer lang. Zahleiche imposante Gotteshäuser und Klöster liegen am Wegesrand, fast genauso viele Brauereien sorgen dafür, dass man unterwegs nicht verdurstet.
Nennenswerte Steigungen sind nur zu Beginn am deutsch-niederländisch-belgischen Dreiländereck zu bewältigen, danach verläuft die Route durchs Herver Land, die Provinzen Liège, Namur und Hainaut (Hennegau) vielfach auf alten Bahntrassenwegen und entlang von Flüssen – auf den sogenannten RAVeL. Die Wege sind überwiegend asphaltiert, gelegentlich führt die Strecke über Betonplatten mit etwas rumpeligen Übergängen, und nur auf wenigen kurzen Passagen fährt man auf unbefestigten Wegen. Das Radwegenetz ist bestens ausgeschildert, der Eurovelo 3 ist an fast allen Schildern mit der Ziffer 3 und dem Europa-Symbol mit den gelben Sternen auf blauem Grund gekennzeichnet.
Die GPS-Daten zur Radreise durch die Wallonie finden Sie im Delius Klasing Tourenportal zum direkten Download.
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Nach Köln gelangt man mit dem IC oder ICE, ab dort geht es weiter mit dem Regionalzug zum Startort Aachen. Die Radmitnahme in IC oder ICE muss reserviert werden (www.bahn.de). Die Stellplätze für die Rückfahrt aus Belgien kann man nicht reservieren. Auf der Website der belgischen Bahn (www.belgiantrain.be/de) liest man zu diesem Thema nur den lapidaren Hinweis, dass Reisende den nächsten Zug nehmen müssen, wenn die Fahrradplätze bereits belegt sind (sind sie aber nur selten). Manche Züge sind mit komfortablen Fahrradabteilen ausgestattet, in anderen gibt es lediglich ein kleines Sperrgepäck-Abteil, das vom Zugpersonal auf- und abgeschlossen werden muss und das zumindest für E-Biker eine echte Herausforderung darstellt. Das Fahrrad-Tagesticket für eine einfache Fahrt in Belgien kostet vier Euro.
Lüttich: Hotel Mercure Liège City Center (Bienvenue vélo), Rue St Leonard 182, 4000 Liège, mercureliegecitycentre.com-hotel.com
Namur: Château de Namur (Bienvenue vélo), Avenue de l‘Ermitage 1, 5000 Namur, chateaudenamur.com/homepage
Ragnies: B&B Gentilhommière du Château de Ragnies, Rue du Tambourin 6, 6532 Ragnies, chateauderagnies-bnb.be
Weitere empfehlenswerte Unterkünfte entlang der Radroute, allesamt mit dem Label „Bienvenue vélo“ als fahrradfreundliche Unterkunft ausgezeichnet.
In der Wallonie wird Französisch gesprochen, aber auch die Küche des südlichen Teils Belgiens orientiert sich an der Grande Cuisine des Nachbarlands. Auf jeden Fall hat das Essen und Trinken in der Wallonie einen ähnlichen Stellenwert wie in Frankreich. Man fühlt sich auf der Pilgerroute ein bisschen wie „Gott in der Wallonie“. Genuss wird definitiv großgeschrieben. Dass die Pommes frites weltweit die besten sind, dürfte sich herumgesprochen haben. Die echten Fritten in Belgien müssen eigentlich in Rinderfett frittiert werden, werden sie jedoch nur noch selten, was Vegetarier wiederum beruhigen dürfte.
In Lüttich sollte man die speziellen Frikadellen (Boulets à la liégoise) probieren, die mit einer „Sauce lapin“ (mit Sirop de Liège) serviert werden, im Herver Land genießt man den heimischen Käse (ebenfalls mit Sirup), und auch entlang des Eurovelo 3 bekommt man feinsten Ardenner Schinken. Ein wenig Wein, dessen Qualität sich inzwischen sehen lassen kann, wird auch in der Wallonie angebaut. Das Nationalgetränk auch im südlichen Teil des Landes ist jedoch das Bier.
MYBIKE-Tipp: Das Restaurant im Château de Namur hoch über der Stadt beherbergt eine Hotelfachschule. Der Service übt also noch ein wenig, und das hat durchaus seinen Charme. Auch in der Küche wird ausgebildet, aber keine Sorge: Die Gerichte, die auf den Teller kommen, werden von den Chefköchen und Ausbildern strengstens kontrolliert. Im Sommer sitzt man auf der herrlichen Terrasse. chateaudenamur.com
In den Tourist-Infos vor Ort erhält man die regionalen RAVeL-Karten (Province de Liège, Province de Namur und Province de Hainaut).