Amazonas ist ein wuchtiges Wort. Eines, das Assoziationen weckt: Urwald. Piranhas. Würgeschlangen. Affengebrüll. Halbnackte Indigene mit Blasrohren auf schmalen Booten und noch allerhand andere Klischees. Doch am „europäischen Amazonas“, vulgo Donau, sieht es gerade anders aus: Da liegen statt scharfzahniger Piranhas pfundschwere Süßwasserfische aus der Karpfenverwandtschaft in einem Topf, und unser Kontaktmann aus der indigenen Bevölkerung heißt Slobodan – ein entspannt lächelnder alter Herr in verschossener Outdoor-Jacke, der uns in die Zubereitung des ortsüblichen Fischeintopfs einweist, nachdem eine Paddeltour mit seinem Sohn Ljubisa mächtig Appetit gemacht hat.
Nein, das ist nicht Brasilien. Wir sind in Serbien, an einem kilometerlangen Totarm der Donau. Und schon das ist ziemlich exotisch: Ausländer verirren sich selten hierher, und selbst die Einheimischen treten überwiegend in Gestalt schweigsamer Angler auf. Kein Laut außer gelegentlichem Vogelgeschrei und einem aufplatschenden Fisch. Kein Geruch außer dem nach feuchter Erde, nach dem dünnen Rauch von Slobodans Kochfeuer und dem des Paprikapulvers, dass er händeweise in die Suppe wirft. Sein Sohn Ljubisa, kurz Ljuba genannt, lehrt uns die ersten Worte Serbisch: Sein Vater, ein ehemaliger Fischer, ist ein „salas“, ein Mann des Flusses. Die abgelegenen Häuser, an denen sich Berufsfischer, Hobbyangler und gelegentliche Ausflügler treffen, sind „csardas“. Das Stromnetz hier draußen besteht aus zwei alten Autobatterien, die ein altes Radio speisen. Brasiliens Amazonasgebiet wäre kaum exotischer. Um sich an die Gegend ranzutrinken, hilft ein großes Glas Schnaps.
Als wir uns nach vielen Stunden satt auf die Räder schwingen, hat diese entlegene Ecke Serbiens in unserer Erinnerung Konturen angenommen – und das Konzept der neuen Radroute hat ein Stück weit funktioniert: Ljuba, der Corona bedingt sein Studium im Ausland beenden musste, hat uns als Erklärer und Übersetzer mit seiner Heimat verbunden. Und sein junges Outdoor-Unternehmen hatte zwei zufriedene Kunden.
Mit drei Millionen Euro hat die Europäische Union das Projekt „Amazon of Europe“ in Österreich, Slowenien, Kroatien, Serbien und Ungarn insgesamt gefördert. Serbien ist nicht Teil der EU (hat allerdings Kandidatenstatus), doch für den Streckenverlauf unverzichtbar – und eine Investition dort dürfte auch der Entspannung dienen. In Osijek, am kroatischen Flussufer, steht ein bedrückendes Denkmal: Ein kleiner roter Fiat auf einem russischen Panzer erinnert an den Angriff Serbiens auf den kroatischen Nachbarn in den Balkankriegen der frühen 1990er Jahre. Denn wo sich heute Fuchs und Reiher gute Nacht sagen, verlief zu Kriegsbeginn die Front. Noch immer stecken Geschosse und Splitter in Osijeks Hauswänden. 800 Tote hinterließ der Beschuss. Und augenscheinlich fahren bis heute eher deutsche Reiseradler als kroatische Ausflügler über die Grenzbrücke.
Es ist ein arges Gehoppel auf der Deichkrone oberhalb des hohen, sumpfigen Auwaldes. Die Packtaschen hüpfen, die Hände krampfen. Glaubt man den Linien auf der GPS-Landkarte, wechseln wir auf winzigen Asphaltstraßen, auf Erdpisten und Split ständig unbemerkt zwischen Serbien und Kroatien hin und her. Doch das ist bloß ein historischer Grenzverlauf, der in der Flussmitte verlief, bevor die Donau sich einmal mehr einen neuen Weg suchte. Der breite Strom selbst, den die Landkarte ganz in der Nähe verzeichnet, bleibt über Stunden unsichtbar. Ist das hier Serbien, Kroatien, Ungarn? Und wo ist überhaupt der Fluss? Den Bäumen, Vögeln und Bienen scheint es egal zu sein. Und viel mehr sehen wir über lange Strecken nicht: Bis zu 15 Kilometer breit ist das Gebiet zwischen den Deichen an beiden Ufern, das sich bei Hochwasser mit den Fluten von Drau und Donau füllt. Große Teile der wilden Auwälder sind mehr oder weniger streng regulierte Schutzgebiete und tragen das Etikett „UNESCO Biosphärenpark“ – ein Gebiet, in dem nachhaltige Wirtschaftsweisen erprobt und gefördert werden.
Letztlich ist es dann Ungarn, das Radler und Fluss wieder zusammenführt – nach einer herben Unterbrechung des Naturidylls. Ein Stück hinter der eher unspektakulären Grenze zwischen Serbien und dem EU-Mitglied Ungarn hatten Militärs auf schwarzen Pick-ups Staub aufgewirbelt, hatte eine scharf ausrasierte Schneise die weiche Harmonie von Wald und Au unterbrochen: Ungarn baut einen drei oder vier Meter hohen, blitzenden Grenzzaun, gekrönt von Panzerdrahtrollen, beäugt von Wachtürmen. Wer die Reste der „Zonengrenze“ in Deutschland kennt, kann es sich vorstellen. Dann, nur wenige Kilometer später, ist alles wieder entspannt amazonig. An einem weiteren Totarm der Donau sitzen auch hier Hobbyangler. Namensschilder verweisen an der jeweiligen Stelle darauf, ob hier Gabor oder Istvan die Schnur ins Wasser halten.
Doch wir parken die Räder auf einem kleinen, umzäunten Grundstück und treffen Endre, in seinem jagdgrünen Outfit als Nationalpark-Ranger erkennbar. „In Ungarn gibt es mehr Angler als Fußballspieler“, scherzt er. Doch Teil seines Jobs ist es, Jugendgruppen die Flussnatur nahezubringen, ohne deren Bewohner gleich zu verspeisen. Unser Glasfaserkanu gleitet über den stehenden Flussarm in einen überschwemmten Auwald. Es ist ein Slalom zwischen Bäumen hindurch, und immer wenn Endre das Boot stoppt, hat er wieder etwas gesehen: Riesige Seeadler, pfeilschnelle Eisvögel, auch Schwarzstörche sind hier zu Hause. Mit leichten Paddelschlägen schweben wir weiter über gewässerte Forstpisten und durch Kanäle. Dann drückt eine schwache Strömung bräunliches Wasser in den gefluteten Wald. „In Deutschland und Österreich hat es geregnet“, sagt Endre, „das Wasser steigt.“ Kurz darauf öffnen sich Auwald und Wasserlauf für einen gewaltigen Anblick: Die offene Donau ist erreicht – glattes, aber beängstigend schnell fließendes Wasser. Bräunlich und mindestens 200 Meter breit, zieht der Fluss an uns vorbei Richtung Kroatien, Serbien, Rumänien, Schwarzmeer. Vorsichtig drehen wir den Bug zurück Richtung Fahrradparkplatz. Nur nicht kentern – am Ende lauern hier vielleicht doch noch Piranhas!?
Die Gesamtstrecke des „AOE Biketrails“ beträgt gut 1.200 Kilometer und führt überwiegend entlang der Drau und später entlang der Donau durch fünf Länder. Der von uns beschriebene Abschnitt ist der östliche Teil ab Osijek in Kroatien. Dabei wurden die Nord- und die Südroute zu einer Rundtour von etwa 270 Kilometern in vier Etappen kombiniert. Sie berührt Kroatien, Serbien und Ungarn. An- und Abreise auf eigene Faust sind aufwendig. Wer mehr Zeit hat und mit öffentlichen Verkehrsmitteln anreist, sollte weiter westlich starten. Im von uns bereisten Abschnitt verläuft ein Teil der überwiegend flachen Strecke auf Erd- und Schotterpisten, fast immer sehr verkehrsarm. Dicke Reifen oder eine Federgabel sind angenehm.
Die GPS-Daten zur MYBIKE-Rundtour auf dem Amazon of Europe Radweg finden Sie hier zum kostenlosen Download oder in der MYBIKE Collection auf komoot.
Der „Amazon of Europe Biketrail“ umfasst nicht nur eine markierte Route durch fünf Länder, sondern soll durch zusätzlich im Buchungscenter ausgewählte Erlebnisse – sogenannte „amazing moments“ – einen tieferen Einblick in die Kultur der Gastländer ermöglichen und in den teils strukturschwachen Regionen größere Bevölkerungsteile ins Tourismusgeschäft einbinden. Angebote dieser Art sind Naturführungen, Paddeltouren oder die gemeinsame Zubereitung lokaler Spezialitäten. Das Konzept wurde vom World Wide Fund for Nature (WWF) und der Europäischen Union unterstützt.
Frühling und Herbst. Der Hochsommer ist oft heiß, außerdem reich an Stechmücken aus den Auwäldern.
Bahn: Die Bahnanreise bis zum Startort Osijek erfordert Enthusiasmus. Bis Zagreb kommt man ab München inklusive Radtransport in etwa zehn Stunden. Von dort sind es noch einmal mindestens fünf Stunden (280 Kilometer). Züge mit Radtransport sind nicht online buchbar.
Bus: Flixbus fährt in 15 Stunden von München nach Osijek. Bei rechtzeitiger Buchung kostet die Fahrt nur 40 Euro – allerdings nur ohne Fahrrad, das vor Ort zu leihen wäre.
Apatin, Serbien: Hotel Marina, Tel.: +381 (0)25 5150068, www.marinaapatin.rs
Direkt an einem Flussarm gelegenes modernes Apartmenthotel mit Blick auf den Hafen voller Anglerboote. Ü/DZ ca. 40 Euro.
Zmajevac, Kroatien: Baranjski Dvori, Tel.: +385 (0)91 200 58 85, baranjskidvori.com.hr
Ehemaliges kleines Gehöft mit großzügigem Innenhof und sehr guter regionaler Küche. Die herzliche Inhaberin spricht Englisch. DZ/F ca. 60 Euro.
Die umfassendsten Informationen und die GPS-Daten sämtlicher Teilstrecken zum „Amazon of Europe Biketrail“ finden sich auf der Seite aoebiketrail.com. Dieses Buchungscenter bietet auch organisierte Reisen auf Teilabschnitten an. Die einwöchige „Explorer“-Variante enthält den Transfer von und nach Mureck (nahe Graz) sowie den größten Teil unserer Fahrstrecke.