Martin Bissig
· 29.08.2016
Der 170 Kilometer lange Arctic-Circle-Trail zieht sich einsam, sumpfig und bizarr durch Grönland. Mit dem Bike lässt er sich nicht bezwingen. Es sei denn, man wartet, bis er tiefgefroren ist.
"Sicher, dass dies Ihr Flug ist?", fragt uns die nette Dame am Check-in-Schalter der Air Greenland in Kopenhagen, als wir ihr unsere Bike-Kartons zur Abfertigung hinschieben. Nach Grönland soll’s gehen, im Winter. Ja, soweit sind wir uns sicher. Ob es eine gute Idee ist, ist allerdings eine ganz andere Frage. Denn, ob sich die größte Insel der Welt zum Biken eignet, noch dazu im Winter, wissen wir ebenso wenig wie die Flughafenangestellte.
Ein Kumpel hatte mir von einem 170 Kilometer langen Wanderweg in Grönland erzählt, dem Arctic-Circle-Trail. Mehr oder weniger von der Zivilisation abgeschnitten, führt dieser Weg vom ewigen Eis der Gletscher in Kangerlussuaq bis zum Küstenstädtchen Sisimiut. Im Sommer soll man für die Strecke etwa zehn Tage brauchen – zu Fuß. Nach kurzer Internet-Recherche und einigen Mails wusste ich, dass sich die Strecke bei wärmeren Temperaturen in den Sommermonaten eher schlecht als recht mit dem Mountainbike bewältigen lässt. Zwischen Juni und September ist der Untergrund je nach Wetter sumpfig. Die Mücken sind aggressiv. Und der Trail-Verlauf ist nur grob mit Steinmännchen markiert. Da sich der Spaß in dieser Zeit offenbar in Grenzen hält und das Fahren/Schieben-Verhältnis bei etwa 40:60 Prozent liegt, ließ ich die Sommeroption schnell fallen. Zumal diese Grönland-Erfahrung bereits mehrere Leute gemacht haben.
Zusammen mit meinem langjährigen Expeditionskumpel Claude Balsiger sowie dem Walliser Bergführer Fabian Mooser entstand ein neuer Plan: eine Erstbefahrung des Arctic-Circle-Trails im Winter! Und zwar mit Fatbikes, deren wuchtige, haftstarke Reifen ja wie gemacht sind für ein solches Vorhaben.
Unser Hotel – oder wie wir sofort beim Eintreten sagen: "Baracke" – liegt direkt neben der Flughafenlandebahn in Kangerlussuaq. Von hier aus fahren wir mit einem gecharterten Bus rund 40 Kilometer zum Startpunkt des Arctic-Circle-Trails: zur Abrisskante des Russell-Gletschers. Die Wand aus grün-blau-schimmerndem, zerborstenem Eis ist ein Natur-Monument, das wir minutenlang einfach nur anstarren. Das Eis ist Millionen Jahre alt. Es ist bis zu drei Kilometer dick. Mit den Augen können wir natürlich nicht erkennen, wie es sich dem derzeit ebenfalls erstarrten Meer entgegenpresst. Aber es knarzt, und man kann den Druck förmlich spüren. Leider haben wir nur etwas mehr als eine Stunde Zeit. Spätestens bei Einbruch der Dunkelheit müssen wir wieder im 500-Seelen-Ort am Flughafen sein, wo wir wieder die Nacht verbringen wollen. Der Trail führt nämlich direkt neben der "Baracke" vorbei.
Die ersten Kilometer sind schnell geschafft. Doch wie sieht wohl der Rest der Strecke aus? Für die verbleibenden 160 Kilometer haben wir drei Tage Zeit geplant. Wenn Wetter, Tagespensum und Material mitspielen, sollte das klappen. Doch ob wir mit unseren Fatbikes auf der Schneedecke überhaupt eine Chance haben, wird uns heute Abend erst einmal unser Guide mitteilen. Jens Erik ist ein Grönland-Riese mit Schuhgröße 54. Er fährt die Strecke mehrmals im Jahr mit seinen 16 Schlittenhunden ab. Für uns wird er mit seinem Schlitten Gepäck und Verpflegung transportieren, denn es gibt unterwegs keine Shops und keine Hotels.
Unsere geplanten Tagesetappen sind zwischen 52 und 60 Kilometer lang. Distanzen, die man hier im Sommer auf sumpfigen Wiesenmatten niemals schaffen würde. Zumal man dann auch die Fjorde und Seen umfahren müsste. Jetzt im Winter aber liegt ein meterdicker Eispanzer auf dem Wasser. Wir können die Fjorde daher geradeaus überqueren und kommen zügig voran. Unsere Fatbikes erweisen sich schon bald als perfekt: Skidoos und Hundeschlitten ziehen in dieser Landschaft ohnehin schon schöne Trails durch den arktischen Schnee. Durch die breite Auflagefläche unserer Reifen fahren wir nicht in, sondern auf den Rillen. Trotzdem müssen wir unser Tempo niedrig halten. Das bekommen wir beim ersten längeren Halt zu spüren. Bei Tagestemperaturen zwischen minus 10 und minus 30 Grad schwitzen wir trotz der klirrenden Kälte, sobald wir uns zu schnell bewegen. Dann beißt das Outdoor-Gefrierfach bei jeder Verschnaufpause erbarmungslos zu. Alles Feuchte und Flüssige verwandelt sich in weniger als einer Minute in einen festen, tiefgefrorenen Zustand. Also passen wir uns besser an das Tempo von Jens Erik und seinen Hunden an. Schneller zu sein nützt eh nichts, da er alles Notwendige auf seinem Schlitten mitführt. Außerdem können wir uns so auch ein wenig über sein Leben in Grönland unterhalten. Der 25-jährige Zweimetermann liebt das harte und raue Leben, seine Hunde und die Jagd. Was wir als einmaliges Abenteuer erleben, ist für ihn tagtägliche Realität. Und trotzdem: Tauschen würde er nie. Er lebe hier im Paradies, verrät er uns. Wir fragen uns, wie es sein kann, dass sich Menschen an einem der extremsten Orte der Welt niederlassen. Im Winter bleibt es hier dunkel. Das Thermometer steigt nur während der vier Sommermonate über null Grad. Landwirtschaft und Viehzucht sind nur in ganz wenigen Gebieten möglich. Praktisch alles muss importiert werden und ist ultrateuer. Aber dennoch hält es mehr als 55000 Menschen in dieser unwirtlichen Gegend.
Die ersten 59 Kilometer und 750 Höhenmeter ziehen sich im Auf und Ab dahin. Wir erreichen das Kanoo-Camp nach fast acht Stunden. Eine alte, löchrige Kanuhälfte deutet auf eine misslungene Geschäftsidee hin. Doch die Hütte bietet mehr Komfort, als wir uns vorgestellt haben. Der Ofen ist schnell eingeheizt, und wir hängen unsere feuchten Klamotten und Schuhe zum Trocknen darüber. Es gibt sogar anständige Betten mit Matratzen. Bei Kerzenlicht und Moschusochsen-Ragout besprechen wir die Route des nächsten Tages.
Als wir am nächsten Morgen um sieben Uhr die Hüttentür aufstoßen, sehen wir ein paar Sekunden lang gar nichts. Ein Nebelschwall flutet unser Zimmer, als wären wir in einer Erlebnis-Disko am Ballermann. Die minus 29 Grad kalte Außenluft kondensiert sofort mit unserer Ofenwärme in der Hütte. Draußen gähnen und jaulen die Hunde. Sie haben die Nacht angekettet draußen verbracht. Nicht etwa warm zusammengekuschelt, sondern in einem Abstand von jeweils zwei Metern zum nächsten Tier. Während Jens Erik sein Rudel füttert und am Spanngeschirr befestigt, löffeln wir unser Fertigmüsli. Unsere Klamotten sind trocken, unsere Bikes aufgetaut, und uns ist rundherum warm. Noch.
Die ersten 25 Kilometer dieses Tages führen wieder relativ flach über einen See. Am Himmel ist keine Wolke zu sehen. Das Stahlblau bildet einen perfekten Kontrast zum gleißenden Weiß der Winterlandschaft. Ende März steht die Sonne hier noch ziemlich flach, was den ganzen Tag lang gutes Fotolicht garantiert. Die Batterien meiner Kamera halten erstaunlich gut durch. Nur die Reserve-Akkus bewahre ich nah am Körper auf, damit sie sich durch die Kälte nicht selbst entladen. Die Mittagsrast legen wir am Fuße des ersten ernstzunehmenden Anstiegs ein. Hungrig kauend verfolgen wir mit den Augen die weiße Schneespur, die zuerst geradeaus, dann im Zickzack etwa 400 Höhenmeter eine Gebirgskette hinaufklettert. Kaum vorstellbar, dass die Hunde den schweren Schlitten da hochziehen können. Jens Erik fährt schon mal vor. Seine Hunde geben alles. Wir lassen dagegen erst mal Luft aus den Reifen. Von 0,5 auf etwa 0,3 bar. Das vergrößert die Traktionsfläche. Tatsächlich schaffen wir damit den ersten Teil des steilen Anstiegs fahrend. Nur dampfen wir jetzt aus allen Kleideröffnungen. Also schnell so viele Klamotten ausziehen wie möglich, damit nichts nass wird. Ich stopfe sogar die Handschuhe in den Rucksack. Nach etwa zwei Dritteln des Anstiegs treffen wir wieder auf den Schlitten. Der Weg wird zwar nun insgesamt flacher. Aber bei einigen Rampen steigt Jens Erik dennoch vom Schlitten – 130 Kilo Erleichterung für die Hunde. Der Rest des Tages ist ein Kinderspiel. Nach 52 Kilometern erreichen wir am späteren Nachmittag die nächste Hütte. Heute Nacht wird es allerdings etwas enger. Eine grönländische Familie nutzt das Wochenende für einen Ausflug und übernachtet ebenfalls hier. Wegen des Schnarchkonzertes im Schlafraum, ziehen wir bald in den Gemeinschaftsraum um. Eine gute Entscheidung, denn aus den großen Fenstern können wir die grün schimmernden Nordlichter beobachten, die über den Nachthimmel zucken. Ein sagenhaftes Spektakel!
Die letzten Etappe: Noch 56 Kilometer bis an die Küste nach Sisimiut. Jens Erik zeigt uns auf der Karte eine Hügelkette in der zweiten Hälfte der Strecke. "Wenn diese 600 Höhenmeter geschafft sind, rollt ihr wie von allein ins Ziel", verspricht er. Je näher wir dem höchsten Anstieg dieser Expedition kommen, desto mehr Verkehr herrscht auf dem weißen Highway. Skidoos fetzen an uns vorbei, Hundeschlittengespanne jagen uns entgegen. Man kennt sich, grüßt, tauscht Neuigkeiten aus. Der große Uphill vor uns sieht aus wie eine Skipiste, und unser Weg walzt sich dort als breite, weiße Bahn hinauf. Wieder lassen wir Luft aus den Reifen und kämpfen. Skidoo-Fahrer zeigen uns anerkennend den Daumen. Nach 90 Minuten erreichen wir den Pass. Jens Eriks Hunde wittern nun die Heimat und sind nicht mehr zu halten. Also lassen wir das Mittagessen sausen und schießen hinterher Richtung Meer. Bald entdecken wir die ersten Häuserzeilen des 5000-Seelen-Ortes. Jetzt sind es nur noch 20 Minuten bis zur heißen Dusche und dem wohlverdienten Rentier-Burger.
INFO GRÖNLAND
Grönland ist die größte Insel der Welt und etwa sechs Mal so groß wie Deutschland. Politisch gehört es zu Dänemark. Der Arctic-Circle-Trail ist von Mitte Juni bis Mitte September schneefrei, aber sehr sumpfig (Mücken!). Wer den 170 Kilometer langen Wanderweg an der Westküste Grönlands im Winter angehen möchte: www.greenland-guide.gl
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