Michael Poliza ist ganz schön herumgekommen in der Welt. 190 Länder hat der Mann bereist. „Nicht nur die Flughäfen, sondern so richtig“, betont er. Hätte man Zweifel, dann müsste man sich nur einen der Bildbände anschauen, die der gebürtige Hamburger während seiner Reisen um den Erdball produziert hat. Fantastische Bilder sind dabei, viele davon aus der Vogelperspektive. Wenn er von seinen Fotobüchern spricht, dann beschreibt er sie gern in Gewichtsangaben: 15 Kilo Afrika von oben, fünf Kilo Mallorca von oben usw. Poliza war Schauspieler, saß als IT-Unternehmer in Meetings mit einem gewissen Bill Gates und hat eine Kinokette mitbegründet. Inzwischen sitzt der Tausendsassa am liebsten auf einem E-Bike, geschätzte 30 Kilo schwer, cruist damit durch die Lüneburger Heide – und schwärmt in den höchsten Tönen von der Landschaft.
„Für mich ist es die Kombination von großen Heideflächen mit den Wacholderbüschen und den Birken dazwischen. Wenn sich dann noch im Spätsommer zur Blüte der Morgennebel über diese Landschaft legt, dann haut es mich immer wieder um. Kaum eine halbe Stunde von Hamburg entfernt, ist man in dieser ganz anderen Welt.“ Poliza bietet unter anderem Sonnenauf- und Sonnenuntergangs-E-Bike-Touren rund um den Wilseder Berg an und hat uns gefragt, ob wir Lust hätten, eine seiner Touren mitzumachen.
Klar hatten wir Lust. Allerdings nicht darauf, um fünf Uhr aufzustehen, insofern war unsere Wahl schnell getroffen: Sunset statt Sunrise. Das passte perfekt, denn wir befanden uns eh gerade auf einer Tour durch die Lüneburger Heide: auf den Spuren des Heidschnuckenwegs, dem vielleicht schönsten Fernwanderweg Norddeutschlands. Wir hatten uns gedacht: Wo man wandern kann, kann man auch mit dem Rad fahren und haben eine Tour geplant, die so nah wie möglich entlang des Heidschnuckenwegs verläuft – bisweilen haben wir uns den Weg sogar mit Wanderern geteilt. Von Fischbek bei Hamburg bis in die alte Residenzstadt Celle in der Südheide führt der Weg.
Die Heide ist das ganze Jahr über eine Reise wert. Zur Heideblüte im August und September ist sie ein Traum in Violett. Eine Landschaft, zum Niederknien schön und mit einer ganz besonderen Geschichte. Denn es handelt sich um eine vom Menschen
geschaffene Kulturlandschaft. Entstanden bereits in der Jungsteinzeit, bedeckten zunächst dichte Wälder die Region, doch durch intensive Beweidung und Rodung wurde der Wald zurückgedrängt. Es entstanden weite, offene Flächen, auf deren sandigen und nährstoffarmen Böden sich vor allem die anspruchslose Besenheide breitmachte.
Ab dem Mittelalter siedelten Menschen dauerhaft in der Heide und betrieben auf dem kargen Ackerland über Jahrhunderte die typische Heidebauernwirtschaft: Heidschnuckenzucht, Imkerei, aber auch intensive Ackerwirtschaft, durch die immer mehr Heideflächen verschwanden. Anfang des 20. Jahrhunderts erkannte man dann zunehmend den Wert der außergewöhnlichen Kulturlandschaft. 1909 gründete sich der Verein Naturschutzpark und kaufte erste Flächen rund um den Wilseder Berg, um die noch bestehenden Heideflächen zu erhalten und um die geplante Ansiedlung von Ferienhäusern zu verhindern.
Für mich war die Lüneburger Heide keinesfalls Liebe auf den ersten Blick. Vielmehr verband ich damit lange Zeit Erinnerungen an langweilige Ausflüge mit Tante Gerda und Onkel Wilfried. Es war für mich eine klassische „Draußen-nur-Kännchen-Region“, eher spießig und piefig und so gar nicht sexy. Aber das hat sich geändert. Und nicht nur für mich. Michael Poliza sagt: „Die Lüneburger Heide wird so langsam auch von der jüngeren Generation entdeckt. Es gibt immer mehr tolle Gasthöfe, die in einer lässigen Atmosphäre erstklassige Qualität anbieten.“
Mit den Heideflächen ist das allerdings so eine Sache. Man muss schon wissen, wo man sie findet, sonst fährt man überwiegend durch eine von Feldern und Wäldern geprägte norddeutsche Landschaft, ohne auch nur ein einziges Exemplar der Besenheide zu Gesicht zu bekommen. Und genau das ist der Trick an unserer Radreise entlang des Heidschnuckenwegs. Die Route führt verlässlich durch die schönsten Heideflächen. Die Fischbeker Heide südwestlich von Hamburg kann man als eine Art „amuse gueule“ bezeichnen, ehe das Büsenbachtal in der Nordheide so richtig Appetit macht.
Von dort geht es weiter nach Undeloh, einem der touristischen Hotspots der Heide. In der Hauptsaison spucken Reisebusse hier im Stundentakt Scharen von Besuchern aus, die an den zahlreichen Ständen überteuerten Heidekitsch und Heidehonig kaufen. Ich hab’s nicht kontrolliert, aber durchaus denkbar, dass es in den Cafés dort immer noch „draußen nur Kännchen“ gibt und in den Bussen Heizdecken verhökert werden.
Also schnell weiter und über den Pastor-Bode-Weg Richtung Wilsede, ins Herz des Naturschutzgebiets. Benannt ist der Weg nach jenem evangelischen Geistlichen, der sich einst stark gemacht hat für den Erhalt dieser Landschaft. Ein wahrlich weiser Mann. Das autofreie Wilsede, ein winziges Kaff zu Füßen des gleichnamigen Bergs ist ebenfalls längst ein Touristen-Hotspot, eher Freilichtmuseum als Dorf und trotzdem deutlich sympathischer als Undeloh. Die Kutschen rattern vorbei, im Heimatmuseum „Dat Ole Hus“ kann man nacherleben, wie die Heidjer früher wohnten und arbeiteten. Und in der Milchhalle gibt’s leckere Buchweizentorte. Die liegt ein wenig schwer im Magen, als wir hinaufstrampeln zum Wilseder Berg. Aber der Ausblick vom höchsten Punkt (169 Meter) der norddeutschen Tiefebene ist grandios, auch wenn die Heideblüte sich nicht ganz an den Zeitplan gehalten hat.
Blühte die Heide in den vergangenen Jahren aufgrund des Klimawandels früher als üblich, ist sie diesmal eher spät dran. Eines allerdings trübt die Freude noch deutlich mehr: Es sind reichlich braune, verbrannte Stellen auszumachen. Experten befürchten, dass insbesondere in der Lüneburger Heide, die sich über Jahrhunderte auf ausreichend Regen im Frühjahr verlassen konnte, ein beträchtlicher Teil der Pflanzen ganz abstirbt.
Mit Michael Poliza machen wir uns am Abend auf zur Sundowner-Tour. Im Abendlicht sehen Wilseder Berg, Totengrund und Steingrund noch magischer aus. Die Heidschnucken sind wieder im Stall, aber am nächsten Morgen bekommen wir sie leibhaftig zu sehen. Erst hören wir nur das Bellen der Hütehunde, dann ein Rascheln, und schließlich sehen wir den Schäfer mit seinen circa 300 Heidschnucken; 300 von rund 10.000, die heute noch durch die Heide ziehen.
Vor rund 150 Jahren hielten die Heidebauern noch mehr als eine halbe Million dieser Tiere. Damals wie heute ziehen sie nicht zur Belustigung der Touristen durch die Heide, sondern als Landschaftspfleger und als Bewahrer dieser einzigartigen Kulturlandschaft. Die Schnucken fressen nämlich die grünen Triebe der Heidepflanze, woraufhin neue Triebe entstehen und die Pflanze so verjüngt wird. So wird die Heide kurzgehalten und verholzt nicht. Zudem verbeißen die Schnucken junge Bäume, die sich ansonsten ausbreiten und die Heidepflanzen überwuchern würden.
Auf dem Weg von Oberhaverbeck nach Bispingen fahren wir im Zickzack durch die Gegend, um durch möglichst viel Heidelandschaft zu fahren. Heidschnucken bekommen wir nur noch einmal aus der Ferne zu sehen. Aber weil es so großartig war, die Heide in der Abendstimmung zu erleben, machen wir das am nächsten Abend gleich noch einmal. Auf einer Bank am Rande der Behringer Heide sitzt ein älterer Herr, Typ Altfreak mit langem Pferdeschwanz und einer Flasche Bier neben sich. „Geil, oder?“, fragt er, wobei es mehr eine Feststellung ist – um gleich hinterherzuschieben: „Aber wisst ihr, was noch besser ist? Wenn frühmorgens die Nebelschwaden über der Heide wabern und von der aufgehenden Sonne angestrahlt werden. Das müsst ihr erleben.“ Sagt’s, nimmt einen Schluck Bier aus der Pulle und widmet sich wieder dem Naturschauspiel.
Als wir wenig später bei einem Bier am Rande der Heide sitzen, denken wir darüber nach, uns den Wecker auf fünf Uhr zu stellen. Aber das ist schon brutal früh und kaum sind wir im Hotel, verwerfen wir den Plan auch schon wieder. Lieber gemütlich frühstücken und genauso gemütlich weiter Richtung Müden an der Örtze gondeln. Die Landschaft verändert sich ab Bispingen, wir rollen vielfach durch Wald. Zunächst noch auf verschlungenen Wegen, später durch breite Asphaltschneisen, auf denen einst Panzer entlangrollten; Rechts und links der Straße ist „No-Go-Area“, militärisches Sperrgebiet.
Über einen Zeitraum von mehr als einhundert Jahren spielte das Militär eine wichtige Rolle in der Region. Inzwischen wurden zahlreiche Standorte aufgegeben und Teile der ehemals militärisch genutzten Gebiete wurden renaturiert. Aber es gibt sie noch, nicht nur an den Verbotsschildern zu erkennen, sondern auch am Geballer, das aus dem Wald herausschallt.
Der Wietzer Berg bei Müden war nie ein Militär-Standort; hier saß der Heidedichter Hermann Löns gerne und ließ sich inspirieren. Löns gilt in Norddeutschland für viele als eine Art Volksheld. Allerdings ist ein kritischer und differenzierter Umgang mit Persönlichkeit und Werk angezeigt. Als Mensch wie als Schriftsteller hatte Löns ganz unterschiedliche und teils befremdliche Facetten.
Er war zwar einer der ersten Naturschützer und forderte schon vor rund einhundert Jahren, die Naturschutzbewegung müsse eine Macht werden, die sich gegen die Interessen des Kapitals stelle. Aber der Heidedichter, der auch für seine Alkoholexzesse bekannt war, schrieb auch solches: „Wir wollen verhindern, dass der große Volksgesundungsbrunnen verschüttet, das heilige Seelenbad verunreinigt werde. Weil wir wissen, dass Naturschutz gleichbedeutend ist mit Rasseschutz.“ Und Löns prangerte an, dass „Humanistik und Internationalismus uns kaputt gemacht haben“.
Man ahnt, wie es kommen konnte, dass der 1914 im Ersten Weltkrieg Gefallene später von den Nazis vereinnahmt wurde. Hinter Müden folgt mit der Misselhorner Heide ein letztes Heide-Highlight, ehe wir Celle erreichen. Keine Heide weit und breit, dafür so viel Fachwerk wie nirgendwo sonst im Norden der Republik, ein Schloss, in dem die Vorfahren englischer Könige lebten, und das erste 24-Stunden-Kunstmuseum der Welt. 24 Stunden lang muss man die Heide wahrlich nicht erleben, des Nachts ist es dort natürlich zappenduster. Aber als uns Michael Poliza per WhatsApp ein Foto von der nebelverhangenen Heide im Sonnenaufgang schickt, da wissen wir, dass wir für eine weitere Radreise wiederkommen müssen: Wecker stellen, in aller Herrgottsfrüh aus dem Bett quälen, um dieses grandiose Naturschauspiel einmal selbst zu erleben.
Die Strecke führt nah entlang des Heidschnuckenwegs, einer der beliebtesten Fernwanderwege in Deutschland, zum Teil direkt auf diesem. Er durchquert über 223 Kilometer die Lüneburger Heide, von Fischbek, einem Stadtteil Hamburgs, nach Celle in der Südheide. Man passiert circa 30 Heideflächen, darunter die größte zusammenhängende Heidefläche Europas rund um den Wilseder Berg – seit 1922 Naturschutzgebiet.
Die Radstrecke verläuft überwiegend auf naturnahen Wegen abseits des Verkehrs. Häufig geht es über groben Schotter, bisweilen sind die Wege ziemlich sandig, der eine oder andere wird zwischendurch mal schieben müssen. Zu empfehlen sind ein Gravelbike, ein E -Bike oder ein robustes, gefedertes Trekkingbike mit dicken profilierten Reifen. Insgesamt eher sportiv als pures Genussradeln. Rund um den Wilseder Berg geht es teils etwas steiler zu. Dort beachten: Rücksicht nehmen auf die Spaziergänger und Wanderer, die sind hier deutlich in der Überzahl. Aber: Radfahren ist überall erlaubt!
MYBIKE-TIPP: Heideblüten-Barometer: Die Heide blüht in der Regel im August und September. Aktuelle Infos gibt das Heideblüten-Barometer auf www.lueneburger-heide.de
Die GPS-Daten zur Radreise durch die Lüneburger Heide finden Sie in der MYBIKE Collection auf komoot oder hier zum direkten Download
Bahn: Zum Startort Fischbek gelangt man ab Hamburg Hauptbahnhof via Harburg mit dem Metronom und der S3 in circa 45 Minuten (S-Bahn-Haltestelle Hamburg-Neugraben). Celle erreicht man von Hannover aus ebenfalls in knapp 45 Minuten mit der S7.
Auto: Die Urlaubsregion Lüneburger Heide südlich von Hamburg, südöstlich von Bremen und nordöstlich von Hannover ist verkehrstechnisch sehr gut angebunden. Nach Fischbek gelangt man über die A7, Ausfahrt 32 und auf der B73 Richtung Stade. An der Straße Scharlbarg nördlich der Fischbeker Heide beginnt der Heidschnuckenweg. In der Ferienregion fährt während der Saison (15.7.–15.10.) das kostenlose Heide-Shuttle, das 14 Fahrräder transportieren kann. Der Bus verkehrt auf vierverschiedenen Ringlinien.
Infos und Fahrplan unter „Heide-Shuttle“: www.lueneburger-heide.de oder https://naturpark-lueneburger-heide.de
Die Spezialität schlechthin ist die Heidschnucke – ob als Heidschnuckenbraten, Heidschnuckenragout, Bratwurst oder Heidjer Knipp. Dazu gibt es Heidekartoffeln. Das extrem dunkle und sehr fettarme Fleisch ähnelt eher Wild als Lamm. Traditionell ein Arme-Leute-Essen, heute eine Spezialität sind die Buchweizengerichte wie Buchweizenpfannkuchen und die Buchweizentorte. Viele gastronomische Anbieter sind auf Vegetarier und Veganer eingestellt.
Schneverdingen: Hotel Ramster. Die Heidschnuckengerichte des vielfach ausgezeichneten Restaurants sind vom Feinsten. www.hotel-ramster.de
Celle: Taverna & Trattoria Palio im noblem Hotel Fürstenhof. Erstklassige italienische Küche. www.althoffcollection.com
In der Salz - und Hansestadt Lüneburg locken das älteste mittelalterliche Rathaus des Nordens, der Fisch- und der Stintmarkt an der Ilmenau, das Deutsche Salzmuseum und die größte Kneipendichte Deutschlands. Im Ort Wilsede lohnt ein Besuch im Heidemuseum „Dat Ole Huus“. In Celle findet sich das größte Fachwerkensemble Norddeutschlands; das Boman-Museum präsentiert die Stadtgeschichte.
Tourendaten Heidschnuckenweg:
Die einzelnen Orte entlang der Route:
MYBIKE-Tipp: Die geführten E-Bike-Touren rund um den Wilseder Berg von Michael Poliza bei Sonnenauf- oder -untergang starten entweder am Stimbekhof in Oberhaverbeck oder in Sudermühlen. Im Angebot sind hochwertige Riese & Müller-Bikes. www.mp-ebike-adventures.de