Die nackten Zahlen klingen erst einmal nicht völlig abstrus oder unerreichbar – 100 Kilometer hauptsächlich entlang der Isar und des Inn, dazu mit Unterstützung von Pedelec und erfahrener Reisebegleitung. Ein bisschen Abenteuer, Anspannung und Adrenalin lagen am Start in Bad Tölz schon in der Luft. Ziemlich früh morgens sollte Connys erster Trip im dreistelligen Kilometerbereich losgehen. Zu den erwarteten Problemchen an Po, Rücken und Nacken sowie im Verlauf der Tour mit abnehmender Kondition, Konzentration und vielleicht auch Motivation sollte nicht noch die brennende Mittagshitze kommen. Das Wetter ist ein Faktor, den man auf solch einem Trip nicht beeinflussen kann.
Für alles, was man im Vorfeld und unterwegs planen konnte, war seit Auswahl der Leserin für die MYBIKE Challenge 100 gesorgt worden. Viele Dämpfer für Lust, Laune und Kraft lassen sich durch gute Vorbereitung vermeiden. Was beim Ausladen in Bad Tölz nur Conny wusste – und auch bis zur Nachbesprechung für sich behielt: Sie selbst glaubte am Start nur zu 20 Prozent daran, dass Körper und Geist bis zur 100-Kilometer-Marke durchhalten. Sie sei innerlich auch auf einen Abbruch vorbereitet gewesen. Vor allem, wenn Schmerzen aufgetreten wären.
MYBIKE-Chefredakteurin Barbara Merz-Weigandt und ich, MYBIKE-Redakteur Timo Dillenberger, selbst Sportlehrer, Connys Begleiter auf dem Weg von Bad Tölz in Bayern ins österreichische Innsbruck, sind alles andere als Langstreckenneulinge und wussten zwar von ihren Zweifeln, nicht aber von deren Heftigkeit. Trotzdem ging die 50-jährige positiv an den Start, eine Grundvoraussetzung für solch eine Challenge.
Das MYBIKE-Team kümmerte sich im Vorfeld um alles, was der erfolgreichen Vollendung der Mission hätte im Wege stehen können. Stichwort „Weg“: Wenig ist schlechter für die Motivation eines müden Bikers als unnötige Umwege, ganz besonders, wenn man sie durch Streckenkenntnis hätte vermeiden können. Um das auszuschließen, hatte Barbara den GPX-Track auf ihr Smartphone gespielt und übernahm dankenswerterweise die Rolle des Tourguides. Die für die 100-Kilometer-Challenge ausgewählte Strecke war als Teil des Radfernwegs München–Venezia zwar ausgeschildert, aber ein einziges verpasstes Schild kann die Moral je nach Ermüdung und Charakter des Fahrers beziehungsweise der Fahrerin brechen. Also lieber auf Nummer sicher gehen.
Keiner im Team kannte Conny gut genug, um vorauszusehen, wie sie auf die unweigerlichen Tiefs während so einer Tour reagieren würde. Wie ernst sie die Herausforderung nahm, zeigte ein zweiter Akku in ihrem Gepäck. Den hatte sie kurzerhand ihrem Mann gemopst. Beide Akkus waren natürlich bis zum Anschlag geladen. Nach unseren Berechnungen im Vorfeld sollte einer aber ausreichen, wenn Connys Cube-Rad nicht die komplette Zeit im Turbo-Modus unterstützen muss. Wichtig und damit auch Gegenstand erster Gespräche unterwegs: Nicht nur die eigenen Kräfte muss man sich als Pedelec-Pilot einteilen, sondern auch die des Rades.
Am besten nutzt man den Antrieb und die eigene Energie, indem man auf der Ebene in einem der leichteren Modi immer knapp unter den 25 km/h bleibt, dabei locker mit einer Trittfrequenz von 80 Umdrehungen pro Minute kurbelt. Erst bergan regelt man die Motorpower hoch und schaltet runter. Conny gehört zur Mehrheit an Hobbyradlern, die eher einen Gang zu „dick“ als zu groß fahren. Ab und an musste sie daran erinnert werden, minimal flüssiger zu treten. Das passt auch besser zu ihrer neuen Sitzposition.
Ergonomie-Experte Dr. Kim Tofaute von Ergon hatte sie im vorausgegangenen Bike-Fitting um einiges tiefer gesetzt. An beides, neue Sitzhöhe und höhere Trittfrequenz, musste sich Conny erst gewöhnen. Für die Tour hatte sie deshalb heimlich den Sattel wieder etwas nach oben korrigiert. Ihre Wohlfühlkadenz hielt die Challenge-Kandidatin dafür konsequent ein, schaltete also Gänge und Motor immer so durch, dass der Rhythmus gleich blieb.
Auch sonst gab es aus meiner Sicht als Team-Coach unterwegs tatsächlich wenig auszusetzen oder zu korrigieren. Hände und Füße positionierte die Langstrecken-Novizin nach jedem Stopp gleich wieder an idealer Position, die Knie zeigten stets biomechanisch korrekt nach vorne, und auch ans regelmäßige Trinken musste man Conny nicht erinnern. Das wird nämlich gerne vergessen, wenn man sich auf viele andere Kleinigkeiten konzentrieren muss – und rächt sich spätestens, wenn bei steigenden Temperaturen am Mittag schon ein Flüssigkeitsdefizit herrscht.
Etwas Sorge machte mir, wenn überhaupt, Connys Kopfhaltung. Ob es an der wunderschönen Strecke entlang der Isar lag, die sich gerade in diesem Bereich besonders durch ihre stark gegeneinander abgegrenzte Zweifarbigkeit von leuchtendem Türkis und erdigem Braun hervortut, oder an der suboptimalen Gleitsichtsonnenbrille -Connys Kopf war im Gegensatz zum Oberkörper sehr aufrecht, dadurch entstand ein unnatürlicher „Knick“ zwischen Brust- und Halswirbelsäule, der oft zu muskulärer Ermüdung führt. Das galt es im Auge zu behalten. Eine relativ starre, selten abwechselnde Sitzhaltung ist ein Nachteil von langen, überwiegend flachen Etappen.
So machte auch Conny schon vor Halbzeit der Strecke erste Dehnbewegungen und versuchte auf monotonen Passagen, den Kopf weiter Richtung Brust zu halten. Vielleicht hatte Conny aber auch einfach Tour-Guidin Barbara fest im Blick. Gerade mit unterschiedlichen Radtypen und physischen Voraussetzungen ist es in einer Gruppe nicht immer leicht, ein identisches Tempo zu fahren. Meist ist es auch gut, wenn der „Navigator“ ein klein wenig vorausfährt. Mut zur Lücke, heißt es hier. Lob an die 50-Jährige, die es über die komplette Strecke verstand, konsequent ihr Tempo und ihren Rhythmus zu fahren und sich nie von diesen Lücken zwischen uns dreien, von Änderungen im Landschaftsprofil oder von Gesprächen aus dem Konzept bringen ließ.
Geselligkeit auf dem Rad ist schön, und die Zeit vergeht bei einem Schwätzchen schneller, wie Conny im Nachgang bestätigte. An Schlüsselstellen sollte man sich dennoch nicht zu sehr vom Tempo der Gruppe verleiten lassen. Dazu gehörten auf dem 100-Kilometer Trip besonders die teils steilen Stellen oder die schottrigen Passagen vor und nach der Landesgrenze. Bergan hätte Conny wohl an passenden Stellen auch mal in den Wiegetritt wechseln können. Das lockert die sonst gleichförmige Körperhaltung auf.
Andererseits sollte Conny nicht durch zu viele Fahrtechnik-Tipps aus dem Konzept gebracht werden und sich gedanklich nicht zu sehr mit Haltung, Kondition und Co. beschäftigen. Denn wer auf diese Weise immer und immer wieder mit möglichen Problemen konfrontiert wird, nimmt diese intensiver wahr, als wenn er währenddessen über die Aussicht, den Job oder die Lieblingsmusik sinniert. Erfahrene Langstreckler schaffen es, ihren Fokus so lange von Wehwehchen oder gar Schmerzen fernzuhalten, bis die zu einem echten Problem werden könnten. Der Neuling ist da vielleicht zu „hellhörig“ oder sensibel, weil er oder sie weniger einschätzen kann, wie missionsgefährdend, bedrohlich oder vernachlässigbar der Zustand wirklich ist.
Bei einem Trip mit Nettofahrzeit von mehreren Stunden hilft es der Moral sehr, sich die Zeit beziehungsweise Strecke in Segmente aufzuteilen. Eines der Kernelemente in der Vorbereitung war das mentale Coaching. Wer lange im Sattel sitzen will, muss lernen, sich weniger mit dem Gesamtumfang, sondern eher mit Teiletappen zu beschäftigen. Sich selbst die Distanz schönrechnen war die Taktik der Wahl. Conny hatte im Vorfeld maximal eine zwei Drittel so lange Strecke absolviert. Das war auch Grund für ihre im Nachhinein zu pessimistische Erwartungshaltung.
Eine Verpflegungspause vor schöner Kulisse kann wie ein rettender Anker wirken, wenn die Motivation zum ersten Mal spürbar abnimmt. Ein Verpflegungsstopp dient also nicht nur dazu, die Energietanks zu füllen, sondern auch, die Laune zu heben und folgende Streckenteile gefühlt etwas zu verkürzen. Auch Marker wie Gipfel und Abbiegepunkte, der Start des „Endspurts“ und die Hälfte der Route können hier helfen. Deshalb ist es ratsam, die große Pause nicht gerade mit einem dieser Punkte zusammenzulegen.
Meist rastet man etwas nach dem „Bergfest“. Das macht es auch leichter, auf die zweite, dann kürzere Etappe zu starten. Tipp: Stopps nicht zu lange werden lassen, durchs Essen und Sitzen schaltet der Körper in eine Art Regenerationsmodus, das neuerliche Starten fällt dann schwer.
Worauf sollte man bei der Verpflegung achten? Leicht verdaulich, also nicht fettig sollte das Mahl sein, Milchprodukte sind ebenfalls wenig geeignet. In unserem Fall setzte sich die Wegzehrung aus schnell ins Blut gehenden Fruchtgels und dem Klassiker Bananen für unterwegs zusammen sowie deutlich länger vorhaltende Mittagssnacks.
Zu trinken gab‘s unterwegs Wasser und einen Elektrolytdrink, der den Flüssigkeitsverlust durchs Schwitzen kompensierte. Prinzipiell ist alles als Tour-Verpflegung geeignet, was man gerne mag. So ist auch garantiert, dass man nicht erst trinkt, wenn man Durst hat. Die vielgerühmte Saftschorle hat diesen Ruhm übrigens gar nicht verdient. Kohlensäure ist in Radflaschen eh problematisch, in Addition mit der Säure des Saftes kann die Schorle in anstrengenden Passagen sogar Leistung kosten. Reiner Saft umso mehr. Kalter Tee ist unser Tipp, leicht gezuckert spendet er sogar Power.
Das mittlere Drittel der Strecke war für alle das abwechslungsreichste und anstrengendste. Ist es immer, weil die Beine schon einige Kilometer abgespult haben, aber das Ziel noch nicht nah scheint. Manche Radler zählen zur Motivation deshalb Kilometer hoch, andere runter. Grundsätzlich sollte man sich nicht zu viel mit dem Tacho beschäftigen, besser, wie in Connys Fall, mit den Mitfahrern. Das MYBIKE-Begleitteam traf offenbar das richtige Maß zwischen Ablenken, Motivieren und Loben.
Jeder reagiert unterschiedlich auf eine Krise im Sattel. Kinder wollen zum Beispiel viel Lob, Erwachsene reagieren eher genervt auf übertriebene Schmeichelei. Auch ständiges Korrigieren und gut gemeinte Ratschläge haben schon gute Seilschaften reißen lassen. Das Auf und Ab beim Wechsel von Fluss zu Fluss hatte mich mit meinem sportlichen Ersatzrad mehr belastet als Conny und sogar etwas zurückgeworfen. Als es wieder flacher wurde und alle wieder in ihre monotone Sitzposition zurückfielen, begann Conny erneut mit Lockerungsübungen für den Nacken.
Die im Rahmen ihres Bike-Fitting getauschten Griffe und Sattel von Ergon lobte sie während und nach der Fahrt. Sie hatte keine ernsten Probleme mit Po, Knien oder Händen. Zwar habe sie wenig Vergleichsmöglichkeiten, schließlich war vor dem Cube langes Radfahren kein Hobby von ihr, aber der Sattel habe ihr im wahrsten Sinne den Hintern gerettet, war sie sicher. Das sah man auch. Kein Rumgerutsche auf dem Sattel, kein wiederholtes Wechseln von Treten und Rollenlassen, kein ständiges Ausschütteln der Hände, und ihre Tretbewegung war bis zum Ende rund und flüssig. Das lag nach ihrer Aussage nicht nur am Bike-Fitting, sondern auch am Coaching im Vorfeld.
Eine kleine Reihe von Stretching-Übungen half Conny nach ihrer Einschätzung, die Position über Stunden zu halten, ohne zu verkrampfen. Besonders für die Druckverteilung am Sattel ist gute Beweglichkeit zwischen Rumpf, Becken und Beinen von Vorteil. Außerdem habe sie die mentale Vorbereitung gestärkt, sagte Conny später. Nicht an der großen Aufgabe zu verzweifeln, sondern sich an den Highlights entlang zu hangeln, das ließ die eigene Erwartungshaltung vom Überfahren der österreichischen Grenze an Stück für Stück steigen.
Obwohl man deutlich sah, dass ihr die Kraft selbst bei Kilometer 80 nicht ausging, die Freiberuflerin wurde zunehmend wortkarger. Das ist oft ein Zeichen dafür, dass sich Sportler mit Problemen beschäftigen. Parallel verließ sie immer wieder ihre liebgewonnenen Ergogriffe und stützte sich mit den Handballen statt den Handflächen ab. Die so künstlich verlängerten Arme richteten ihren Oberkörper auf. Der somit etwas geradere Nacken schmerzte zum Ende der Challenge doch sehr. Selbst Tage später hatte er sich nicht erholt. Da konnten auch die Süßigkeiten aus dem Rucksack von Barbara nichts mehr rausreißen. Und fast trauriger als das: Sowohl die Beine als auch der restliche Körper hatten noch einiges an Potenzial – ziemlich sicher sogar bis Innsbruck.
Hat Conny die MYBIKE Challenge 100 also nicht bestanden? Doch! Denn die Aufgabe war ja auf 100 Kilometer ausgeschrieben. Wegen zweier Umwege beziehungsweise GPX-Abweichungen wurde die 100-Kilometer-Marke nicht in Innsbruck selbst, sondern rund zehn Kilometer vorher in Wattens überschritten. Conny sieht es bis heute noch als schicksalhaft an, dass die „Hundert“ quasi auf dem Gelände von Swarovski fiel, einem Hersteller für exklusives, geschliffenes Kristallglas und Strass. Dieser Zufall wird ihren Mann wohl noch etliche Euro kosten…
Hinter der anvisierten Kilometermarke sanken der Akku des Cube und Connys Spannung pünktlich auf null. Wir als MYBIKE-Begleitteam waren allerdings recht sicher, dass Conny ohne Kenntnis des Kilometerstandes auch den Rest bis Innsbruck hätte radeln können, wenn auch alles andere als strahlend. Aber es ist nichts Neues, dass mit dem Erreichen eines gesetzten Ziels die Motivation schwindet. Das Erfolgserlebnis indes minderte die verfrühte Zieldurchfahrt nicht. Es ist unter Sportlern eine millionenfach bestätigte Regel: Je weniger man an das Erreichen eines Ziels geglaubt hat, umso größer das Glücksgefühl, wenn man es doch schafft.
So voller Adrenalin schmeckte der Sekt jenseits der Ziellinie doppelt gut. Ob sie denn jetzt angesichts der guten Erfahrungen, des top angepassten Rades und des Glücksgefühls in eine späte Kariere als Langstreckenradlerin starten möchte, wollten wir am Abend wie auch zwei Wochen später wissen. Die Fahrt habe ihr irren Spaß gemacht und der Stolz sei groß, aber auf dem letzten Drittel habe ihr aufgrund des schmerzenden Nackens der Genuss gefehlt, so die 50-Jährige. Und der sei ihr so wichtig, dass sie es in Zukunft nicht drauf anlege, möglichst lange zu fahren.
MYBIKE-Leserin Conny Anders ist 50 Jahre alt, verheiratet, lebt in Bayern und arbeitet dort als freie Grafikdesignerin, sitzt also die Woche über viel. Radfahren und besonders Langstrecken waren bis zu einem Südtirol-Urlaub im Vorjahr kein Thema für sie. Ein Leih-Pedelec dort machte ihr aber so viel Spaß, dass sie sich im Anschluss exakt das gleiche Modell (Cube Reaction Hybrid) zulegte. In der Vorbereitung betrug die längste Strecke max. 65 km.