Stefan Loibl
· 15.09.2017
Die Singletrail-Jagd durch Deutschland geht weiter. Durch den Norden wird die Interaktion mit der BIKE-Community noch wichtiger. Eine Tour, wie sie vor ein paar Jahren noch undenkbar gewesen wäre.
Statt drüben in der Werkstatt weiter an einem Bike zu basteln, klickt sich Denny für mich durch das Routing-Programm Komoot. "Den Trail nach Sophienhof muss er mitnehmen!", schreit Chef Silvio durch den Laden.
Wahnsinn, wie sich die Jungs vom Eldorado Nordhausen sofort um mich kümmern. Ob sie den Trail-Tipp wohl auch ins Netz gestellt hätten? Als Denny mein Garmin-Gerät mit dem GPS-Track speist, bimmelt die Eingangstür. "Hallo Martin", grüßt Silvio. Doch Martin – Vollbart, Anfang 40 und in Arbeitsklamotten – sucht keinen Rat beim Händler seines Vertrauens, sondern mich. "Du bist doch Stefan? Ich verfolge Deine Tour seit Tagen und habe Dein Bike vor dem Laden gesehen." Schnell sind Handynummern ausgetauscht und ein Treffpunkt für morgen vereinbart. Da konnte ich ja noch nicht wissen, dass mir bis dahin mein Handy abraucht.
Vor vier Tagen, beim Start an der bayerischen Grenze nach Thüringen lief noch alles wie geschmiert. Drei Tage durch den Thüringer Wald, was habe ich da nicht alles erlebt. Gleich am ersten Tag packte mir Rennsteig-Veteran Frank den obligatorischen Glücksstein in den Rucksack, den man der Tradition nach aus der Saale fischt, um ihn im Ziel in die Werra plumpsen zu lassen: "Wenn Du nicht an der Werra vorbeikommst, wirf ihn in die Elbe. Das zählt auch", sagte er grinsend. Danach die beiden riesigen Stauseen. Auf den Trails an deren Ufern meint man, entlang irgendeines Fjords mitten durch Norwegen zu kurbeln. Zwischendurch musste ich kurz an Latsch denken. Denn der Trail von der Hemmkoppe hinunter war so staubig, technisch und spaßig, dass er genauso gut im Südtiroler Trail-Mekka sein könnte. Ist er aber nicht, sondern mitten in Thüringen.
Am zweiten Tag bog ich ins Schwarzatal ein. Die Ecke kennt jeder Thüringer, ich dagegen hatte noch nie davon gehört. Aber Biker gibt es in der Ecke genug, wie man an den vielen Touren im Netz und Kommentaren auf meinen Facebook-Post sieht. Trotzdem war ich alleine unterwegs. Vielleicht kennen die aber auch einfach alle die Rampen, die man sich mit viel Schweiß und Muskelkraft erkämpfen muss, bevor man auf Wald-Trails gen Tal rauschen kann. Doch zumindest auf den Track von Thomas, den er mir über GPSies zusammengeklickt hatte, ist Verlass. Zack, in die App geladen, und schon ging es hinein ins Pfadlabyrinth. Doch Mitfahrer, die mich auf ihren Lieblings-Trails begleiten, sind mir natürlich lieber, statt ferngesteuert zu werden.
Auf meiner Rennsteig-Etappe am dritten Tag hatte ich schließlich Glück. Da stand plötzlich Tim vor mir. "Ich habe das Live-Tracking verfolgt und gehofft, dass ich Euch abfangen kann", begrüßte er mich. Auf die Technik war Verlass, auf das Wetter an diesem Tag dagegen nicht. So kauerten wir nachmittags beim Kuchen-Stopp vorm Kamin und versuchten, unsere gefühllosen Zehen wieder aufzuwärmen. Sieben Grad. Kein Wunder, dass ich bei den Abfahrten schon vom nächsten Uphill geträumt hatte. Nur Sören, der an diesem Tag noch dazustieß, konnte das miese Wetter nicht viel anhaben. Entweder wegen seiner paar Kilo mehr auf den Rippen, oder weil er das raue Klima am Rennsteig einfach gewohnt ist. Wie andere Mitfahrer auch, hatte ich Sören erst kurz vor dem Tour-Start angeschrieben. Dank Facebook kein Problem. Schnell das Profil suchen, eine kurze Nachricht schicken. Und zack, sofort kam die Antwort: Ich bin dabei. Als Initiator und Organisator des legendären Downhill-Rennens in Tabarz machte sich Sören in der Bike-Szene einen Namen. Doch die Zeiten sind vorbei, sein Bikeshop in Tabarz hält ihn genug auf Trab. Doch für solche Späße hier ist er immer zu haben.
Und nun also der vierte Tag. "Ein Rostbrätel im Brötchen, bitte", bestellt mein Guide Dirk in der kleinen Landfleischerei bei Eisenach. Wir sind immer noch in Thüringen, aber auf dem Weg Richtung Harz. Ich verzichte auf Leberkäs und lasse mir ein mit Zwiebeln mariniertes Stück Grillfleisch einpacken. Deftiges Essen steht in Thüringen anscheinend hoch im Kurs. Ob Soljanka an der warmen Theke im Supermarkt, Mett-Brötchen oder zwei Mal am Tag Rostbratwürste.
Abends bimmelt mein Handy. Ein neuer Facebook-Kommentar auf mein Live-Video. "Mein Tipp für heute Abend: das Brauhaus zum Löwen." Das probiere ich natürlich aus. Auf einer Tafel vor dem Gasthaus lese ich erfreut: Oktoberfest-Wochen. Top! Wenn ich wegen der Tour schon das Münchner Original verpasse, dann eben die Kopie. Nur komisch: Die Knödel heißen hier Klöße.
Ach ja, ich wollte ja Martin anrufen. Mein Handy rauscht leider wie ein Röhrenfernseher ohne Signal. Ich kann Martin zwar hören, aber er mich nicht. Zum Glück ist nur der Lautsprecher hinüber. Über das Internet ist schnell ein Treffpunkt für morgen vereinbart.
Undenkbar vor 15 Jahren, in Zeiten von 56-k-Modems und ohne Facebook, WhatsApp & Co. Damals war die Samstagsrunde mit dem Radsport-Club der wöchentliche Höhepunkt. Heutzutage bimmelt es in der WhatsApp-Gruppe dagegen täglich. Wer hat Zeit? Auch das Leben im Sattel hat die Digitalisierung in den letzten Jahren kräftig umgekrempelt. Statt Papierkarten zu welzen, zoomen wir in Apps in digitalen Karten. Oder vertrauen einfach gleich dem GPS-Track eines virtuellen Freundes. Und damit die "Follower" auch sehen, wie schneidig man unterwegs war, wird alles abfotografiert, gefilmt und hochgeladen. Irgendwer wird sich das wackelige 40-Minuten-Video auf Youtube schon ansehen.
Am nächsten Morgen: Mit zittrigen Fingern fummle ich den weißen Kopfhörerstecker in mein Smartphone. Den hat Martin mitgebracht. Rein, raus, rein, raus. "Das stand in irgendeinem iPhone-Forum", erkläre ich ihm, ohne selbst daran zu glauben. Zack, einen Neustart später ist das Rauschen Geschichte. Der Lautsprecher funktioniert wieder. So einfach? Das kann doch nicht wahr sein! Wie hatte ich mich am Vorabend beherrschen müssen, das Ding nicht in die Ecke zu feuern. Da lebt man in einer Zeit, in der wir von Robotern operiert werden und Daten in irgendwelchen Wolken herumfliegen. Und ich repariere meinen Handy-Lautsprecher mit einem Kopfhörerstecker.
Zumindest auf Martin kann ich zählen, denn er hat für den Ritt auf den Brocken gleich noch zwei Kumpels mitgebracht. Die sitzen zwar auf üppig gefederten Enduro-Bikes, die Knie in Schaumschoner gehüllt, doch meine Bedenken verschwinden auf dem ersten Trail durch die dichten Fichtenwälder. Die Brocken-Überquerung klappt wie am Schnürchen, bis uns eine Traube Turnschuh-Touristen kurz unterm Gipfel bremst. Mittendrin ein hagerer 85-Jähriger. Wer ist das? "Brocken-Benno", sagt Martin.
Er läuft seit 1989 fast täglich rauf, heute ist es das 8290ste Mal. Fürs Gipfelfoto müssen wir uns sogar anstellen. Wahnsinn, hier oben wuselt es wie in einem Ameisenhaufen. Dabei ragt die kahle Kuppe mit seiner Krone aus Türmen doch nur ein paar Meter höher in den Himmel als der Spitzingsee. Immerhin ist der Brocken mit 1142 Metern der höchste Berg Norddeutschlands und das Dach meiner Tour. Als Einzelkämpfer verlasse ich den Harz. 45 Kilometer später, ich trällere bereits Schlager-Refrains, um mich abzulenken: ein Neubaugebiet am Ortsrand von Bad Salzdetfurth. Gepflegte Vorgärten, Ringstraßen und blitzblanke Mittelklassewagen in den Einfahrten. Dirk vom
Rapiro-Racing-Team bittet mich herein, obwohl er mich noch nie gesehen hat. Ich kann bei ihm schlafen, Abendbrot gibt es um halb acht. Auch eine Route für den Weg in den Deister hat der Langstreckenspezialist schon im Kopf. Läuft!
Nächster Tag: kein Netz? Na super, ein Funkloch! Und wo geht es jetzt in den Deister? Wenn Auto-Navis so oft die Satellitenverbindung verlieren würden wie mein Handy, würde der Verkehr zusammenbrechen. Hamburg 145 Kilometer, in diese Richtung. So ein Schild würde ich mir jetzt wünschen. Mein GPS-Gerät scheitert kläglich an diesem popeligen Routing-Auftrag. Zum Glück habe ich den Weg zu Alex und seiner Truppe von den "Deisterfreunden" doch noch gefunden. Mann, da wäre mir doch fast ein Biker-Hotspot vor den Toren Hannovers entgangen! Der Höhenzug ist zwar gerade einmal 405 Meter hoch, doch die Trails sind der Hammer. Sie heißen "Farnweg" oder "Ladies only". Eine Mischung aus Naturpfaden und aufwändig geschaufelten Bikepark-Pisten. Doch nach der dritten Abfahrt muss ich Alex einbremsen. "Sorry, aber können wir wieder eine nördliche Richtung einschlagen?"
Seit dem Thüringer Wald immer dasselbe: Den könnten wir noch mitnehmen, das müssen wir Dir noch zeigen. Super nett. Aber, hey Leute, ich will auch irgendwann in Hamburg ankommen.
Handy checken:
"Links!"
"Da hättest bei mir auf ’nen Kaffee vorbeikommen können …"
"Da musste ich in der dritten Klasse wandern und einen Aufsatz drüber schreiben."
"Links kommt gleich ’ne Bademöglichkeit!"
"Herzlichen willkommen im Flachland! Sei froh, dass der Wind sich aktuell zurückhält! Dann machen die langen Geraden erst so richtig Freude." Unterhaltsam. Aber mit den Kommentaren auf Facebook und den WhatsApp-Nachrichten der Kollegen kann ich nix anfangen. Doch dann meldet sich endlich Frank. Dem Heidschnuckenweg soll ich folgen, aber unbedingt den Schlenker durch die Osterheide mitnehmen. Und hintenraus einem Wanderweg namens "Heide Puzzle" folgen. Es läuft wieder. Insgesamt zwei Tage kurble ich durch die Lüneburger Heide. Meist auf schnurstracks geraden Sandpisten, die zwischenzeitlich von Trails durch die Heideflächen abgelöst werden. Aber flach ist das hier, Wahnsinn. Ganz wohl ist mir auch nicht. Wie auch, bei den ganzen militärischen Warnschildern und Gewehrsalven, die ich immer wieder höre. Bin ich auf einem Truppenübungsplatz unterwegs? Aber noch viel schlimmer: Mein Hotel liegt oben am Berg. Dem Online-Buchungsportal war der Supersparpreis wohl wichtiger. Mir ist er es gerade nicht – nach 130 Kilometern durch den Heidesand.
Mittwochmorgen, das Finale: Obwohl Thies, Künstler aus Hamburg, nicht bei Facebook ist, treffe ich ihn wie vereinbart am Karlstein-Felsen. Ein Kumpel hat ihm von meiner Ankunft in den Harburger Bergen berichtet. Kein Ding, denn Mittwoch geht er sowieso regelmäßig biken. Ich hatte schon viel gehört von diesem Bikespot vor den Toren Hamburgs. Wie für mich die Alpen, sind die Harburger Berge für Hansestädter der Waldspielplatz. Und selbst Mittwochfrüh gehört uns das weit verzweigte Trail-Netz nicht alleine. Kurz bevor uns die Industriegebiete am Elbufer in eine andere Welt saugen, baut Thies noch einen letzten Heide-Trail ein. Den kennt nicht mal Matthias, mein zweiter Begleiter – ein Hamburger Bike-Urgestein. Alleine wäre ich in diesem Trail-Labyrinth verloren gewesen. Wenig später, mit dem Bike im Verkehr der Hansestadt, umschippern wir dank Matthias die letzten Kilometer ins Zentrum von Hamburg auf dem Deck einer Fähre. Bei Astra und Fischsemmel erzähle ich von meinem Ritt durch die Republik. Doch für die ganze Geschichte reicht die Fahrt über die Elbe bei Weitem nicht.
"Bling". Mein Handy. Eine Nachricht. "Jetzt fährt er auch noch übers Wasser. Respekt."
Ab 18. September war es wieder soweit! BIKE-Redakteur Stefan Loibl startete zum zweiten Teil seines Projekts „Deutschland-Trail – Auf Singletrails durch die Republik“. Von Mödlareuth (Thüringen) ging es weiter durch den Norden Deutschlands bis an die Ostsee. Die Route führte den Niederbayern durch Thüringen, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Hamburg und Schleswig-Holstein. Satte 880 Kilometer und mehr als 13000 Höhenmeter spuckte der Tourenplaner für den Weg durch die Mittelgebirge bis an die Ostsee aus. Dabei war die unten zu sehende Route keineswegs fix, sie diente nur als grobe Orientierung. Je nach Mitfahrer und Trail-Empfehlungen wurde sie spontan angepasst.
Auch die ersten Mitfahrer aus dem Thüringer Wald, Hannover und Hamburg hatten sich bereits angekündigt. Sie waren dabei und begleiteten Stefan Loibl etwa auf dem Rennsteig, rund um Ilmenau und Tabarz, einmal quer durch den Harz, im Deister, von Süden nach Norden durch die Lüneburger Heide oder vor den Toren Hamburgs durch die Harburger Berge! Er freute sich über jeden Mitfahrer, denn die schönsten Pfade würde er alleine nicht finden. Und wie findest du ihn? Über das GPS-Live-Tracking konnte man in Echtzeit seine aktuelle Position ausfindig machen und ihn abfangen.