Henri Lesewitz
· 03.07.2017
168 Kilometer, 4629 Höhenmeter: Wer die neue Jedermann-Challenge Chiemgau King an einem Tag schafft, darf sich eine goldene Krone aufsetzen. Doch ist das überhaupt zu schaffen? Ein Krönungs-Versuch.
Verhaltensforscher werden irgendwann herausfinden, warum das so ist. Warum man stets demjenigen ein verzücktes „Ja!“ entgegenruft, der einem eine Kilometer-Orgie schmackhaft macht. Obwohl man ja weiß, was das bedeutet: Laktatschmerz, Atemnot und taumelnde Psyche. 168 Kilometer und 4629 Höhenmeter in einem Ritt schließen ein Relaxgefühl von vornherein aus. Dennoch war ich sofort Feuer und Flamme, als mir der Ruhpoldinger Andi Huber von seinem neuen Projekt berichtete. Eine Erlebnis-Tour durch den herrlichen Chiemgau, die man wahlweise in ein, zwei oder drei Tagen fahren kann. Wofür es dann am Ende eine goldene, silberne oder bronzene Krone als Belohnung gibt. Start: Wann immer es einem beliebt. Chiemgau King, so der Name der Mountainbike-Challenge, die ab 2018 an den Start gehen soll.
Andis Einladung an mich: Die Teilnahme an der Testbefahrung, die an einem Tag durchgezogen werden sollte. Die oberschenkelmeuchelnde Gold-Variante. Es war dieser mysteriöse Reflex, der mich sofort zusagen ließ. Minuten später wich die Euphorie wabernder Mulmigkeit. Nur mal so zum Vergleich: Der berühmt-berüchtigte Grand Raid-Marathon von Verbier nach Grimentz hat 125 Kilometer und 5000 Höhenmeter. Und da steht den Teilnehmern am Start der Angstschweiß auf der Stirn. „Blut, Schweiß, Tränen“, so die Headline einer frühen Grand-Raid-Reportage. Ich gebe zu: Mein Körper war extrem beunruhigt, was Andis Gewalt-Tour anbelangte.
Ein kühler Donnerstagmorgen, Biathlon-Arena Ruhpolding. Andi begrüßt die Truppe, die er für die Testfahrt zusammengestellt hat: Weltklasse-Biathleten wie Simon Schempp, Ex-Weltmeister Andreas Birnbacher, dazu der weltbeste Skibergsteiger Anton Palzer sowie ein paar ausgemergelte Marathon-Biker. „Okay, wir versuchen, das flüssig durchzufahren. Zehn Stunden, siebzehner Schnitt“, kündigt Andi an. Na, super.
Schaut man sich die Route aus der Adlerperspektive an, hat sie die Form einer Acht. Von Ruhpoldig aus geht es zunächst recht höhenmeterarm auf Radwegen im munteren Zickzack dem ersten kurzen Anstieg entgegen. Die Federgabel ist hier kaum gefordert, bis kurz vor Maria Eck der erste Stich wartet, der nach kurzem Laktateinschuss in einen schönen Singletrail übergeht. Der etwa 600 Meter lange Uphill zur Stoißeralm zieht sich angenehm dahin und gibt einen kleinen Vorgeschmack auf das, was noch reichlich an diesem Tag kommen wird: Lange, fahrtechnisch wenig fordernde Aufwärts-Serpentinen, denen lange, fahrtechnisch wenig fordernde Abwärts-Serpentinen folgen. Es ist nicht so, dass es keine Singletrail-Alternativen geben würde. Die Locals fahren sie natürlich. Die offizielle Ausschilderung allerdings sei aufgrund der damit verbundenen Behörden-Auflagen für Gemeinden kaum zu realisieren, informiert Andi. Aber das Kurbeln auf Schotterwegen hat ja auch etwas Meditatives. So bleibt Zeit, die Landschaft zu bestaunen. Und die präsentiert sich hinter jeder Kurve liebreizender. Oben, auf der Stoisser Alm, genießt man eine multikilometerweite, unverbaute Aussicht. Wenn die Chiemgau-King-Route 2018 fertig ausgeschildert ist, wird hier eine Stempelstelle stehen.
Zurück im Tal geht es zunächst wellig dahin. Dann bäumt sich eine fiese Asphaltrampe vor dem Vorderrad auf, die einen nach Luft schnappen lässt, wie ein Ertrinkender. Das nun folgende Schotterband neigt sich etwas softer und führt einen geradewegs zur herrlich rustikalen Bründlingalm auf 1161 Metern. Hier sollte man sich eine kleine Stärkung gönnen. Normalerweise. Doch auf Goldkurs und mit einem wie Andi als Tempomacher bleibt kaum Zeit zum Flascheauffüllen.
„Auf geht’s!“, ruft er und führt die Meute zu einem Trail, der aufgrund seines äußerst ruppigen Charakters besser zu Fuß absolviert werden sollte. Die Passage ist ja auch kaum 200 bis 300 Meter lang. Im leichten Auf und Ab geht es hurtigen Trittes zum Torfmuseum kurz vor Bernau am Chiemsee. Ach, wie geil wäre jetzt ein Käffchen an der Strandpromenade. Keine Zeit dafür, leider. Erst 90 Kilometer und rund 2500 Höhenmeter sind geschafft. Und jetzt kommen die richtig zehrenden Sachen. Oh je, und es ist bereits Mittag.
Liebe Güte! Wer hat denn die Auffahrt zur Steinlingalm konzipiert? Erst dieses biestige, schnurstraksgerade Asphaltsteilstück von Bernau aus zum Wanderer-Parkplatz. Dann das biestige, schnurstraksgerade Zwischenstück auf Schotter. Und erst der ultrabiestige, schnurstrakskurvige Kraftsauger im oberen Mittelteil, der – zum Glück – irgendwann in ein einigermaßen freundliches Schotterband übergeht. Es gibt nichts Besseres, als mit ausbelasteten Lungenflügeln einen Berg zu erklimmen, während die Steigungsprozente den Laktatschmerz in die Beine treiben. Ach Gottchen, wie nice sieht es denn hier aus? Unten, in der Ferne, schimmert irr der Chiemsee. Klappt man den Kopf in den Nacken, schaut man auf die Zacken mächtiger, senkrechter Gebirgswände, die sich wie Gozillas Reißzähne in den Himmel recken.
Oben, auf der Steinlingalm, ist natürlich die Hölle los. Seit dem frühen Morgen schon schaufeln die Lifte die Tagesbesucher auf den Berg. Horden von Wanderen. Und alle wollen eine Schorle und eine Brotzeit und gucken und fotografieren. Der Hüttenwirt ist ein Bekannter von Andi und sprintet bei unserer Ankunft mit Erfrischungsgetränken heran. Der Anstieg hat die Gruppe arg zerfasert. Es dauert ewig, bis der Letzte angehechelt kommt. Egal. Die Aussicht jedenfalls: bestmöglich! Der weitere Ausblick: „Noch knapp 60 Kilometer. Wir haben noch ein Stück Arbeit vor uns“, so Andi.
Es geht die Schotterpiste, die wir gekommen sind, wieder ein paar Kilometer weit zurück, dann geht es nach rechts wieder in den Berg. Ein zäher Gegenanstieg, der die Beine noch mal kurz in Aufruhr versetzt. Und schon stehen wir an der Staffn-Alm auf der anderen Seite des Kampenwand-Massivs und gucken aufs idyllische Marquartstein, das sich knapp 400 Höhenmeter unter uns befindet. Die Abfahrt dorthin ist rasch erledigt. Ein Auffüllen der Flaschen empfiehlt sich jetzt. Der Schotteranstieg auf zur Jochberg-Alm ist zwar nicht steil, aber er zieht sich. Die Beine nehmen es ohne zu murren hin. Schließlich befindet man sich bereits mittendrin im Tagesfinale. Dass sich der Weg im oberen Teil noch mal ziemlich versprödet und sich einem fordernd entgegenstellt, kann man ja nicht wissen. Aber es lohnt sich. Auch die Jochberg-Alm macht klar, warum es Touristen aus allen Teilen der Welt in den Chiemgau führt. Die Mischung aus Liebreiz, Folklore und landschaftlichem Großkotz ist so überwältigend wie einzigartig.
Noch ein letzter Anstieg, ein finales Aufjaulen der kilometermürben Beine. 400 Höhenmeter gilt es zu bezwingen, wieder auf zahm daliegendem Schotter. Dann ist die Winklmoosalm erreicht. Sollte die Sonne jetzt noch günstig stehen, empfiehlt es sich, das Wahnsinns-Panorama auszukosten. Etwa bei einem Cappuccino oder einem kühlen Getränk. Ab hier geht es quasi nur noch runter. Zunächst auf breiten Schotterpisten. Dann durch eine Schlucht samt Wasserfall und kurzer Klettereinlage. Wobei erwähnt sei, dass Biken hier offiziell verboten ist. Man muss ohnehin schieben. Aber nicht sehr lange. Dann geht es hurtigen Tempos weiter bis zur Biathlon-Arena in Ruhpolding, die das Ziel darstellt. Ausklicken, freuen. Da ist er, der Moment, an dem man kein Verhaltenforscher sein muss, um zu wissen, warum man sich solche Strapazen immer wieder antut. Weil’s nun mal geil ist. Deswegen.
Die Route des Chiemgau Kings ist eine landschaftlich ultrareizvolle Mountainbike-Tour, die wenig Anforderungen an die Fahrtechnik stellt. Wobei es natürlich jedem selbst überlassen ist, auf Trails abzubiegen, wo immer sich eine entspannte Möglichkeit dazu bietet. Entscheidend für die Krone ist ja nur, alle Stempelstellen anzufahren. Spätestens im Frühjahr, so der Plan der Macher, soll die Chiemgau-King-Route ausgeschildert sein.
Wer will, kann sich dann auch den GPS-Track des Chiemgau King aufs Bike-Navi laden. Und die Frage nach Gold, Silber oder Bronze? Nun ja. Wer Gold anpeilt, sollte schon ein austrainierter Marathon-Biker mit ausgeprägter Leidensfähigkeit sein. Wir haben bei der Testbefahrung 11:30 Stunden gebraucht, trotz minimaler Standzeit und stets forschem Marathon-Tempo. Silber ist die wohl beste Variante für sportlich orientierte Biker. Bronze empfielt sich denen, die im Urlaubs-Modus unterwegs sein wollen und auch mal ausgiebig in die Landschaft gucken wollen.
Mehr Infos zum Chiemgau King gibt’s hier auf der Veranstalter-Website. Die GPS-Daten der Chiemgau King-Strecke können Sie unten kostenlos herunterladen.
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