Sven Bremer
· 09.04.2024
Schon nach den ersten paar Kilometern auf dem Havelradweg pfeife ich doch tatsächlich den alten Gassenhauer von Conny Froboess vor mir her: „Pack die Badehose ein, nimm dein kleines Schwesterlein und dann nischt wie raus nach Wannsee…“ Der berühmte Berliner Wannsee, das hatte ich vor der Reise gelernt, ist hydrologisch betrachtet nämlich nichts anderes als eine Bucht der Havel. Mein Schwesterlein habe ich nicht dabei, meine Badehose schon, ein frisch geputztes Rad unter dem Hintern und gut 400 Kilometer vor mir.
Die Reise führt uns durch das Havelland westlich von Berlin, von Rathenow aus in nordöstlicher Richtung durch das Ruppiner Seenland und schließlich wieder ab Fürstenberg auf dem Havelradweg südwärts in die Hauptstadt. Vorbei an zahlreichen Wasserstraßen, glitzernden Seen, Feldern, Wiesen und Obstplantagen, durch dunkle Kiefernwälder, mit Zwischenstopps in malerischen wie geschichtsträchtigen Städtchen wie Werder, Neuruppin oder Brandenburg an der Havel.
So abwechslungsreich die Region sein mag, eines zieht sich wie ein roter Faden – besser gesagt wie ein blauer Faden – durch die Tour: Wasser, Wasser und noch mal Wasser. Entstanden ist die binnenwasserreichste Region Deutschlands mit mehr als 3000 Seen und rund 33.000 Kilometern Fließgewässern vor tausenden von Jahren durch die Auswirkungen der letzten Eiszeit. Nur logisch, dass die Havel-Region ein äußerst beliebtes Ziel für Wassersportler ist. Aber weil der Durchschnittsurlauber nun mal keine Yacht sein Eigen nennt, aber dafür fast jeder ein Fahrrad im Keller stehen hat, kommen immer mehr Radreisende in die Gegend.
Das Pfeifen vergeht mir, als wir das Gebäude erreichen, in dem einst die Wannsee-Konferenz abgehalten wurde. Jene Konferenz, auf der die Nationalsozialisten den Holocaust beschlossen und planten. Heute ist die Villa am See eine Gedenkstätte. Die erste Kopfsteinpflasterpassage reißt mich aus meinen Gedanken an diese finsteren Zeiten. Von diesen Holperstrecken muss man noch so einige bewältigen im Verlauf der Tour. Es sieht zwar schöner aus, wenn die Straßen aus dem althergebrachten Material beschaffen sind. Aber auf dem Fahrrad kann das schon ganz schön nerven, Sattelfederung hin, gefederte Gabel her. Kleiner Tipp am Rande, wenn man ein veritables Schütteltrauma vermeiden will: Erstens den Lenker nicht krampfhaft umklammern, sondern nur locker umfassen und die Schläge so kontrollieren. Ansonsten entweder mit „Vollgas“ drüber wegfahren oder so langsam, dass man gerade nicht umkippt.
Wir entscheiden uns für die schnellere Variante, denn gleich legt die Fähre ab, die uns über den Wannsee Richtung Potsdam bringt. Weiter geht’s quer durch den Berliner Grunewald, in dem tatsächlich noch Wildschweine zu Hause sind. Gesehen haben wir sie nicht, genauso wenig wie Sarah Connor oder Joschka Fischer, die hier in einem der nobelsten und definitiv dem grünsten Stadtteil Berlins leben.
Vor noch nicht einmal einer Stunde mussten wir noch Slalom fahren durch Horden von Touristen, die sich um das Brandenburger Tor drängelten. Und nun, ein paar Kurbelumdrehungen weiter, aber immer noch im Berliner Stadtgebiet, radeln wir mitten im Grünen. In der Oranienstraße in Kreuzberg haben wir Teenagern gelauscht, die schwärmten wie „krass chillig“ doch Berlin sei. Sorry, aber chillen kann man nun wirklich deutlich besser in der Einsamkeit Brandenburgs. „Das Weite liegt so nah“ – der Slogan der Tourismus-Experten vor Ort kommt jedenfalls nicht von ungefähr.
Brandenburg ist mit einer Fläche von rund 30.000 km² das größte der fünf neuen Bundesländer. Und das am dünnsten besiedelte mit gerade einmal 2,5 Millionen Einwohnern. „Det wundert manchmal sogar die Australier und die Kanadier, die hier auf Radtour gehen, wie einsam es bei uns ist“, sagt Ursula Karberg vom Hotel Seestern in Fürstenberg, „aber wennde Berlin hinter Dir jelassen hast, dann is’ echt nüscht mehr los, dann haste deine Ruhe in der Natur.“
Das stimmt so weit, gilt aber noch nicht für Brandenburgs Landeshauptstadt Potsdam. Bei all den „Promis“, die heute im Villenviertel der ehemaligen Residenzstadt Preußens residieren, haben wir nicht vorbeigeschaut. Aber wir haben uns in Deutschlands einzigem Aldi-Markt mit eigenem Bootsanleger mit Apfelschorle und Riegeln eingedeckt. Und wir haben natürlich einen Blick auf Schloss Sanssouci und das Neue Palais in den hochherrschaftlichen Gärten Potsdams geworfen. Radfahren ist dort übrigens überwiegend verboten.
Im Städtchen Werder, das es sich höchst malerisch auf einer Havelinsel bequem gemacht hat, ist Radfahren erlaubt, wenngleich mal wieder beschwerlich wegen des vermaledeiten Kopfsteinpflasters. Werder mit seinen kleinen Fischerhäusern ist ein Gesamtkunstwerk und es offenbart eine echte Überraschung. Die Gegend ist nämlich nicht nur ein bedeutendes Obstanbaugebiet, sondern besitzt mit dem Werderaner Wachtelberg auch die nördlichste Weinlage Deutschlands.
In Richtung Brandenburg an der Havel gleiten wir fast allein auf fein asphaltierten Radwegen dahin. Die Mittlere Havel mäandert durch grüne Auen, ein einsamer Angler am Ufer ist gar eingenickt über seiner Angelrute. Barsch und Zander wollen heute offensichtlich nicht beißen. Seeadler soll es hier geben, zur richtigen Jahreszeit bevölkern Störche die zahlreichen Nester auf Hausdächern und Kirchturmspitzen. Sogar Biber und Fischotter sind hier wieder heimisch geworden. Wir müssen uns mit ein paar Enten begnügen, die mit reichlich Geschnatter auf dem Wasser landen.
Man sagt nicht immer nur Gutes über Brandenburg und seine Bewohner. Da gibt es beispielsweise das Brandenburg-Lied von dem Kabarettisten Rainald Grebe. Es ist schon ziemlich gemein, was er da von sich gibt. „Es gibt Länder, wo was los ist, und es gibt Brandenburg“, singt er, bevor er dann so richtig loslegt: „Da stehen drei Nazis auf einem Hügel und finden keinen zum Verprügeln.“ Klischee oder Realität? Man weiß es nicht so genau. Hügel gibt es zunächst nur wenige. Dafür eine Menge freundlicher Menschen, die uns den Weg wiesen, wenn die Route ausnahmsweise mal nicht so schlüssig ausgeschildert war.
Und die Gegend hält immer wieder Überraschendes bereit. Wie in Stölln, wo „in the middle of nowhere“ ein stattliches Flugzeug vom Typ Iljuschin Il-62 liegt, steht, parkt oder was auch immer. Die Interflug-Passagiermaschine ist 1989 dort gelandet. Es handelte sich dabei nicht um eine Notlandung, sondern um eine fliegerische Meisterleistung, die sorgsam geplant war. In Stölln nämlich hat Otto Lilienthal seine ersten abenteuerlichen Flugversuche unternommen. Im August 1896 stürzte der Flug-Pionier ab und erlag seinen Verletzungen. Aber ohne seine Experimente hätte es wohl noch ein paar Jährchen länger gedauert mit dem Traum vom Fliegen.
Wir fliegen weiter auf dem Vélo, denn hier kommt die Landschaft etwas öde in Gestalt von Kartoffeläckern und Maisfeldern daher. Das könnte Heinrich von Kleist gemeint haben, als er einst behauptete, Gott müsse bei der Erschaffung Brandenburgs eingeschlafen sein. Wir hingegen schlafen die Nacht süß und selig in einem Schlosshotel und machen uns am Morgen auf den Weg nach Neuruppin, der „Perle der Mark“ und Heimatstadt des Dichters Theodor Fontane. 1787 brannten gut zwei Drittel der Stadt ab. König Friedrich Wilhelm II. beauftragte den Wiederaufbau als preußische Musterstadt, mit breiten Straßen, auf denen seine Garde Exerzieren und Marschieren konnte. Heute lässt es sich auf diesen Straßen, gesäumt von prachtvollen Häusern im frühklassizistischen Stil, vortrefflich flanieren.
Zwischen Neuruppin und Rheinsberg mit seinem Rokoko-Schloss rollen wir auf einer Art „Autobahn für Radler“ dahin. Die Wege sind hier so breit, dass beinahe ein kompletter Kegelclub auf Radtour nebeneinander fahren könnte. Je weiter wir Richtung Nordosten fahren, desto mehr wird die Tour zur Achterbahnfahrt. Die Gegend heißt nicht von ungefähr Ruppiner Schweiz.
Kurz hinter Fürstenberg an der Havel liegt das Örtchen Himmelpfort. Hübsch und beschaulich, aber weil wir nun mal nicht mehr an den Weihnachtsmann glauben, der hier eine Weihnachtspostfiliale eingerichtet hat, geht es flugs weiter via Zehdenick nach Oranienburg. Langsam aber sicher nähern wir uns Berlin. Der Autoverkehr wird dichter und nach mehreren Tagen in der Mark Brandenburg auch in der Nase spürbar. Und was mache ich? Ich singe und pfeife am Ende dieser „chilligen“ Radreise schon wieder: Diesmal die inoffizielle Hymne der Hauptstadt: „Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft… Havelland-Runde: GPS-Daten
Sie finden den GPX-Track zu dieser Tour in der MYBIKE Collection auf komoot.
Wer mit der Bahn anreist, steigt am besten in Spandau aus (Fahrradmitnahme im IC rechtzeitig reservieren), Infos unter bahn.de, bvg.de. Bei der Anreise mit dem Auto gelangt man über die A100 oder die A115 zum Startpunkt an der Scharfen Lanke in Pichelsdorf.
Kulturelles Highlight ist Potsdam-Park-Sanssouci, potsdam-park-sanssouci.de. Für das pittoreske Städtchen Werder sollte man ebenfalls Zeit einplanen, ebenso für Neuruppin, Geburtsstadt des Dichters Theodor Fontane und des nicht minder berühmten Architekten Karl Friedrich Schinkel. Auf dem herrlich gelegenen Schloss Rheinsberg verbrachte Friedrich II. als Kronprinz nach eigener Angabe die glücklichsten Jahres seines Lebens, www.spsg.de. Ein Geheimtipp dürfte das Historische Olympisches Dorf von 1936 in Wustermark sein.