Dimitri Lehner
· 03.07.2022
Als YT Industries das Enduro-MTB Capra neu auflegte, wurden wir stutzig und entschlossen uns zu einem ziemlich schrägen Duell: Capra gegen Capra, Alu gegen Carbon, günstig gegen teuer.
Und, wie is’ es?“ Das ist das Erste, was man von den Kollegen hört, kommt man von einer Bike-Präsentation zurück. Früher flogen wir dazu nach Whistler, Crested Butte, Lake Tahoe oder Madeira. Leider hat Corona diesen Berufsspaß abgewürgt, niemand lädt mehr ein, wenn doch – wie YT im letzten Jahr – stehen die Kollegen Spalier, als wäre man von der ISS zurückgekehrt.
Fragende Blicke mit der Aufforderung: „Spuck’s aus, wie ist das neue Enduro Capra?“ – „Ja, geil ist es.“ – „Besser als das Alte?“ Das konnte ich nicht beantworten, denn erst der direkte Vergleich auf unseren genormten Teststrecken entlarvt Schwächen und bringt Unterschiede zum Vorschein. Daher machen wir nur ungern Einzeltests. Die Akte Capra war besonders brisant, denn unmittelbar vor der Radvorstellung der Carbon-Version Capra Core 4 hatten wir das 2500 Euro günstigere Alu-Capra getestet und waren davon recht begeistert: sattes Fahrwerk, easy Handling, Draufsetzen-wohlfühlen-Charakter – was will man da noch besser machen, außer dem moppeligen 16-Kilo-Rad mindestens zwei Kilos abzusaugen? Das haben die YT-Ingenieure beim neuen Rad nicht hinbekommen. Das Kohlefaser-Capra wiegt in der Top-Ausstattung mit seinen Luxuslaufrädern aus dem schwarzen Gold zwar weniger, doch nur 500 Gramm und immer noch über 15 Kilo. Was wurde also verändert? Die YT-Tüftler um Lead-Ingenieur Stephan Bax haben gemacht, was gerade alle Bike-Entwickler mit ihren Enduros machen – sie haben das Rad voll auf Abfahrt getrimmt, die Lenkwinkel abgeflacht, Reach und Radstand verlängert und dem Bike so mehr Laufruhe verpasst, dass es noch schneller ins Tal eilen kann. Das ist übrigens ein Trend, der so langsam mal ein Ende finden sollte, finden wir, sonst wird aus Enduro wirklich bald Downhill.
Rausfinden, statt mutmaßen – wir ließen die zwei „Bergziegen“ (die so gar nicht mehr bergziegig sind) gegen einander antreten. Dazu scheuchten wir sie auf Alpengipfel, räuberten in Bikeparks umeinander und fuhren sogar über recht flache Trails (bad idea!). Wir geben zu: Am Ende stand verdammt wenig in unserem Testprotokoll. Eigentlich nur ein Satz: „Das Alte ist wendiger, das Neue ist laufruhiger. Die Unterschiede? Marginal!“ Dass günstige Bikes mit teuren mithalten können, wissen wir spätestens seit unserm Vergleichstest (FREERIDE 1/19). So war es auch hier. Das neue Carbon-Capra vertrug mehr Speed bergab als sein Alu-Vorgänger – aufgrund der extremeren Abfahrts-Geo. Streckte die Gabel im Alu-Modell das Vorderrad noch im 64,6-Grad-Winkel nach vorne, maß der Lenkwinkel im neuen Modell flache 63,7 Grad. Doch neben der Geo spielte auch das Highend-Fahrwerk von Fox eine Rolle mit seinem dicken Federbein. Erstaunlich: Die YT-Ingenieure schrumpften den Federweg etwas ein. Ließ sich das Heck des Vorgängers noch mit satten 177 Millimetern zusammenquetschen, gibt’s im neuen Modell nur noch gemessene 164. Das soll das Bike reaktiver machen, statt im Federweg zu versacken. Tatsächlich mussten wir das Alu-Capra etwas tunen, um den üppigen Federweg zu zähmen und lebendiger arbeiten zu lassen. Wir fuhren weniger Sag und drehten die Druckstufe rein. Das machte sich besonders bei Sprüngen und in schnellen Kurvenwechseln bemerkbar. Schwingt der Trail nach links und rechts, ist das Alu-Capra in seinem Element. Es kippt flink in die Turns und braucht im
Gegensatz zu seinem jungen Carbon-Bruder nur wenig Körpereinsatz. Das neue Capra dagegen wirkt groß, obwohl die Race-Geometrie nicht extrem ausgefallen ist und die YT-Entwickler mit Bedacht an den Winkeln drehten. Doch wer nicht ordentlich arbeitet, verliert in engen Turns schon mal die Ideallinie mit dem neuen Rad. Unser Tipp: das MX-Modell. In diesem Vergleichstest fuhren wir die Bikes in der All-29-Zoll-Version. Doch YT bietet das Rad auch als Mullet an, vorne 29, hinten 27,5 Zoll. Dadurch wird das Bike spritziger, ohne dass das gute Überrollverhalten leidet. Drops am Limit der Komfortzone sind eine gute Prüfung, welchem Bike man mehr vertraut. Hier war uns Testern egal, mit welchem Capra wir in die Tiefe segelten. Beide strotzen vor Selbstvertrauen. Ganz anders auf dem Weg nach oben. Da wird’s zäh – auch mit beiden. Schwere Laufräder, klebrige Reifen und ein fahrfertiges Gesamtgewicht von über 15 Kilo machen aus jedem Anstieg eine Bummeltour. Das nervt in der Ebene sogar noch mehr als auf dem Weg zum Gipfel. Wer in leicht gewelltem Gelände vorankommen will, hat mit diesen Bikes wenig Freude – das gilt aber für fast alle „modernen“ Enduros. Als ich nach einem Bürotag unüberlegt das Alu-Capra nahm, um die 25 Kilometer nach Hause zu radeln, wäre ich irgendwann fast abgestiegen, um mir ein Taxi zu rufen, so wenig Vortrieb schaffte ich in die Karre zu strampeln.
Beide Capras sind Spaßmaschinen, solange die Fahrtrichtung nach unten zeigt. Das günstige Alu-Modell kurvt lebendiger durch den Trail als sein Carbon-Bruder, der dafür laufruhiger abfährt. Kurzum: Wir raten zum Alu-Modell und würden die 2500 Euro Preisunterschied eher in einen Bike-Urlaub nach Whistler investieren.