Nicht ohne Grund erscheinen Mountainbike-Medien manchmal wie das Schaufenster in ein Zirkuszelt. Hersteller rufen regelmäßig die nächste Evolutionsstufe aus, MTB-Influencer posten mehr Content als der Pabst, Profis brechen Rekorde und Knochen. Ständig gibt es etwas zu sehen, zu konsumieren, zu lernen und zu erleben.
Wie passt nun ein soziologisches Gedankenexperiment zwischen neonfarbene Sonnenbrillen und leistungsstarke E-Bike-Software? Autor Jan Timmermann wurde als Quereinsteiger Teil dieses nie enden wollenden Spektakels: “Ich frage mich oft, wie der Höher-Schneller-Weiter-Motor die Bike-Welt antreibt. Eine sozialwissenschaftliche Brille kann ich als gelernter Pädagoge schwer ablegen.”
Zum Thema. Ende des 20. Jahrhunderts formulierte der Soziologe Gerhard Schulze seine Theorieskizze der Erlebnisgesellschaft. Viele Sozialwissenschaftler gehen davon aus, dass sich einige seiner Thesen ihre Aktualität erhalten und sich manche Aspekte gar intensiviert haben.
Für den Mountainbike-Kosmos erscheint die Annahme einer Erlebnisgesellschaft jedenfalls aktueller denn je und liefert Erklärungsansätze für das Verhalten von Anbietern und Nachfragern auf dem Bike-Markt. Also: Graue Hirnzellen anwerfen und mitdenken!
Gerhard Schulze stellte den Begriff der “Erlebnisgesellschaft” 1992 ins Zentrum seines Ansatzes einer Kultursoziologie der Gegenwart. Er beobachtete seit den 1960er-Jahren in Westdeutschland steigende Einkommen und verkürzte Arbeitszeiten, welche zu einem Gewinn an individuell gestaltbarer Freizeit führten.
Schulze versteht die Erlebnisgesellschaft als Anschlusstheorie zur Individualisierungsthese und zum Postmaterialismus. Berufskollegen sprachen auch von einer “Multioptionsgesellschaft”. Die im historischen Vergleich relativ verbesserten Lebensbedingungen machten die Idee eines interessanten Lebens zum Massenphänomen.
Die Erlebnisgesellschaft baue auf dem vergrößerten Spannungsfeld von Risiko und Langeweile auf. Erleben wurde vom Nebeneffekt zur Lebensaufgabe. Der Großteil der am Markt verfügbaren Produkte seien nicht fürs Überleben notwendig und würden deshalb weniger nach ihrem Gebrauchswert als nach ihrem Erlebniswert beurteilt.
Beliebte Beispiele sind: Geländetaugliche SUVs, die ausschließlich in der Stadt genutzt werden, oder druckresistente Luxus-Uhren, die niemals auf einen Tauchgang mitgenommen werden. Kann es da Zufall sein, dass der Mountainbike-Boom ausgerechnet in den 90ern über die Welt schwappte?
Natürlich werden auch Mountainbikes und Zubehör heute fast ausschließlich über Erlebnisse beworben: “Mit so viel Federweg kannst du jede Abfahrt nehmen! Mit so einem großen Akku kannst du auf jeden Berg fahren! Mit diesen Bikepacking-Taschen bist du bereit für das jedes Abenteuer!”
Es geht weniger darum, was der Konsument mit dem Produkt tun wird, als darum was er damit tun könnte. Auf Social Media zeigen gesponserte Athleten, was das alles sein mag: der zehn Meter Drop, die Bestzeit, die Wüstendurchquerung.
Schulze geht davon aus, dass sich traditionelle Zweckbestimmungen des Körpers, wie etwa Fortpflanzung, Kampf oder Arbeit, in der Erlebnisgesellschaft in den Hintergrund getreten sind und dieser stattdessen als Erlebnismedium instrumentalisiert wird. G-Kräfte in der Steilkurve und Muskelbrennen im Marathon-Anstieg sind beispielhaft passende Körpererlebnisse aus der MTB-Welt.
Ganz generell kann man das moderne Mountainbike wohl als “Erlebnis-Gerät” bezeichnen. In Deutschland kauft in der Regel niemand ein Mountainbike, weil er es braucht, um damit zum Beispiel über einen gefährlichen Pass zur nächsten Nahrungsquelle zu gelangen.
Es geht vielmehr um Hobby und Freizeitvergnügen. Mountainbikes versprechen Erlebnisse und lösen das Versprechen auch ein - wenn auch nur auf der Hausrunde und nicht bei der Red Bull Rampage.
In der ständigen Suche nach positiven Erlebnissen sieht Schulze Risiken der Unsicherheit und der Enttäuschung. Erlebnisse sind schließlich hochindividuell und nie vollständig kalkulierbar. Was, wenn der 750-Wattstunden-Akku eben doch nicht ausreicht, um den Biker auf den erwünschten Gipfel zu bringen? Was wenn der eigene Körper das Highend-Bike mit den Highend-Taschen doch nicht bis zur nächsten Wüste und zurück bewegen kann?
Menschen falle es aber ohnehin immer schwerer, klare Bedürfnisse zu formulieren. Erlebnis-Nachfrager seien über die Zeit immer gleichgültiger und routinierter geworden. Auch wenn den meisten ihre erste richtige MTB-Tour wahrscheinlich im Gedächtnis geblieben ist, erinnern sich bestimmt nicht alle Biker an die kurze Hausrunde vor drei Wochen.
Ein Mountainbike eignet sich hervorragend, um Erlebnisse mit relativ hoher Frequenz in den Alltag zu integrieren. Die Vermarktung immer neuer Erlebnisse ist im Tourismus und in den Outdoorsportarten besonders weit verbreitet, da sind sich die Soziologen einig. An kaum einer anderen Stelle werde das Erleben so stark entgrenzt, entwertet, kumuliert, professionalisiert und kommerzialisiert.
Da Erlebnisse das neue Maß eines gelungenen Lebens seien, versuchten Menschen laut Schulze ihr Innenleben durch Situationsmanagement zu beeinflussen. Die vielen modernen Möglichkeiten stellten Menschen aber vor Orientierungsprobleme.
Individuen kämen deshalb in Erlebnisgemeinschaften zusammen, um sich mit Menschen ähnlichen Stils auszutauschen. Soziale Milieus konstituieren sich im Verständnis der Erlebnisgesellschaft weniger nach Lebensbedingungen, sondern nach Denk- und Handlungsmustern.
Auch Mountainbiker lieben es natürlich sich mit Gleichgesinnten auszutauschen, über die neuste Technik und den neusten Tratsch zu diskutieren: “Ein Klick Druckstufe mehr macht den Unterschied! Der eine Trail in Tschechien ist der Wahnsinn! Im neuen Video von Fabio Wibmer ist eine Prototypen-Bremse zu sehen!”
Dabei spielt es in der Regel keine Rolle, ob das Gegenüber nun aus einem Arbeiter- oder Akademikerhaushalt stammt. Beim Blick auf den gut bestückten Radträger nickt man sich auf der Autobahn zu und bei der Wahl der Urlaubsdestination wird die Stuntdichte des neuen Bikeparks abgewogen. Wer sich als Mountainbiker definiert, tut dies auf Grundlage von Erlebnissen, spricht eine entsprechende Sprache und wird entsprechend handeln.
Nur die wenigsten Biker werden bislang soziologische Hintergründe ihrer Freizeitbeschäftigung und entsprechender Kaufentscheidungen hinterfragt haben. Das Modell der Erlebnisgesellschaft ist niederschwellig genug, um den ein oder anderen zum Nachdenken zu animieren. Nichts ist heute mehr ohne gesellschaftlich-politische Relevanz - auch Radfahren nicht. Dabei beinhaltet die Theorie aber nicht nur Kapitalismuskritik. Menschen tun gut daran, Erlebnisse auf einem Mountainbike anzustreben und zu zelebrieren. Noch mehr holen sie aus ihrem Hobby heraus, wenn sie sich ab und an die Zeit nehmen, einzelne Erlebnisse auf dem Trail und in der Natur zu reflektieren. - Jan Timmermann, BIKE-Redakteur, Erziehungswissenschaftler (MA), Sozialpädagoge (BA)
Disclaimer: In diesem Artikel erhebt der Autor nicht den Anspruch wissenschaftlicher Maßstäbe. Vielmehr wird das Ziel verfolgt, populärwissenschaftliche Aspekte in ein breites Zielpublikum zu tragen.