Mountainbikes 3.0Wir blicken ins Jahr 2027

Henri Lesewitz

 · 19.02.2018

Mountainbikes 3.0: Wir blicken ins Jahr 2027Foto: Hersteller
Mountainbikes 3.0: Wir blicken ins Jahr 2027

Am Grundkonzept hat sich auch 40 Jahre nach der Erfindung des Mountainbikes nichts geändert. Und doch: Kettenschaltung, Federgabeln, Materialien – in modernen Zeiten kommt alles auf den Prüfstand.

Fliegende Autos, Bildschirmtelefone, Turnschuhe mit selbstschnürenden "Powerlaschen": Völlig abgedreht war die Welt des Jahres 2015, in die Marty McFly 1989 im Science-Fiction-Epos "Zurück in die Zukunft II" mit einem zur Zeitmaschine aufgebrezelten DeLorean düste.

Glaubt man den Visionären, dann wird auch der Mountainbike-Sport in den nächsten Jahren eine rasante Wandlung durchlaufen. Weg vom schweißtreibenden Kurbeln, hin zum elektroforcierten Funbiken auf ruckelfreien Erlebnispisten. Vollvernetzte Smartbikes navigieren Wellness-Willige über Flowtrails und stimmen Tempo, Motorschub und Gangwahl mit der Fitness-App ab. Mag sein.

Kurz zurück in die Gegenwart: Auch 40 Jahre nach der Erfindung des Mountainbikes ist Biken noch immer ein Sport im Rohzustand – trotz intelligenter Fahrwerke und Bluetooth-Tele-Stützen. Und es sind Massen, die glücklich über Gipfel, Gebirge und Rennkurse pedalieren. Aus reiner Muskelkraft. Mal sehen, was Realität wird und was Science Fiction bleibt. Hier ein Blick in die Zukunft der MTB-Technik, die für manche überhaupt nicht abgedreht wirkt, während andere aus dem Staunen nicht mehr raus kommen werden.


GIBT ES IN 10 JAHREN NOCH KETTENSCHALTUNGEN?


Karl-Heinz Nicolai, Geschäftsführer Nicolai Bicycles:
"Der Wirkungsgrad von Kettenschaltungen ist top, das Gewicht gering. Der Verschleiß aber ist hoch. Ich glaube, dass sich Getriebe mit Antriebsriemen durchsetzen. Dann, wenn Getriebe ähnlich leicht sind wie Kettenschaltungen. wenn sie endlich auch unter Last perfekt schalten. Wenn der Preis stimmt. Mit neuen Materialien und Lösungen ist das irgendwann durchaus möglich."

  Karl-Heinz Nicolai zählt zu den Getriebe-Bike-Pionieren, kennt aber auch die Schwächen der Technik. Foto: Hersteller
Karl-Heinz Nicolai zählt zu den Getriebe-Bike-Pionieren, kennt aber auch die Schwächen der Technik. 


WIE SEHEN BIKES IN 10 JAHREN AUS?


1993: Damals und heute Im Herbst 1993 ließen wir für das große BIKE-Future-Special Entwickler ihre Visionen vom MTB der Zukunft zeichnen. Besonders kühn war die Studie von Hans A. Muth, einst Chef-Designer bei Ford und BMW. Damals hatten Bikes Cantilever-Bremsen und zumeist noch starre Gabeln. Die Zeichnung von Muth zeigte ein spektakuläres Hightech-Fully: Rahmen aus Alu-Profilrohren, hydraulische Federung, dazu Scheibenbremsen, variable Geometrie, Schaltgetriebe sowie Carbon-Laufräder mit extra­breiten Reifen.

  Future-Studie aus BIKE 9/1993Foto: Hans A. Muth
Future-Studie aus BIKE 9/1993

Damals pure Science Fiction, heute tatsächlich Realität. Bei der diesjährigen Eurobike-Messe zeigte die italienische Firma Moto Parilla ein Gefährt, das dem Boliden auf der 24 Jahre alten Skizze verblüffend ähnlich sieht. Mit einem entscheidenden Unterschied: Das Muth-Bike ist kein E-Bike wie das Moto Parilla. Es hat nur ein verstellbares Tretlagergehäuse. Ein Motor an einem Mountainbike? Das hatte sich damals wohl selbst Hans A. Muth nicht im kühnsten Traum vorstellen können.

  Halb Fahrrad, halb Motorrad: Das aktuelle Moto Parilla sieht der Future-Studie aus BIKE 9/1993 (o.) äußerst ähnlich.Foto: Moto Parilla
Halb Fahrrad, halb Motorrad: Das aktuelle Moto Parilla sieht der Future-Studie aus BIKE 9/1993 (o.) äußerst ähnlich.


2027: Die Revolution ist vorbei, die Evolution geht weiter. Das Mountainbike wird wohl nicht mehr neu erfunden werden. Spannend bleibt es dennoch.


ROTWILD


Sanfte Evolution: "Bei aller E-MTB-Euphorie wird es sicher wieder einen Trend zurück geben", glaubt Entwickler-Koryphäe Lutz Scheffer: "Ein Bike, ganz unproblematisch, auf das Notwendigste reduziert. Leichtigkeit, Wartungsarmut, überschaubare, pflegeleichte Technik. Das sind die Stichpunkte." Scheffers Rotwild-Studie orientiert sich an diesen Vorgaben.

  Ausgefuchst bis ins kleinste Detail: Der Dämpfer sitzt innen und reagiert automatisch auf Fahrsituation und Untergrund, während sich der Sattel je nach Steigung in optimale Position neigt. Clever: Die Kombi aus 8fach-Ritzel und 2-Gang Getriebenabe.Foto: Hersteller
Ausgefuchst bis ins kleinste Detail: Der Dämpfer sitzt innen und reagiert automatisch auf Fahrsituation und Untergrund, während sich der Sattel je nach Steigung in optimale Position neigt. Clever: Die Kombi aus 8fach-Ritzel und 2-Gang Getriebenabe.

Damit die Muskeln in jeder Situation perfekt arbeiten können, brauche ein Bike eine Schaltung mit 600 bis 700 Prozent Gangspreizung, so Scheffer. Die Lösung: eine 8fach-Kassette kombiniert mit einer Zweigangnabe (Planetengetriebe). Das elektrische Schrägschieberschaltwerk sitzt eng am Rahmen, was das Defektrisiko minimiert. Der innen liegende, adaptive Dämpfer reagiert auf Kettenzug und Neigungsveränderung. Die Teleskop-Sattelstütze (200 mm Hub) verfügt über eine automatische Verstellung der Sattelneigung. Abgerundet wird das Ganze von einer feinfühligen, leichten und dennoch steifen Upside-down-Gabel – für Scheffer die Gabelzukunft.

  Lutz Scheffer prägt seit 20 Jahren mit seinen Entwicklungen Technik-Trends im Fahrradbereich.Foto: Colin Stewart
Lutz Scheffer prägt seit 20 Jahren mit seinen Entwicklungen Technik-Trends im Fahrradbereich.

Mehr zur Studie und der 2x8-Schaltung unter: www.bike-magazin.de / Webcode #37473


CANYON


Das Bike der Zukunft? Canyon-Designer Peter Kettenring und Canyon-Entwickler Vincenz Thoma waren sofort Feuer und Flamme, als wir sie um einen Entwurf baten. Ihr Trailfully "Strive evo" sieht so clean aus wie ein Hardtail, steckt aber voller cleverer Details. Der Dämpfer verfügt über die bekannte Shapeshifter-Geometrieverstellung (Sitzwinkelverstellung um 5 Grad) und ist im Rahmen versteckt. Geschaltet wird elektrisch per Tretlagergetriebe. Eine innen geführte Kette überträgt die Kraft auf das Hinterrad. Der trickreich konstruierte VPP-Hinterbau arbeitet frei von Antriebseinflüssen. Der Drehpunkt des Umlenkhebels befindet sich auf Position der Tretlager­achse.

  Integration und Vernetzung, das sind die großen Merkmale der Canyon-Studie "Strive evo". Das Unterrohr verfügt über Stauraum und eine integrierte Wasserflasche.Foto: Hersteller
Integration und Vernetzung, das sind die großen Merkmale der Canyon-Studie "Strive evo". Das Unterrohr verfügt über Stauraum und eine integrierte Wasserflasche.

Ein Staufach im Unterrohr bietet Platz für Windjacke, Ersatzschlauch und Werkzeug – ähnlich der SWAT-Box bei Specialized-Bikes. Wobei Canyon das Storage-Konzept mit einer vollintegrierten Wasserflasche auf die Spitze treibt. Ein wahres Design-Kunstwerk ist das Cockpit. Aber nicht nur. Das mit dem Vorbau verschmolzene Display navigiert den Fahrer über die Trails und zeigt alle wichtigen Infos an, während die im Oberrohr eingelassenen Solarzellen für die nötige Energie sorgen. Ein rundum durchdachtes Bike für alle Fälle.

  Das Cockpit ist clean und multifunktional. Highlights: rahmenloses Minimal-Display für die wichtigsten Infos (1), Trail Licht (2), frei programmierbare Sensortas­ten (3) sowie Solarzellen unter Klarlack (4) für die Board-Elektronik.Foto: Hersteller
Das Cockpit ist clean und multifunktional. Highlights: rahmenloses Minimal-Display für die wichtigsten Infos (1), Trail Licht (2), frei programmierbare Sensortas­ten (3) sowie Solarzellen unter Klarlack (4) für die Board-Elektronik.
  Designer Peter Kettenring (rechts) und Entwickler Vincenz Thoma (links) über Skizzen der Canyon-Bikes der Zukunft.Foto: Hersteller
Designer Peter Kettenring (rechts) und Entwickler Vincenz Thoma (links) über Skizzen der Canyon-Bikes der Zukunft.

Das Interview mit Canyon-Entwickler Vincenz Thoma gibt es auf: www.bike-magazin.de / Webcode #37474


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