Henri Lesewitz
· 19.02.2018
Am Grundkonzept hat sich auch 40 Jahre nach der Erfindung des Mountainbikes nichts geändert. Und doch: Kettenschaltung, Federgabeln, Materialien – in modernen Zeiten kommt alles auf den Prüfstand.
Fliegende Autos, Bildschirmtelefone, Turnschuhe mit selbstschnürenden "Powerlaschen": Völlig abgedreht war die Welt des Jahres 2015, in die Marty McFly 1989 im Science-Fiction-Epos "Zurück in die Zukunft II" mit einem zur Zeitmaschine aufgebrezelten DeLorean düste.
Glaubt man den Visionären, dann wird auch der Mountainbike-Sport in den nächsten Jahren eine rasante Wandlung durchlaufen. Weg vom schweißtreibenden Kurbeln, hin zum elektroforcierten Funbiken auf ruckelfreien Erlebnispisten. Vollvernetzte Smartbikes navigieren Wellness-Willige über Flowtrails und stimmen Tempo, Motorschub und Gangwahl mit der Fitness-App ab. Mag sein.
Kurz zurück in die Gegenwart: Auch 40 Jahre nach der Erfindung des Mountainbikes ist Biken noch immer ein Sport im Rohzustand – trotz intelligenter Fahrwerke und Bluetooth-Tele-Stützen. Und es sind Massen, die glücklich über Gipfel, Gebirge und Rennkurse pedalieren. Aus reiner Muskelkraft. Mal sehen, was Realität wird und was Science Fiction bleibt. Hier ein Blick in die Zukunft der MTB-Technik, die für manche überhaupt nicht abgedreht wirkt, während andere aus dem Staunen nicht mehr raus kommen werden.
GIBT ES IN 10 JAHREN NOCH KETTENSCHALTUNGEN?
Karl-Heinz Nicolai, Geschäftsführer Nicolai Bicycles:
"Der Wirkungsgrad von Kettenschaltungen ist top, das Gewicht gering. Der Verschleiß aber ist hoch. Ich glaube, dass sich Getriebe mit Antriebsriemen durchsetzen. Dann, wenn Getriebe ähnlich leicht sind wie Kettenschaltungen. wenn sie endlich auch unter Last perfekt schalten. Wenn der Preis stimmt. Mit neuen Materialien und Lösungen ist das irgendwann durchaus möglich."
WIE SEHEN BIKES IN 10 JAHREN AUS?
1993: Damals und heute Im Herbst 1993 ließen wir für das große BIKE-Future-Special Entwickler ihre Visionen vom MTB der Zukunft zeichnen. Besonders kühn war die Studie von Hans A. Muth, einst Chef-Designer bei Ford und BMW. Damals hatten Bikes Cantilever-Bremsen und zumeist noch starre Gabeln. Die Zeichnung von Muth zeigte ein spektakuläres Hightech-Fully: Rahmen aus Alu-Profilrohren, hydraulische Federung, dazu Scheibenbremsen, variable Geometrie, Schaltgetriebe sowie Carbon-Laufräder mit extrabreiten Reifen.
Damals pure Science Fiction, heute tatsächlich Realität. Bei der diesjährigen Eurobike-Messe zeigte die italienische Firma Moto Parilla ein Gefährt, das dem Boliden auf der 24 Jahre alten Skizze verblüffend ähnlich sieht. Mit einem entscheidenden Unterschied: Das Muth-Bike ist kein E-Bike wie das Moto Parilla. Es hat nur ein verstellbares Tretlagergehäuse. Ein Motor an einem Mountainbike? Das hatte sich damals wohl selbst Hans A. Muth nicht im kühnsten Traum vorstellen können.
2027: Die Revolution ist vorbei, die Evolution geht weiter. Das Mountainbike wird wohl nicht mehr neu erfunden werden. Spannend bleibt es dennoch.
ROTWILD
Sanfte Evolution: "Bei aller E-MTB-Euphorie wird es sicher wieder einen Trend zurück geben", glaubt Entwickler-Koryphäe Lutz Scheffer: "Ein Bike, ganz unproblematisch, auf das Notwendigste reduziert. Leichtigkeit, Wartungsarmut, überschaubare, pflegeleichte Technik. Das sind die Stichpunkte." Scheffers Rotwild-Studie orientiert sich an diesen Vorgaben.
Damit die Muskeln in jeder Situation perfekt arbeiten können, brauche ein Bike eine Schaltung mit 600 bis 700 Prozent Gangspreizung, so Scheffer. Die Lösung: eine 8fach-Kassette kombiniert mit einer Zweigangnabe (Planetengetriebe). Das elektrische Schrägschieberschaltwerk sitzt eng am Rahmen, was das Defektrisiko minimiert. Der innen liegende, adaptive Dämpfer reagiert auf Kettenzug und Neigungsveränderung. Die Teleskop-Sattelstütze (200 mm Hub) verfügt über eine automatische Verstellung der Sattelneigung. Abgerundet wird das Ganze von einer feinfühligen, leichten und dennoch steifen Upside-down-Gabel – für Scheffer die Gabelzukunft.
Mehr zur Studie und der 2x8-Schaltung unter: www.bike-magazin.de / Webcode #37473
CANYON
Das Bike der Zukunft? Canyon-Designer Peter Kettenring und Canyon-Entwickler Vincenz Thoma waren sofort Feuer und Flamme, als wir sie um einen Entwurf baten. Ihr Trailfully "Strive evo" sieht so clean aus wie ein Hardtail, steckt aber voller cleverer Details. Der Dämpfer verfügt über die bekannte Shapeshifter-Geometrieverstellung (Sitzwinkelverstellung um 5 Grad) und ist im Rahmen versteckt. Geschaltet wird elektrisch per Tretlagergetriebe. Eine innen geführte Kette überträgt die Kraft auf das Hinterrad. Der trickreich konstruierte VPP-Hinterbau arbeitet frei von Antriebseinflüssen. Der Drehpunkt des Umlenkhebels befindet sich auf Position der Tretlagerachse.
Ein Staufach im Unterrohr bietet Platz für Windjacke, Ersatzschlauch und Werkzeug – ähnlich der SWAT-Box bei Specialized-Bikes. Wobei Canyon das Storage-Konzept mit einer vollintegrierten Wasserflasche auf die Spitze treibt. Ein wahres Design-Kunstwerk ist das Cockpit. Aber nicht nur. Das mit dem Vorbau verschmolzene Display navigiert den Fahrer über die Trails und zeigt alle wichtigen Infos an, während die im Oberrohr eingelassenen Solarzellen für die nötige Energie sorgen. Ein rundum durchdachtes Bike für alle Fälle.
Das Interview mit Canyon-Entwickler Vincenz Thoma gibt es auf: www.bike-magazin.de / Webcode #37474
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