BIKE Magazin
· 29.01.2008
Kein anderes Bike wird vergöttert wie das “Attitude” der Marke Klein. Der Handel mit Originalen erinnert fast schon an die Hysterie des Kunstmarkts.
Den halben Tag schon hatten sie geredet. Über all die Dinge, bei denen man als Klein-Fan Raum und Zeit vergisst. Dass die “Moonrise”-Lackierung am geilsten aussieht, wenn man kniend und von schräg vorn draufguckt, weil sie dann aussieht wie ein mallorquinischer Sonnenaufgang. Und selbst das noch gar nichts sei gegen die göttlichste aller Farbvarianten, die meteorologisch inspirierte Sonderlackierung “Storm”. Das war geklärt. Doch der nächste Tagesordnungspunkt teilte die Teilnehmer des “1. Klein-Treffen” in zwei gegengepolte Lager. Es ging um die Ausfahrt durchs Ulmer Umland und die heikle Frage: Ist es Frevel, ein klassisches Klein mit Schmutz in Kontakt zu bringen, oder standesgemäße Huldigung des Markenmythos’? Die Diskussion zog sich hin. “Nee, nee”, zickte Frank Wedekind, der Besitzer des oben abgebildeten Zweirads, “mit meinem ,Attitude‘ wird nicht gefahren, niemals!” Nicht mit einem alten, einem richtigen “Attitude”.
Um kaum ein anderes Bike wird derartiges Brimborium vollführt wie ums “Attitude”. Das Bike scheint narkotisch auf rationale Gedanken zu wirken. Matte Rahmen-Kadaver sind Sammlern vierstellige Summen wert, ansehnliche “Attitudes” entlocken deren Portemonnaies ein Vielfaches. Je oller, je doller. Manche “Attitudes” zieren Wohnzimmerwände, andere werden als Wertanlage konserviert, die wenigsten benutzt. Markenverehrung extrem, angefeuert nicht zuletzt von der Hysterie selbst. Als einziges Mountainbike überhaupt gehorcht das “Attitude” den Gesetzen des Kunstmarktes. Wie es dazu kommen konnte, ist eine lange, komplizierte Geschichte, in deren Verlauf die “Attitudes” in “richtige” und “falsche” aufgeteilt wurden.
Am Beginn dieser Geschichte stand der 18-jährige College-Junge Gary Klein am Start des alljährlichen “Davis Double”, einem 200-Meilen-Rennen, bei dem Klein auf einem altersschwachen Schwinn seine Radsport-Leidenschaft entdeckte. Klein war so fasziniert vom Gewaltritt, dass er sich dem Radclub des Massachusetts Institute for Technology in Boston anschloss. Bald drehte sich beim Chemiestudenten alles ums Radfahren. Entsprechend reifte der Berufswunsch. Bei Uni-Kursen eignete sich Klein zusammen mit Team-Kollegen die Grundlagen zum Rahmenbau an. “Wir experimentierten mit Boron, Beryllium, Aluminium”, erinnert sich Klein. Anfang der Siebziger fast schon real praktizierte Science-Fiction. Fahrräder waren damals aus windigen, rostanfälligen Stahlrohren. Mit 20 000 Dollar Startkapital von einem Uni-Fonds wagten Klein und drei Kumpel schließlich den professionellen Rahmenbau. “Dass die Firma meinen Namen trägt, wurde einfach beschlossen”, so Klein, der als bescheidener, schüchterner Typ gilt.
Es war der Drang zur Perfektion, der die Firma schließlich zu einem Innovations-Motor machte. Die Liste der Patente wuchs. Stillstand war für Gary Klein nicht zu ertragen. Die Presse nannte ihn den “Alu-Papst”, in seinen Hallen werkelten 50 Leute. 1990 schließlich präsentierte Klein einen Rahmen, der mit derart vielen Neuheiten protzte, dass er wie eine Vorschau ins nächste Jahrtausend wirkte. “Attitude” stand auf dem Oberrohr, “Attitude” wie “Haltung”. Um die Steifigkeit auf ein Maximum zu erhöhen, das Ge wicht aber gleichzeitig auf ein Minimum schwinden zu lassen, hatte der Rahmen Cola-Dosen-dünne, voluminöse Alu-Rohre. Der Steuersatz war riesig und in den Rahmen geklebt, ebenso das Innenlager. Das Cockpit bildete eine Einheit, die Kabel verliefen im Rahmen, die Schweißnähte wirkten unsichtbar. Die poppigen Farben machten das “Attitude” zum Kunstobjekt, Worldcup-Erfolge unterstrichen den technischen Anspruch. Dann kam die Taiwan-Konkurrenz, der Preisdruck und 1995 Trek. Die Übernahme der Kultschmiede durch den Großkonzern markiert für die Fans das Ende des richtigen “Attitudes”. Fortan wurde der berühmte Schriftzug auf Fließband-Rahmen geklebt. Gary Klein selbst blieb die Rolle des Maskottchens. Den Europavertrieb der Klein-Sparte stellte Trek vor Jahren ein.
Der Mythos “Attitude” jedoch wird mit jedem Jahr größer. Favoritisierter Ort für das Klein-Treffen 2008: Ein Shop in Rüsselsheim, dessen Schaufenster einst einem Wackerstein zum Opfer fiel. Die Diebe raubten nichts, außer den zwei ausgestellten “Attitudes”. Ob zum Fahren oder Anschauen ist allerdings nicht bekannt.
Text: Henri Lesewitz