Im Reich der SuperkurvenMythos Northshore

Jan Sallawitz

 · 14.02.2017

Im Reich der Superkurven: Mythos NorthshoreFoto: Manuel Ferrigato
Im Reich der Superkurven: Mythos Northshore

Wiege des Freeridens, Trail-Mekka, Sehnsuchtsort: Kein anderes Gebiet ist so mythenhaft umweht wie die Northshore in Kanada. Also nichts wie hin.

Die Bremsen quietschen. Puh, Glück gehabt. Ich komme gerade noch so zum Stehen. Der kleine, gemütliche Waldpfad hat sich urplötzlich in ein hölzernes Achterbahn-Monstrum verwandelt, das in einer steilen Kurve abrupt in der Luft endet. Wie ein faules Gebiss grinsen mich die schief aufgenagelten, feucht-moosigen Holzbohlen an.
Mist! Bei Stephen Matthews sah das gerade so einfach aus: Bremse auf, Rad leicht anwinkeln und ein paar Meter tiefer elegant in die Landung eintauchen. "Welcome to the Shore!", tönt es von weiter unten, während ich mühsam mein Rad um die klaffende Stelle herumbugsiere. Das also ist die sagenumwobene Northshore. Der Ort, an dem der Freeride-Boom seinen Anfang nahm. Berühmt geworden durch unzählige Fotos und Videos, auf denen zu Legenden gewordene Mountainbiker ihre Räder an die physikalischen Grenzen bringen. Spielplatz für die Pioniere des Extrem-Bikens – und in Wirklichkeit noch eindrucksvoller, als ich es mir vorstellen konnte. Stephen grinst. Er ist einer der talentiertesten Nachwuchs-Biker hier und bewegt sich im Gegensatz zu mir wie eine Katze über die Trail-Achterbahn.

Geographisch bezeichnet der Begriff "Northshore" die Küstenregion der Coast Mountains in der Nähe von Vancouver an der Westküste Kanadas. Für Biker steht die Northshore für die geschichtsträchtigen, endlosen Trail-Systeme in den Bergen Cypress Mountain, Mount Fromme und Mount Seymour.

  Sanfte Welle: Der Begriff "Northshore" steht für halsbrecherische Holzkonstruktionen, doch die meisten Trails winden sich eher sanft durch die Wälder. Foto: Manuel Ferrigato
Sanfte Welle: Der Begriff "Northshore" steht für halsbrecherische Holzkonstruktionen, doch die meisten Trails winden sich eher sanft durch die Wälder. 

Wo heute legendäre Trails mit so klangvollen Namen wie The Skull, Ladies Only oder Expresso gut ausgeschildert und mit Schwierigkeitsgraden bezeichnet theoretisch für jedermann befahrbar sind, haben vor einem Vierteljahrhundert ein paar Jungs angefangen auszuprobieren, was abseits der bekannten Pfade mit dem Bike so alles möglich ist. Dabei erfanden sie etwas, das alles vereint, was man auf dem Fahrrad normalerweise vermeidet: rutschige, schmale Holzhühnerleitern, auf denen man hoch über Stock und Stein balanciert und von denen man herunterspringen muss, weil sie einfach irgendwo aufhören. Solche nach der Northshore benannten Holzelemente sind heute Standardmutproben in jedem Bikepark. In den dunklen Wäldern Britisch Kolumbiens wurde bereits Anfang der Neunziger so intensiv gedropt, gesprungen und über die Trails gefräst, dass Mensch und Material an ihre Grenzen kamen.

Kein Wunder also, dass gleichzeitig immer mehr lokale Bike-Schmieden aus dem Boden sprossen. Fahrniveau und Anzahl der Biker stiegen kontinuierlich. Und an den steilen Berghängen breiteten sich immer ausgeklügeltere Befahrkonstruktionen aus Lehm, Holz und Stein aus. Mit dem Ansatz, fahrtechnische Schwierigkeiten selbst herzustellen und dann möglichst elegant zu meistern, war eine neue Disziplin des Mountainbikens geboren: das Freeriden. Und parallel dazu war auch gleich noch eine neue Form des Landschaftsbaus entstanden: das Trailbuilding für Mountainbiker.

Northshore in Kanada: Epische Mountainbike Trails
Foto: Manuel Ferrigato

Eigentlich bin ich mit Wade Simmons verabredet, um zu sehen, wie so ein "Godfather of Freeride" eigentlich lebt. Nach einem Kurzbesuch in seinem Familiendomizil in einer Wohnsiedlung in Lynn Valley sind wir gerade unterwegs zu einem Bikeshop, als wir zufällig das Urgestein des Northshore-Trail-Baus Todd "Digger" Fiander treffen. Wie auch Wade ist Digger für seine Bike-Verdienste in die Mountainbike Hall of Fame aufgenommen worden. Nach besonders viel Fame sieht er allerdings nicht aus. Mit zerschlissenen, lehmverkrusteten Klamotten kramt er das Werkzeug von der Ladefläche seines Pick-ups. Er wirkt müde und abgerissen. Wir erfahren, dass er direkt von der Reparatur des Ladies Only kommt. Seit Wochen ist er schon wieder an diesem Trail dran, und seine zerschlissenen Knie tun ihm wieder mal höllisch weh. Aber scheinbar hat es sich gelohnt: Ladies Only ist wieder komplett hergestellt! Er grinst schelmisch. Aber was das Beste ist: Seit mehr als 25 Jahren hat er heute – ganz offiziell von der Mountainbike-Vereinigung NSMBA – das erste Mal Geld für seine Arbeit bekommen. Ladies Only ist eine der berühmtesten und ältesten Strecken an der Northshore und so etwas wie sein persönliches Meisterwerk. Das kann Wade bestätigen, auch wenn er betont, dass man sich nicht vom Namen täuschen lassen solle, der Trail sei ein ziemliches Biest und fahre sich in vielen Passagen überhaupt nicht ladylike.

  Todd "Digger" Fiander; Trail-Bauer: Der Schöpfer einer Filmreihe über das Biken an der Northshore gibt in "The Last Digg" einen Einblick in die Kunst des Trail-Baus: Er benutzt fast nur Materialien, die er vorfindet und bepflanzt jeden neuen Abschnitt, um die Bauspuren zu beseitigen. Pflichtprogramm für jeden ambitionierten Streckenbauer!Foto: Manuel Ferrigato
Todd "Digger" Fiander; Trail-Bauer: Der Schöpfer einer Filmreihe über das Biken an der Northshore gibt in "The Last Digg" einen Einblick in die Kunst des Trail-Baus: Er benutzt fast nur Materialien, die er vorfindet und bepflanzt jeden neuen Abschnitt, um die Bauspuren zu beseitigen. Pflichtprogramm für jeden ambitionierten Streckenbauer!

Leider hat Wade heute keine Zeit für die Trails. Er muss noch packen, denn morgen geht’s zusammen mit seiner Frau in die Chilcotins zu einem zweitägigen Bike-Camping-Trip. Ein bisschen aufgeregt ist er auch schon, denn es ist das erste Mal, dass seine zwei Kids alleine bei den Großeltern übernachten. Dafür hat Andreas "Dre" Hestler Zeit, ein Kumpel von Wade und auch er einer der Pioniere des Mountainbikens. Dres Wurzeln liegen im Rennbereich, und so ist es kein Wunder, dass er nach einer erfolgreichen Karriere heute das Mastermind des weltbekannten BC Bike Race ist – einem Etappenrennen auf den besten Trails von Britisch Kolumbien. Hestler hat einfach alles kombiniert, was ihm beim Biken Spaß macht, und herausgekommen ist eine Veranstaltung, die Jahr für Jahr innerhalb kürzester Zeit ausverkauft ist. Daher will er uns auch unbedingt den neuen Climb-Trail am Mount Fromme zeigen, der erst seit einer Woche fertig ist und für ihn das beste Beispiel darstellt, was den Bike-Spirit an der Northshore ausmacht.

Auf dem Weg zum Trailhead, dem Ausgangspunkt, Parkplatz und Treffpunkt der Bike-Community, kommen wir direkt bei Rocky Mountain Bicycles vorbei. Seit 33 Jahren ist die Firma an der Northshore ansässig. Rocky ist eine der Marken, die das Freeriden mitbegründet hat. Mit Wade Simmons, Richie Schley und Brett Tippie nahm sie die damals progressivste Bike-Bande unter Vertrag. Als "Frorider" sorgten sie mit wilden Stunts für Aufsehen. Nebenbei waren sie in die Entwicklung der Räder eingebunden, um sie ihren wachsenden Anforderungen anzupassen. Auch heute noch ist das Feedback der Fahrer wichtig, und so kommen wir in den Genuss, ein paar echte kanadische Trailbikes für unseren Ausritt an der "Shore" zur Verfügung gestellt zu bekommen. Kurze Zeit später rollen wir in den gewaltigen Nadelwald hinein.

Erst auf Schotter, aber schon bald zweigt der neue Trail ab – in den steilen Hang hinein. Als Einbahnstraße und nur zum Hochfahren gedacht, wurde dieser Pfad nach allen Regeln der Kunst ins Gelände gegraben und zwar über knapp 600 Höhenmeter. Dre weist immer wieder auf die perfekte Oberflächenstruktur hin und doziert, dass dies Ausdruck höchsten Trail-Bau-Könnens sei. Zwar sei es im Moment trocken, aber man müsse bedenken, dass wir hier in einer der regenreichsten Regionen überhaupt unterwegs seien und solche Wege wahre Sturzfluten an Wasser aushalten müssen. Der Trick bestehe darin, die eigentlich etwas tiefer liegende Kiesschicht auszugraben und als Deckschicht zu nutzen. Viel Arbeit zwar, aber für hier absolut notwendig. Ich genieße derweil den Streckenverlauf, der schon nach ein paar Metern für einen regelrechten Uphill-Flow sorgt. Im Gegensatz zu normalen Wanderwegen zielt der Pfad nicht auf unmittelbaren Höhenmetergewinn ab, sondern versucht, durch einen geschickten Wechsel von kurzen Steilstücken und sanften Flachstücken, den Biker im Rollen zu halten. Die Serpentinen sind mit großen Radien gebaut und wo nötig als Steilwandkurven geformt, sodass man das Gefühl bekommt, in den Kurven sogar noch zu beschleunigen. Nie hat man den Eindruck, der Streckenbauer wolle den Biker möglichst schnell nach oben befördern, um sich Arbeit zu sparen: Wo immer es möglich ist, sind Findlinge, Felsen oder Wurzeln so geschickt in den Weg eingebaut, dass diese den Fahrspaß noch steigern.

  Die Trails an der Northshore bringen jeden Biker in Schräglage. Doch keine Bange. Nahezu jede Kurve wird von einem perfekt gebauten Anlieger flankiert. Foto: Manuel Ferrigato
Die Trails an der Northshore bringen jeden Biker in Schräglage. Doch keine Bange. Nahezu jede Kurve wird von einem perfekt gebauten Anlieger flankiert. 

Der nächste Morgen: Wir sind in Deep Cove, einem idyllischem Badeort in Nord Vancouver. Hier wohnt eine weitere Legende. Brett Tippie ist eine echte Erscheinung und zwar in Bild und Ton. Aus seinem dauergrinsenden Riesenmund sprudeln in einem schier endlosen Schwall alte und neue Witze. Das Lachen übernimmt Tippie gleich noch mit. Auf seiner Visitenkarte steht "Director of Good Times" und diesen Titel lebt er bis in die kleinste Faser seines Körpers – und zwar vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Als eins der Mountainbike-Originale schlechthin schafft er es dazu immer noch, diese Energie und Urgewalt auf seine Motivation zu übertragen. Es gibt sicherlich kaum jemanden, der so verlässlich dabei ist, wenn es um eine Runde auf dem Trail geht. So auch heute, als ich an seiner Tür klingele. Zwar ist Tippie erst ein paar Stunden zuvor von einem anstrengenden Foto-Shooting zurückgekommen und hat die halbe Nacht im Auto gesessen. Trotzdem geht es nun zuerst einmal auf eine kleine Runde hinters Haus. Er will mir unbedingt den Rock Slab zeigen, einen großen Felsen mit Steilabfahrt, was so etwas wie sein "Signature Stunt" darstellt und mit dem er wahrscheinlich schon in fast jedem Magazin der Welt abgelichtet war. Natürlich kenne auch ich das Bild, aber dass der Fels nicht in der tiefsten Wildnis, sondern wirklich nur ein paar Hundert Meter von seinem Haus entfernt in einem kleinen Waldstück liegt, hätte ich nicht vermutet. Tippie freut sich diebisch darüber. Er erzählt, dass er diesen Stunt gar nicht selbst gebaut habe, sondern ein Kid aus der Nachbarschaft, der ihn dann nie selbst gefahren sei. Kein Wunder, denn was hier vor mir aufragt, ist selbst für kanadische Verhältnisse eine echte Mutprobe. Für Tippie ist diese Abfahrt inzwischen jedoch Routine, und eigentlich könne er sie ja heute mal mit seinem 29er-Trailbike ausprobieren, ruft er. Bevor ich irgendetwas erwidern kann, kommt Tippie auch schon die Felswand herabgeschossen und saust mit breitem Grinsen an mir vorbei.

Ein Stückchen weiter, in Coquitlam, wohnt Ryan Berrecloth. Auch er ist ein großer Freund von haarsträubenden Stunts. Ihn hat die Shore zu einem wahren Baumeister von Mutproben gemacht. Für seine neue Abfahrt im Wald hat er anderthalb Jahre gebraucht. Sie ist so spektakulär, dass ihr im MTB-Film "Builder" ein Segment gewidmet wurde. Ein Trail-Stück von nur ein paar Hundert Metern Länge, dafür aber gespickt mit radikalen Sprüngen und Drops – der finale Jump gut zehn Meter hoch. Selbst von den Profis hier könnten nur ganz wenige diese Linie befahren. Und doch verkörpert sie genau das, was den Geist des Mountainbikens an Vancouvers Nordküste ausmacht: der Spaß am Biken und die Freude daran, etwas Neues, Herausforderndes und bisher nicht Dagewesenes dafür geschaffen zu haben. Das Biken ist hier über die vielen Jahre zum Kulturgut geworden.

Das merkt man, wenn man nach dem "Ride" am Parkplatz zusammenkommt. Hier stehen aktive Profis, Feierabendfahrer und Touristen wie ich mit einer Büchse Bier in der Hand zusammen, und man versteht sich einfach. Einer ist vielleicht berühmter, ein anderer fährt schneller oder springt weiter – aber der Spirit ist bei allen genau derselbe: der Spaß am Mountainbiken. Und davon gibt’s hier schon lange reichlich.


INFOS NORTHSHORE


Das Revier

Der Begriff Northshore bezeichnet die Region um Vancouver an der Westküste Kanadas. Im Zusammenhang mit Biken ist damit das Berg-Trio Cypress Mountain, Mount Fromme sowie Mount Seymour gemeint, das überzogen wird von feinen Trails. Liftanlagen gibt es nicht. Es wird selbst gekurbelt. Einige Bikeshops bieten auch Shuttles zu den Trails an.


Anreise

Vancouver wird von allen großen Fluggesellschaften angeflogen. Die Kosten für den Bike-Transport sind unterschiedlich. Wir empfehlen aber definitiv, das eigene Bike mitzunehmen, statt eins vor Ort zu mieten.


Trails

Die Trails an der Northshore sind zum großen Teil ausgeschildert. In den Bikeshops gibt es Übersichtskarten. Eine gute Web-Adresse: www.nsmb.com

  Northshore in Kanada: Epische Mountainbike TrailsFoto: Manuel Ferrigato
Northshore in Kanada: Epische Mountainbike Trails
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