Björn Kafka
· 03.07.2017
Radon-Chef Christopher Stahl gibt seit 2017 mit einem Downhill- und einem Cross-Country-Team Gas. Seine Mission: der Welt zeigen, dass Versender-Bikes ganz vorne mitmischen können.
"‚No tits in the pits‘, das sagte schon David Coulthard", so erklärt Christopher Stahl (53) die Abwesenheit seiner Frau – und zieht mit seinen Söhnen durch das Spalier der Fans.
Seine bessere Hälfte hockt in Bonn, während Papa Stahl mit den beiden Zöglingen beim Doppel-Worldcup in Lenzerheide steckt. Männerwochenende nennt Stahl die Drei-Tages-Sause, eine Auszeit mit dem Nachwuchs. Lässig lässt er kurz sein Handy aus der Hosentasche linsen. Keine wichtigen Nachrichten, gut so. Uhrzeit checken. In 20 Minuten wird der Startschuss zum Damenrennen im Cross Country ertönen – für Stahl der Höhepunkt des Trips, denn mit Alexandra Keller (21) und Kathrin Stirnemann (28) stehen zwei seiner Sportlerinnen am Start.
"Jetzt aber zackig", feuert er seine Gefolgschaft aus Söhnen und Mitarbeitern an. "Wir müssen zum Trail-Einstieg, da sieht man genau, wie abgekämpft die Frauen in den Trail einfahren."
Christopher Stahl, Versender-Mogul von H&S Bike-Discount, Schöpfer der Bike-Marke Radon, Besitzer eines Downhill- und Cross-Country-Worldcup-Teams. Ein Name, der in einem Atemzug mit Erwin Rose und Roman Arnold genannt wird. Die drei Versender-Giganten prägten mit Beginn der Internet-Ära nachhaltig die Fahrradbranche in Deutschland und Europa. Allein Stahls H&S Bike-Discount versendet über eine Million Pakete jährlich. Der 53-Jährige gilt als preisradikal, extrovertiert und sieht aus wie eine Mischung aus Helmut Dietl und Micky Rourke. Ein Mann, der weder rosa Hemden scheut, noch direkte Konfrontationen. Stahl kennt den Wettbewerb, kennt Verdrängung, kennt die Anwaltspost seiner Konkurrenten in- und auswendig. Der Bonner sezierte im Laufe der Jahre seine Produktionsprozesse, trimmte Abläufe und Preise, teilweise so sehr, dass er am Ende nur noch 70 Euro an einem Bike verdiente. Letztes Jahr fand Stahl eine neue Werbemöglichkeit. Er stockte sein Downhill-Worldcup-Team mit der Weltmeisterin Manon Carpenter auf und kaufte sich in das ehemalige Stöckli-Team um Teamchef Ralph Näf und Worldcup-Ass Mathias Flückiger ein. Allein neun Weltmeister hat er damit in seinen Teams. Nicht unbedingt zur Freude seines Geschäftspartners Ralf Heisig, der Stahl wohl eher als Weltmeister im Geldausgeben sieht.
Die Marke Radon gründeten beide vor 20 Jahren, der Name der Firma war ein Versehen, wie der Familienvater Stahl heute sagt. Eigentlich wollte er mit dem Namen Leichtigkeit transportieren – dass Radon aber eines der schwersten und auch radioaktivsten Materialen ist, wusste er nicht. Aber das ist dem Mann aus Bonn, der mit einer 20-Quadratmeter-Klitsche anfing, herzlich egal. Heute will er der Welt zeigen, dass man auf seinen Bikes vorne mitfahren kann. Auf Highend-Rädern für 6500 Euro, für die die Konkurrenz meist deutlich mehr verlangt. Dazu wollte er unbedingt Jolanda Neff im Team haben – aber die bekam er nicht. Die Kosten hätten auch das Jahresbudget gesprengt. Inzwischen ist er ganz froh, dass es nicht so weit kam, denn die Alexandra sei auch richtig gut, sagt er auf dem Weg zur Rennstrecke. Eine Woche zuvor raste die junge Schweizerin trotz Plattfuß auf Platz neun beim Worldcup in Andorra. Jetzt soll sie in Lenzerheide noch einen draufsetzen. In puncto Team-Stand wird es schwer für Radon, noch einen draufzusetzen. Schon jetzt herrscht das Radon-Areal über das Event-Gelände. Ein riesiger Truck, zwei große Transporter, 80 Quadratmeter Messe- und Team-Bereich. Dazu eine edle Espressomaschine, die die Besucher versorgt. Wenn man so will: Es brummt bei Radon – mehr noch, als beim Stand von Weltmeister Nino Schurter.
Der hockt gerade auf der Rolle und schwitzt sich warm. In gut 90 Minuten startet sein Rennen, doch zuvor bejubeln Familie Stahl und die Fans das Frauenrennen, das zeitgleich zu Schurters Aufwärmprogramm läuft. Stahl sitzt auf einem Baumstumpf und checkt die Zwischenzeiten der Fahrerinnen.
"Alexandra auf sieben", ruft er einem seiner Mitarbeiter zu. "Die kommt hinten raus sicher noch", schließt er an und starrt weiter aufs iPhone. Seit 16 Minuten kämpft Alexandra mit den anderen Frauen um Platzierungen und Sekunden. Stahls Söhne stehen neben Papa und schauen auf die Strecke. Das Familienoberhaupt tippt wild auf dem Display herum und lugt unter der randlosen Brille immer wieder auf den Trail. Plötzlich brüllt einer der Streckenposten: "Elektrotöff!" Ein E-Motorrad surrt flüsterleise in den Trail hinein, dann kommen die Führenden: Maja Włoszczowska, Yana Belomoina, Gunn-Rita Dahle Flesjå, Jolanda Neff, auf Platz fünf Alexandra Keller. "Komm, das sieht gut aus", brüllt Stahl. "Habt Ihr das gesehen? Die Alexandra in einer Gruppe mit Emily Betty und Sabine Spitz – krass, wie weit die noch vorne fährt."
Stahl steht auf, schlittert über die rutschige Schlammpiste zum nächsten Beobachtungspunkt unten an der Würstchenbude.
Der Rennkurs in Lenzerheide gilt sowohl auf der Downhill-, als auch auf der Cross-Country-Strecke als besonders technisch. Zahllose Wurzelteppiche überziehen den Kurs, die sandigen Abfahrten verwandeln sich bei Regen in Schlammrutschen. Nicht selten bevorzugen es die besten Cross-Country-Biker der Welt, ihr Rad kurz zu tragen, anstatt einen Sturz zu riskieren. Ähnlich angsteinflößend wölben sich die Wurzelfelder der Downhill-Strecke den Fahrern entgegen. Ein Kurs der "balls" benötige, wie Radon-Downhiller Faustin Figaret am Vortag sagte und dann anschloss "I forgot mine at home". Sein Team-Kollege Johannes Fischbach bewies zwar mehr Mut, krachte aber mit der Schulter in einen Steinteppich und schleppte sich geschlagen zur Talstation der Rothorn-Bahn. Aber nicht nur Worldcup-Profis werden von den schweren Bedingungen angezogen. Jedes Jahr starten 777 Biker beim legendären Bike-Attack-Freeride-Marathon. 2000 Tiefen- und 140 Höhenmeter müssen die Biker dabei nach dem Massenstart vom Gipfel bis ins Ziel nach Churwalden bewältigen. 2018 hat die Region bei Chur zudem den Zuschlag für die Mountainbike-Weltmeisterschaften erhalten. Als Vorboten grinsen Nino Schurter und Jolanda Neff alle paar Kilometer von großen Werbetafeln.
Grinsen kann Stahl nicht mehr. Seine Haare wirken wie gegelt, dabei sind sie nass vor Schweiß. Der Bonner Geschäftsmann ist nervös. "Echt ey", ruft er in die Menge hinein, "Das ist so hammerhart, was die Mädels hier machen. Ich leide da voll mit."
Seine Augen starren wieder auf das iPhone-Display. Zwei Kilometer weiter keucht seine Fahrerin
Alexandra Keller, um den Anschluss in die Top Ten. Sie knechtet in der berüchtigten Uphill-Passage. Ein fieses, kurvengespicktes Steilstück, das sich unrhythmisch den Berg hinaufzieht. Keller zermürbt ihre Muskeln, während vorne die Britin Annie Last zur Überraschungsattacke bläst. Sie kämpft sich an Jolanda Neff und Gunn-Rita Dahle Flesjå vorbei. Die Fans kreischen. Der Bonner verfolgt das Ganze auf dem Bildschirm. "Wahnsinn, die Annie, die war ja früher schon mal ganz gut. Aber jetzt …" Da rast die Britin schon an ihm vorbei, Dahle Flesjå fünf Sekunden dahinter. Zwei Runden noch. Stahl trippelt auf der Stelle, Platz elf für Alexandra, der Radon-Chef leidet richtig mit.
"Das tut so weh, was die da jetzt macht", flüstert er in sich hinein. Die Schweizerin rutscht angeschlagen auf ihrem Sattel herum. Dann rast sie den Trail runter, vorbei an Stahl, der noch mal alles aus seinen Stimmbändern herausholt. Er schaut ihr nach, guckt aufs Handy und holt tief Luft. "Jungs, es ist Zeit für ein Bier", verkündet der 53-Jährige, zieht mit seinem Tross zum Bierzelt und genehmigt sich eine Halbe.
Unterdessen prasselt Regen auf die Strecke. Annie Last keucht ihrem vermutlich größten Erfolg entgegen, doch Dahle Flesjå lässt nicht nach. Sieben Sekunden trennen die beiden. Last glitscht leicht auf den Wurzeln weg und steigt ab. Sie trägt ihr Bike. Nur noch vier Sekunden Vorsprung. Sie presst mit aller Kraft über den aufgeweichten Untergrund, noch 500 Meter. Die Zuschauer brüllen. Annie Last rast durchs Ziel, dahinter rast Dahle Flesjå herein. Die Britin steht wie angewurzelt im Ziel. Ihr bestes Worldcup-Ergebnis war bisher ein achter Platz – vor fünf Jahren. Und jetzt ein Sieg. Unfassbar. Minuten später rollt Alexandra durch den Zielbogen – Platz 12. Ihr Blick ist leer, die Beine zittern vor Erschöpfung und Unterzucker. Ralph Näf reicht ihr eine Trinkflasche, an der sie sich festhält. Dann kommt ihre Team-Kollegin Kathrin Stirnemann ins Ziel. Auch sie sieht maximal abgekämpft aus. Stahl umarmt seine Fahrerinnen, schaut in die Ferne. Der Regen legt noch mal einen Gang zu und peitscht auf die Team-Zelte. Alle flüchten unter den Radon-Stand. In 30 Minuten soll es weitergehen mit dem Männerrennen.
Zwei Stunden später brennt wieder die Sonne auf das Worldcup-Gelände. Im Zielbereich beugt sich Ralph Näf über Mathias Flückiger, der versunken auf dem Asphalt hockt. Platz 15. Der ehemalige U23-Weltmeister schüttelt den Kopf und reibt sich den Schlamm aus den Augen. Stahl düst derweil Richtung Ausgang, sein Tross dicht hinter ihm. "Jetzt aber zackig, bevor alle loswollen und wir im Stau stehen. Der Flieger wartet nicht." Das Männerwochenende neigt sich dem Ende zu und damit hat auch Stahls Lieblingszitat, "No tits in the pits", wohl erst mal wieder Pause.
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