Henri Lesewitz
· 22.04.2017
Mittendrin statt nur dabei: BIKE-Reporter Henri Lesewitz hatte beim Sella Ronda Hero 2016 nicht nur die Startnummer am Bike, sondern auch die Kamera im Rucksack. Hier die Reportage von seinem Mountainbike-Marathonabenteuer.
Helden tragen Lycra. Zumindest in Comics und Action-Filmen. Doch das hier ist die Realität. UNd da stehen jetzt also 4016 in Lycra Gepellte, als Ausdruck ihrer Normalsterblichkeit, Sturzhelme auf den Köpfen, um sich einmal in ihrem Leben in die Heldenliga aufzuschwingen.
Aber ehrlich gesagt wirken sie mehr wie die Kaninchen vor der Riesenschlange. Der Typ neben mir ist so nervös, dass er zu zittern scheint. Mir selbst ist auch schon seit Tagen ganz mulmig zumute. "TODAY IS YOUR DAY", brüllt es in Großbuchstaben vom Startbanner.
Wie viele Brote würde ein Bäcker verkaufen, wenn er die Unverträglichkeit der Inhaltsstoffe bewerben würde? Wie begehrt wäre ein Badeurlaub, wenn das Reisebüro den halsbrecherischen Charakter des zerklüfteten Uferbereichs anpreisen würde? Man kann den PR-Strategen des Dolomiten-Prachtortes Wolkenstein einen gewissen Mut attestieren, dass sie zur Ankurbelung des Sommertourismus’ nicht etwa eine "Ayurveda Wellness Week" kreierten, sondern den "härtesten Mountainbike-Marathon Europas". Davon gab es zwar schon reichlich. Doch die Südtiroler hatten erstens mit dem Sella-Gebirgsmassiv eine wesentlich imposantere Kulisse als die vielen anderen "härtesten Marathons Europas" und zweitens eine geniale Idee. Sie nannten das Rennen "Hero" und dachten sich ein schickes Logo aus. Die für jeden begreifliche Kernaussage: Wer die 86 Kilometer und 4500 Höhenmeter bezwingt, ist ein Held. Okay, vielleicht keiner, der eine Frau aus den Klauen einer dreiköpfigen Bestie befreit. Und auch keiner, der die Welt vor dem Klimakollaps rettet. Aber zumindest ein kleiner, glücklicher Held des Hobby- und Freizeitsports. Als im Juli 2010 ein übersichtliches Feld aus 400 Bikern zur Sella-Ronda-Hero-Premiere startete, konnte niemand ahnen, was für ein Heldenepos schon bald draus erwachsen würde. Noch schwerer als die Ziellinie zu erreichen, ist es inzwischen, eine Startnummer zu bekommen. Viertausend Teilnehmer! Am Sella-Gebirgsstock werden jetzt Helden geschmiedet, wie Eisenbahnschienen in einem Stahlwerk. Am Ortseingang haben sie ein riesiges Hero-Logo aufgestellt. Überall hängen Hero-Fahnen und Hero-Banner. Im ganzjährig geöffneten Fan-Shop gibt es Hero-Badelatschen, Hero-Trikots, Hero-Anti-Stressbälle. Hero, Hero, Hero. Die totale Heroisierung.
Eineinhalb Stunden dauert es, bis alle Startblöcke auf die Strecke gepumpt sind. Schon der erste Anstieg ist eine Abprallwand für Untertrainierte. Wolkenstein liegt auf 1500 Metern Höhe, der zu überquerende Dantercepies auf 2300 Metern. Die Profis haben 28er-Kettenblätter montiert, um die fiese Steigung zu bändigen. Den Jedermann-Fahrern kocht der Schweiß aus den Poren, als wäre es Nudelwasser. Einige haben Probleme, die Kurbel in die nächste Umdrehung zu ringen, was für ziemliche Verdichtung sorgt. Zurückfallende und Heranbrandende verklumpen zu einer bunten, keuchenden Masse. Die Überspannten fordern lautstark Durchlass, die Überstrapazierten aber denken gar nicht daran, die Idealspur zu verlassen. Warum auch? Stau ist ja nur hinten nervig.
"Scusa, scusa! Left, left!", versuche ich im lose geschotterten Linksaußen am Kuddelmuddel vorbeizukommen, was natürlich nicht viel bringt, außer einem fiesen Laktateinschuss. Keine Ahnung, was sich die Evolution dabei gedacht hat. Sobald man außer Puste gerät, schabt einem das Laktat stacheldrahtartig durch die Venen. Die Muskeln werden sauer wie abgelaufener Joghurt. Warum macht der Körper das? Wozu soll das gut sein? Man fühlt sich von den Höhenmetern regelrecht verwundet. Und von denen lauern noch mehrere Tausend. Egal, einfach an Supermarkteinkäufe, Spaziergänge und sonstige Wochenendzumutungen denken, denen man durch das hier entgeht, das hilft, den Schmerz in den Beinen halbwegs zu ertragen.
Und das ist ja auch das Konzept von Marathon: Erst das stundenlange Garen in Muskelschmerz, Atemnot und Verzweiflung garantiert den Euphorieschwall beim Durchhuschen des Zielbogens. Kein Sommer ohne Winter.
Also weiter, mit viehischer Kraft auf die Pedale gestampft, das Wadenrelief ist maximal kantig.
"Scusa, scusa! Left, left!", schiebe ich einen Rumeiernden auf seine Spur zurück. Doch der hat leider gerade gar keinen Sinn für Humor.
"Hey! You are not the champion!", schreit er mir mit adrenalingepeitschter Stimme hinterher. Der Champion vielleicht nicht, mein Freund, lächle ich gütig. Aber vielleicht bald ein Hero. Allerdings nur, wenn ich mich beeile. Die Karenzzeiten sind nicht allzu großzügig gesetzt. Wer nur eine Minute zu spät kommt, dem wird gnadenlos die Nummer vom Lenker geknipst. Marathon – die Pyramidenspitze der Luxusprobleme.
Ist es das, warum alle so verrückt auf diesen Marathon sind? Weswegen Eurosport 2 Kamera-Teams mit Hubschraubern schickt, um live zu berichten? Der Kampf von 4000 Bikern mit widerspenstigen Höhenmetern? Die Antwort muss man sich ein bisschen erarbeiten, aber sie wird mit jedem niedergerungenen Kilometer klarer: Das Sella Ronda Hero ist eine epische Härteprüfung inmitten einer schier unglaublichen Naturkulisse. Wie das Werk eines größenwahnsinnigen Bildhauers thront der Sella-Gebirgsstock in den ohnehin schon monumentalen Dolomiten. Ein Granitkloben gigantischen Ausmaßes. Kahl, kantig, silbergrau. Das steinerne Herz des Marathons, dessen Strecke derart erlebnisreich drumherum führt, dass einem die Strapazen phasenweise wie Opfergaben erscheinen. Man dankt dem Berg für seine Herrlichkeit und schenkt ihm seinen Atem. Meine Güte, habe ich jetzt echt so einen Schwulst geschrieben? Aber es ist tatsächlich so: Man kann sich keine schönere Sportarena vorstellen. Dass es auch eine Tückische ist, wird erst im Laufe des Tages klar.
Es ist kurz nach Mittag, als die eben noch glühende Julisonne von finsteren Quellwolken verhangen wird. Es tröpfelt erst schüchtern, dann kotzt sich der Himmel hemmungslos über der Strecke aus. Der nun folgende Temperatursturz dezimiert die Laune nochmals erheblich. Die Schnellsten jagen bereits Wolkenstein entgegen, doch das Gros der Fahrer befindet sich noch in der grausamen Schotterrampe zwischen Arabba und dem Passo Pordoi – auf der Hälfte der Strecke also. Mit erloschenen Gesichtern, wie die Untoten aus "Brigade der Zombies", stapfen sie dem umtosten Gipfel entgegen. Es ist so steil, dass seit Kilometern keiner fährt. Alle leiden stumm. Manche zittern sich Gels rein in der Hoffnung, den Wahnsinn irgendwie zu überleben. Das ist absolut alles, was sie interessiert. Überleben, finishen, Hero sein. Wie verwitterte Roboter, deren Steuerung zusammengebrochen ist – bis auf die Funktion Autopilot. Wolkenstein, 46° 33' Nord, 11° 46' Ost, noch
45 Kilometer! Linkes Bein, rechtes Bein. Und immer so weiter. Tut mir wirklich Leid, liebe Top-Fahrer, Euch Aushängeschilder des Bikens derart entmystifizieren zu müssen. Aber der wahre Extremsport, der findet im letzten Drittel statt. So krass kann man sich gar nicht photoshoppen oder facetunen, dass man so zerstört aussehen könnte, wie die Verzweifelten, die mit zuckenden Krämpfen gegen die Karenzzeiten ankämpfen. Aber genau dieses Erlebnis haben sie ja gebucht. Für 110 Euro.
Im Anstieg zum biestigen Passo Duron geht schließlich auch meine Motivation krachend zu Boden. Der Regen hat mir meine sportarttypische Minimalgarderobe eiskalt auf die Haut gekleistert. Zudem fühle ich mich seit längerer Zeit äußerst unangenehm von Höhenmetern bedrängt. Überhaupt bin ich körperlich nicht mehr besonders rege. Der Gipfel ist endlich in Sicht. Da bemerke ich trotz zweistelliger Steigungsprozente plötzlich ein schlagartiges Nachlassen des Tretwiderstands. "Ach wie schön!", will ich mich gerade darüber freuen, dass das eben eingesaugte Power-Gel so schnell seine Wirkung entfacht. Da registriere ich die Ursache für das muntere Kurbelrotieren: Kettenriss. In einer Situation wie dieser kann das zwei Dinge bedeuten. Erstens, ich repariere die Kette und fahre weiter. Oder zweitens, meine steif gefrorenen Finger sind dazu nicht mehr in der Lage, weswegen ich in dieser Gesteinswüste strande und mein Körper vor lauter Kälte nach und nach alle nicht lebenswichtigen Funktionen einstellt. Woraufhin ich mich halb taumelnd, halb robbend dem Ziel entgegenschleppen müsste. Was zwar bestens zum Veranstaltungsmotto passen würde, mir im Sinne des Begriffs Hero aber dann doch eine Spur zu authentisch wäre.
Mehr als sieben Stunden, nachdem ich die Startbox verlassen habe, kurble ich mit knarzender Kette über die Ziellinie. Der Moderator kündigt mich den Zuschauermassen an, als hätte ich den Streckenrekord pulverisiert. Seine Stimme überschlägt sich fast. Und so geht das bei jedem weiteren Fahrer, und so war es bestimmt auch schon bei allen anderen zuvor. "WOW … WHAT A FEELING", prangt oben auf dem Zielbanner. Interessante Erkenntnis: Wolkenstein ist in all den Stunden Wolkenstein geblieben, die Fahrer aber wirken massiv verändert. Alle sind dreckig. Alle sind zermürbt. Einzelne bluten. Aber alle lachen glücklich hinter ihrer Schlammpanade hervor. Kein Zweifel: Helden tragen Lycra. Nicht nur in Comics und Action-Filmen.
Wie von eintausend Bildhauern aus Granit gemeißelt steht der mächtige Sella Ronda-Gebirgsstock in der ohnehin schon prächtigen Dolomiten-Landschaft. Kein Wunder, dass Wolkenstein, direkt am Fuße der imposanten Szenerie gelegen, zu den touristischen Hot Spots der Alpen zählt. Das Gebiet ist bestens erschlossen und verfügt über eine riesige Betten-Kapazität. Fahrzeit von München aus: zirka drei Stunden.
Der Rennkurs umrundet einmal den Sella-Stock, ohne dabei mit Höhenmetern zu geizen. Auf gerade mal 86 Kilometern summieren sich 4500 Höhenmeter. Die Anstiege sind steil, die Panoramen stets bestmöglich. Einzelne Abschnitte der Downhills führen über ausgebaute Flowtrail-Strecken. Der fahrtechnische Anspruch des Marathons ist nicht allzu hoch. Zumindest, wenn die Strecke trocken ist.
Dolomiten-Wände wie Reißzähne, spektakulär illuminiert vom Morgenlicht: Die Überquerung des 2300 Meter hoch gelegenen Dantercepies sorgt bei jedem Fahrer für Gänsehaut. Dreht man den Kopf nach links, schaut man auf den 900 Meter tiefer gelegenen Startort Wolkenstein. Schaut man in den Gebirgsschlund nach rechts, sieht man das berühmte Grödnerjoch. Kann aber auch sein, dass man nur die vielen Zuschauer sieht, die hier oben auf dem Dantercepies traditionell ein tosendes Jubel-Spalier bilden. Auch super: Die etwas technischere Abfahrt vom Passo Pordoi, die an manchen Stellen austrainierte Reflexe erfordert.
Steil und kraftraubend sind alle sechs Anstiege. Als fieser Motivations-Killer entpuppt sich aber der letzte lange Anstieg hoch zum Passo Duron. Nach heftiger Plackerei wähnt man sich auf einem Plateau so gut wie oben. Nach einer scharfen Rechtskurve dann der Schock: Der Gipfel ist noch fern. Wer jetzt eine moralische Krise bekommt, wird sich schwertun, das Ziel zu erreichen. An der Verpflegung hinter dem Pass in Ruhe auftanken. Dann die letzten 300 Höhenmeter in Angriff nehmen, die auch nicht mehr ganz so garstig zu den Waden sind.
Gut zu wissen Eineinhalb Stunden dauert es, bis alle Startblöcke auf der Strecke sind. Die Veranstalter tun wirklich alles, um das Gedränge auf der Strecke zu entzerren. Dennoch: Jeder wird irgendwo mal im Stau stehen. Rumschreien, drängeln und derlei Dinge werden nichts an der Situation ändern, sondern nur die Stimmung vermiesen – die des Cholerikers und die der anderen. Also ruhig bleiben, entspannt durchatmen und eben einfach mal die grandiose Kulisse genießen.
Die einzige Verkehrsader, die Straße rund um das Sella-Massiv, ist während des Rennens gesperrt. Das macht es für Zuschauer äußerst schwierig, an die Strecke zu kommen. Tipp für Fans: Mit der Seilbahn hoch zum Dantercepies. Wer früh aufsteht, kann dort sogar die Ersten anfeuern.
Auf den Spuren des Hero-Marathons biken, aber entspannt? Eine große Auswahl an Touren finden Sie hier: www.herotrails.com
Die Anmelde-Datenbank für den Hero wird meist im September freigeschaltet. Wer mitfahren will, muss schnell sein. Die 4017 Plätze (4000 plus 17 für das Austragungsjahr) sind innerhalb von Stunden weg. Info unter www.herodolomites.com