Henri Lesewitz
· 01.10.2020
Der Klimawandel ist nur ein Grund mehr für BIKE-Chefredakteur Henri Lesewitz, wann immer es geht Mountainbike statt Auto zu fahren. Aber braucht man zum Kilometerschrubben echt ein spezielles Bike?
Der Meeresspiegel steigt, die Polkappen schmelzen. Der Klimawandel ist nur ein Grund mehr für Henri Lesewitz, wann immer es geht Mountainbike statt Auto zu fahren. Aber braucht man zum Kilometerschrubben wirklich ein spezielles Bike? Ein Custom-Made-Report.
Trends verwelken wie Primeln. Erst blühen sie zur Mode heran. Dann werden sie vom nächsten Trend ins Jenseits befördert, wo sie auf dem Komposthaufen der Geschichte verrotten. Das ist mit Klamottenstilen so. Mit Musikrichtungen. Mit Technik sowieso. Die Zeit killt alles. Nur nicht echte Leidenschaft.
Was mich betrifft, so haben sich drei Dinge in meinem Leben als unverrottbar herausgestellt. Die Liebe zum Punkrock. Die Liebe zum Biken. Und die Liebe als solches.
Genau dreißig Jahre ist es her, dass ich bei "Radsport Paul" im Städtchen Eilenburg in der Nähe von Leipzig stand und mir ein Mountainbike kaufte. Es war die erstmögliche Minute meines Lebens, in der ich das tun konnte. Das Land, in dem ich aufgewachsen war, die Deutsche Demokratische Republik, lag röchelnd am Boden. Das neue Land, die wiedervereinigte Bundesrepublik, war schon beschlossen, aber noch Zukunft. Eine süße Mischung aus Wild West und Aufbruch lag über dem grauen, bröseligen Osten. In der Nacht war die DDR-Mark schon mal in D-Mark umgetauscht worden. Und nun stand ich Punkt 9:00 Uhr in diesem kleinen Kabuff von Laden und kaufte mir für damals unvorstellbare 1059 West-Mark das einzige Mountainbike, das in diesem Laden stand: ein Winora Power Pro.
Ich war achtzehn, ehemaliger Kader-Radsportler, Punk. Ich hatte keinen blassen Schimmer, was man mit einem Mountainbike genau macht. Aber die Karre sah höllenmäßig radikal aus. Und ich spürte, dass es der Schlüssel zu dem ist, von dem ich nach meiner Kindheit im Menschengehege DDR mindestens ebenso träumte wie von der großen Liebe: Freiheit! Grenzenlose, große, romantische Freiheit. Wie in den Abenteuerbüchern. Das Winora mit seinen geländegängigen Reifen und 21 Gängen schien perfekt. Ich werde nie den Moment vergessen, als ich Minuten nach dem Kauf testweise von der Straße in einen Waldweg bog und unter den Reifen sanft der Schotter knirschte.
Heute bin ich achtundvierzig, zweifacher Vater, verheiratet, vollberufstätig, zahnersatzzusatzversichert. Vieles hat sich verändert. Die Welt. Die Mode. Auch das Biken. Die Evolution in den letzten 30 Jahren verlief so heftig, dass sich selbst die simple Frage kaum noch beantworten lässt: Was genau ist das eigentlich, Mountainbiken? Ebenso gut könnte man fragen, was Musik sei. Angesichts der ganzen Sparten und Unterarten ist eine klare Definition so gut wie unmöglich.
Dennoch könnte ich für mich den Kern vom Biken mit einem einzigen Wort charakterisieren: Freiheit. Man fährt mit der Kraft der Banane von A nach B. Schotterpiste, Singletrail, Feldweg? Gebirge, Heide, Wüste? Völlig egal. Ein Bike sollte alles mitmachen und niemals nerven, weswegen ich trotz all der stolzen, schönen, bequemen Enduro-Fullys noch immer Hardtails bevorzuge. Je komplizierter Technik ist, desto divenhafter ist sie meist auch.
Ich traf Michael Manck im tschechischen Singletrail-Paradies Nové Město pod Smrkem. Mir war sein grellpink lackiertes Stahl-Fully aufgefallen, auf dem der Name Patria stand. "Patria, war das nicht die Marke, die suburbane Hosenklammerradler so gerne fahren?", zuckte es mir durch den Kopf. Wie sich herausstellte, war Michael Entwickler bei Patria. Das Fully hatte er sich selbst geschweißt. Freestyle, nur für sich. Wir kamen ins Gespräch. Er erzählte von den Patria-Maßrahmen, die auf Grundlage aufwändiger Kundenvermessungen entstehen; von der Möglichkeit, Beschwerden wie etwa Knieprobleme, mit einer speziellen Geometrie entgegen zu wirken.
Ich hörte gebannt zu, denn seit Jahren plagten mich bei Langstrecken gelegentlich Kniereizungen. Nicht bei kurzen Langstrecken unter 100 Kilometer. Aber bei echten, taffen Ausdauerprüfungen wie der berühmt-berüchtigten Salzkammer-Trophy, bei der man sich 211 Kilometer und mehr als 7000 Höhenmeter am Stück in die Beine drückt. Was Michael erzählte, klang spannend. Denn in meinem Kopf nistete schon länger die Idee, mir einen kompromisslosen, maximal strapazierfähigen Kilometerflitzer aufzubauen. Ein Bike für Alltagstouren und Bikepacking-Abenteuer. Ohne Schnörkel, ohne Schnickschnack. Ein Bike wie ein Punkrock-Song. Geschmiedet aus purer, ungezügelter Leidenschaft, scheißegal, welche Mode der Markt gerade diktiert. Die Frage war nur: Ein Patria? Gemuffter Stahl, Trekkingbiker-Image. Echt jetzt?
Ich kenne mich ziemlich aus mit Custom-Schmieden. Die Stars der Rahmenbau-Szene heißen Wiesmann, Firefly, SingleBe, DeKerf und Co. Die Bielefelder Manufaktur Patria werkelt – was Mountainbikes anbelangt – völlig unterm Radar. Sie ist spezialisiert auf Reiseräder. Das Hauptklientel sind gut situierte Genussradler mit Öko-Touch. Die Schmiede existiert seit 1898, der Familienbetrieb wird inzwischen in dritter Generation geführt. Damit die Räder optimal passen, werden Kunden, die sich für einen Maßrahmen interessieren, knapp eine Stunde lang auf dem eigens konstruierten "Velochecker" vermessen. Nachdem ich diverse Geometrie-Varianten unter Intervall-Bedingungen probiert hatte, notierte Michael die Werte. Er bat mich in den folgenden Wochen mehrmals, mich auf die Geometrie einzulassen. Sie würde völlig anders sein, als jede, die ich bisher gefahren sei, kündigte er an.
"Du tendierst zum Sitzriesen. Deine Oberschenkel sind im Verhältnis zum Oberkörper recht kurz. Du brauchst sehr lange Rahmen mit steilen Sitzrohrwinkeln und dazu kurze Kurbeln", so seine Zusammenfassung. Sitzriese? Mir wurde mulmig.
Nach Monaten des Wartens, endlich. Erste Fotos per Mail, die den roh gelöteten Rahmen zeigten. Darunter die Frage von Michael nach der Wunschfarbe für die Pulverbeschichtung. Alle RAL-Töne seien möglich, allerdings keine mehrfarbigen Designs. Ich versuchte es dennoch. Ob man nicht eventuell doch einen wilderen Look hinbekommen könne?, schrieb ich Michael. Seine Antwort: "Okay, ich kann mal was versuchen. Aber das ist wirklich nur speziell für Dich. Das kann man so nicht bestellen. Bisschen dreckig, nix sauber abkleben, viel dem Zufall überlassen, Pegoretti-Stil."
Dario Pegoretti! Der leider viel zu früh verstorbene Rahmenbau-Künstler, der jeden seiner Rennrahmen mit Pinsel zum Unikat machte! Ich spürte die Flammen der Begeisterung bis unter die Schädeldecke knistern.
Wochen vergingen. Dann traf der Rahmen schließlich bei mir ein. Ich war begeistert, wurde eine gewisse Skepsis aber nicht los. Die Lackierung war super. Frisches Schiefergrau, darauf Streifen und der Schriftzug: "Call it Punk!" Was großartig zum Projekt passt, denn Punk bedeutet im Kern ja das Brechen festgefahrener Strukturen und Regeln. Auch die Muffen, die aus einem anderen Jahrhundert zu stammen schienen und wie blanke Ironie auf das Carbon-Zeitalter wirken, fand ich genau wegen dieser Modeverweigerung lässig. Relativ schwer war der Rahmen, zweieinhalb Kilo. Vor allem aber wirkte er extrem lang. Zu lang irgendwie. Ich beschloss, ihn erst mal probeweise mit Teilen meines Marathon-Bikes aufzubauen.
Ich kurbelte los. Verblüffend. Das Patria passte wie angegossen. Die Kraftübertragung war perfekt. Die Sitzposition nahm in Kombination mit den 170er-Kurbeln merklich Druck von den Knien. Und obwohl der Rahmen knapp fünf Zentimeter länger war, als mein gewohntes Marathon-Bike, saß ich bequem. Wie konnte das sein? Die Antwort: Durch den steilen Sitzwinkel, der effizienteres Treten ermöglicht, saß ich weiter vorne über dem Tretlager. Das längere Oberrohr machte die Sitzposition nicht gestreckter, sondern glich das Nachvornerutschen aus.
Schon wenige Tage später kurbelte ich eine 140 Kilometer lange Mountainbike-Tour ab. Kniebeschwerden, Schulterverspannungen: keine. Dann war es an der Zeit, die Ausstattung zu optimieren. Wochen später war der Schotterflitzer fertig. Meine Interpretation eines punkrockmäßigen, moderesistenten Gavel-Mountainbikes. Ein Rad, dafür gemacht, um die Welt zu entdecken. Es gibt so viele schöne Kilometer auf diesem Planeten. Wäre doch jammerschade auch nur einen davon zu verpassen, nur, weil man sinnlos einem Trend oder einer Mode hinterher gehechelt ist.
Interesse geweckt? In unserem Gravel-Spezial "Auf die sanfte Tour" in BIKE 11/2020 lesen Sie unter anderem, was Henri Lesewitz mit dem Patria bei der Gravel-Challenge Orbit 360 erlebt hat. Dazu gibts Tipps zu Technik und Touren sowie – besonders spannend – den Gravel-Konzeptvergleich zwischen leichtem Racehardtail, klassischem Gravelbike und zwei sehr exotischen Ansätzen. Sie werden Augen machen!