Henri Lesewitz
· 30.11.2017
Mit 17 Jahren beschloss Fritz Geers, Ultrabiker zu werden. Jetzt ist er Deutschlands bester 24-Stunden-Fahrer, hat ein eigenes „Reich der Schmerzen“ und kommt mit 30 Sekunden Schlaf pro Nacht aus.
Der Duden ist 1216 Seiten dick und beinhaltet rund 140000 Wörter. Das wahrscheinlich wuchtigste davon ist "Ultra". Es ist die peppige Kurzform für Fanatiker. Das Wort passt perfekt zu Fritz Geers, deshalb hat er es sich angeheftet wie einen zweiten Nachnamen: Fritz Geers – Ultrasportler.
So steht es in seiner Mail-Adresse, auf seiner Website, auf seinem T-Shirt. Ein Slogan. So wie L’Oréal – Paris. Oder Jacobs – die Krönung.
Eine knappe Stunde lang hat Fritz versucht zu erklären, was Ultrasport genau bedeutet. Er hat Mappen gezeigt, Fotos, Kurzfilmchen, Pokale. Doch irgendwie lässt es sich nicht in Worte fassen. Da fällt ihm der Dachboden ein.
"Achtung, Kopf einziehen!", ruft er, während er die elf engen Stufen zur grauen Holzluke durchsteigt, wie ein Matrose die Takelage. Das Scharnier knarzt. Ein kalter, modriger Wind zieht ins Treppenhaus.
"Das Reich der Schmerzen", moderiert Fritz an. Er grinst: "Ich wollte das schon mal auf ein Schild schreiben. Reich der Schmerzen. Aber dann denken Besucher vielleicht, das hier sei ein Sado-Maso-Studio."
Es ist dunkel. Ein Rest von Tageslicht quält sich durch das matte Glas der Fenster. Am Dachbalken funzelt eine Deckenlampe. Die Augen brauchen ein wenig, um zu registrieren: Dieser Raum ist tatsächlich genau das – ein Sado-Maso-Studio. Alles, was sich inmitten des Gebälks befindet, sind zwei Trainingsrollen. Unter der einen ein Teppich zum Schweißaufsaugen, auf den mit Filzstift die Worte "Kraft", "Wille", "Stärke", "Ausdauer" und "Konsequenz" geschrieben sind. Am vorderen Ende ein Set Aktivlautsprecher. Am Balken daneben Handtücher und ein Flaschenhalter. Keine Heizung, keine Dämmung. Den ganzen Winter, so Fritz, habe er hier verbracht. Die erste Einheit sei 90 Minuten lang gewesen. Und dann habe er das Ganze jeden Tag um fünf Minuten gesteigert. Bis auf sieben Stunden. Denn darum gehe es. Um Steigerung. Um das fortwährende Verschieben von Grenzen.
"Bei Intervallen fahre ich mich richtig schwarz. Da brülle ich auch mal rum. Wenn ich mich dazu mit der Filmmusik von Fluch der Karibik pushe, ist das richtig geil", ruft Fritz.
Man beginnt gerade zu grübeln, ob das alles wirklich wahr sein kann. Wie ein menschlicher Körper so etwas aushält – ganz besonders die Psyche. Da hat sich Fritz bereits mit einem Handtuch die Augen verbunden und lässt mit kernigen Kraft-Ausdauer-Tritten die Kurbel rotieren.
"Das mache ich auch manchmal, den Handtuchtrick", ruft er gegen das Kreischen der Rolle an: "Da hast Du kein Raum- und Zeitgefühl mehr und kannst Dich voll auf den Körper konzentrieren".
Was für eine surreale Szene. Dabei ist die Schinderei im Reich der Schmerzen gar nicht der Ultrasport, von dem auf Fritz’ Website die Rede ist, sondern nur die Abhärtung für die wirklich krassen Sachen.
Es ist Dienstag, ein eiskalter Frühlingstag. Die Wälder rund um das Harzer Örtchen Clausthal-Zellerfeld stehen in voller Blüte. Doch seit gestern stiebt eine Schneehusche nach der anderen über das Mittelgebirge. Ausgerechnet jetzt, in der Vorbereitungsphase auf die 24-Stunden-WM, für die Fritz extra eine Woche Urlaub genommen hat. Am Freitag hat er sich 200 Kilometer in die Waden gepumpt. Am Samstag noch einmal 200. Am Sonntag dann 300 Kilometer. Gestern waren es nur 80 Kilometer, wegen eines Defekts am Bike. Heute ist Ruhetag.
"Einen Marathon fährt man, Ultrastrecken lebt man", lässt Fritz einen philosophisch angehauchten Merksatz von der Zunge purzeln. Er sitzt jetzt wieder auf seinem grauen Ecksofa aus strapazierfähigem Strukturstoff. Es ist eine ungewöhnliche Wohnung für einen 21-Jährigen. Ungewöhnlich aufgeräumt. Ungewöhnlich praktisch eingerichtet. Vor allem aber: ungewöhnlich dekoriert.
Die Schrankwand ist ein Schrein. Darin unter anderem säuberlich drapiert: Der Pokal für den 3. Platz in der Team-Wertung bei der Salzkammergut Trophy – dem 211 Kilometer langen Ausdauerschocker mit 7049 Höhenmetern. Die Stempelkarte vom 1200 Kilometer langen Nonstop-Rennen Paris–Brest–Paris. Und ganz oben der Siegerpokal der inoffiziellen Deutschen 24-Stunden-Meisterschaft im Mountainbiken – Solo-Kategorie selbstverständlich. Das blau-schwarze Scott Voltage, mit dem alles anfing, steht als hölzerne Miniatur auf dem Fenstersims. Die Mutter hat es geschnitzt. Hundert Prozent originalgetreu, inklusive Steckschutzblech. Alles in der Wohnung hat mit Radsport zu tun. Selbst das Mineralwasser auf dem Tisch, das zusammen mit dem Ernährungsberater nach Inhaltsstoffen ausgesucht wurde. Er trinke nur diese Sorte, sagt Fritz.
Dass er eine spezielle Herangehensweise an das Thema Sport hat, kristallisierte sich schon früh heraus. Bei einem Spendenlauf für Nepal riss er in 36 Stunden irrwitzige 136 Kilometer ab. Da war er gerade mal 15 Jahre alt. Die Teilnahme am 540 Kilometer langen Nonstop-Spektakel Trondheim–Oslo gewährte ihm zwei Jahre später einen ersten Einblick in den Himmel und in die Hölle des Ausdauerradsports. Ein Schlüsselerlebnis.
"Ich war fertig, ich war übermüdet. Aber man muss das als Gesamtes sehen. Wir sind früher mit der Familie kaum verreist. Und dann fuhr ich als 17-Jähriger mit dem Rennrad durch ein fremdes Land. Ein Riesenabenteuer!", versucht Fritz das Gefühl zu beschreiben, das an jenem Tag mit Tsunami-Stärke in sein Leben schwappte. Er beschloss, Ultrabiker zu werden. Seit dem ist nichts mehr, wie es war. Fritz hat Sponsoren. Er lebt wie ein Profi. Doch er ist ein ganz normaler Azubi. Berufsrichtung: technischer Produkt-Designer für Anlagen- und Maschinenbau.
"Acht Stunden Arbeitstag und genauso viel Urlaub wie jeder andere", sagt er. Mit dieser Information als Basis klingt seine Geschichte nun vollends unfassbar. Wo hört Ehrgeiz auf, und wo fängt Wahnsinn an?
Fritz hat die schwarze Mappe aufgeschlagen, die er in Erwartung des Reporterbesuchs auf dem Wohnzimmertisch bereitgelegt hat. Es ist eine Präsentation über ihn, für mögliche Sponsoren. Man könnte auch sagen, es ist die Betriebsanleitung für ihn, Fritz Geers – Ultrasportler. Auf der ersten Seite der Begriff Ultra als sogenanntes Wordle, zusammengesetzt aus vielen kleinen Unterbegriffen: "Fokussiert", "Stabil", "Stark", "Medikamentenfrei" und – extra groß geschrieben – "Team". Zehn Leute sind damit beschäftigt, dass sich Fritz auf seine wichtigste Aufgabe konzentrieren kann: tagelanges, unermüdliches Kurbeln. Team-Arzt, Fahrer, Ernährungsexperte, Mechaniker, Mental Coach, Fotograf – fast alle kommen aus dem persönlichen Umfeld und helfen aus reinem Enthusiasmus. Das Zusammenspiel wird mit militärischer Präzision geübt. Effizientes Getränkeanreichen. Optimales Hinhalten der Windjacke. Licht anbauen in 30 Sekunden. Um sich anfälliger für Koffein zu machen, verzichtet Fritz seit Jahren auf Kaffee. So ist der Koffein-Push maximal, wenn er mal wieder nonstop ein Land durchquert oder umrundet. Er hat den Power Nap – eine hocheffiziente Kurzschlaftechnik – so rigoros trainiert, dass er in einer Nacht mit 30 Sekunden Schlaf auskommt. Der Ernährungsexperte ist darauf geschult, die Getränke anhand Wetterwerten und Leistungsdaten exakt auf die Bedürfnisse von Fritz anzumischen, ohne auch nur ein Wort Rücksprache halten zu müssen. In seinem selbst zusammengestellten Kochbuch hat Fritz sogar die Abwaschzeiten der benötigten Bestecke und Geschirre auf die Sekunde genau aufgelistet, um den Tag so effektiv wie möglich planen zu können. Fünfzig DIN-A-4-Seiten umfasst allein das Skript, an das sich das Team bei der 24-Stunden-WM zu halten hat. Dem menschlichen Körper sind von Natur aus Grenzen gesetzt. Und diese Grenzen versucht Fritz, Stück für Stück aufzuweichen. Ein Ozean besteht aus vielen Tropfen, heißt es. Jedes Detail zählt.
"Bei einem Rennen musste ich ihn mal füttern, während er gepinkelt hat. Nur, damit er keine Sekunde Zeit verliert", feixt Freundin Marike, als Fritz am Abend bei den Schwiegereltern zu Besuch ist. Im Kamin knistert ein Feuer. Marike und Fritz tauschen einen schmachtenden Blick aus. Das gemeinsame Hobby verbindet sie miteinander, wie ein Stamm die Wurzel und den Wipfel. Unkonventionelle Fütterungsmethoden? Kein Problem!
Menschen mit mittelmäßig ausgeprägtem Sportinteresse würden derlei Geschichten wahrscheinlich ein Kopfschütteln abringen, begleitet von jenem erschütterten Blick, mit dem sonst nur Schwertschlucker oder Teilnehmer von Pfahlsitz-Wettbewerben bedacht werden. Gut möglich, dass ein Hauch Wahnsinn dabei ist. Aber das muss es ja auch, wenn man vom Traum angetrieben wird, irgendwann einmal am Race Across America teilzunehmen, dem ultramäßigsten Ultrarennen überhaupt. 4800 Kilometer, 52000 Höhenmeter. In einem Ritt.
"Es gibt mehr Phasen, in denen ich Glück fühle, als dass es Tiefpunkte gibt", beteuert Fritz. Knapp 30000 Euro kostet ihn eine Saison, den Großteil bezahlt er selbst. Dieses Jahr klafft noch eine Lücke von 10000 Euro. Der geplante Saisonhöhepunkt, das 2100 Kilometer lange Race Around Ireland, wackelt. Alleine die Anreise für sich und das Team kostet tausende Euro. Er braucht dringend einen Hauptsponsor. Doch das ist schwierig. Neulich hat er eine Bewerbung an Red Bull geschickt. Ein paar Tage später kam eine Lieferung Getränkedosen. Doch Fritz denkt nicht dran aufzugeben. Bis in die Nacht hinein schneidet er Image-Videos, erstellt Werbekonzepte, plant Shootings und entwickelt Logos. Egal, von welcher Seite aus man es betrachtet: Der Weg in den Himmel des Ausdauersports führt immer durch die Hölle.
"Ultrabiken bedeutet eine Menge Stress", seufzt Fritz: "Aber egal, wenn ich sonntags meinen Dreihunderter fahre, dann kann ich so richtig schön entspannen."
INFO FRITZ GEERS
Geboren 3.11.1995
Größe / Gewicht 174 cm / 59 kg
Wohnort Clausthal-Zellerfeld
Erfolge
2014: jüngster Einzelstarter bei Trondheim–Oslo (543 km, nonstop) und 1. Platz Junioren. 2016: jüngster Finisher beim Race Across the Alpes (560 km, 14000 hm, nonstop)
2016: Sieger 24-h-Rennen Alfsee Solo-Kategorie (inoffizielle Deutsche Meisterschaft)
Kontakt
www.fritzgeers.de
FRITZ' POWER-SMOOTHIE
Das bringt’s Zusammen mit einem Ernährungsberater hat Fritz 15 Gerichte entwickelt, die optimal für Ausdauer-Biken sind. Nach dem Training gönnt sich Fritz besonders gerne einen Regenerations-Smoothie. Rote Beete enthält viel Eisen, Vitamine, Mineralien und fördert die Bildung von leistungsfördernden Mitochondrien. Himbeeren enthalten ebenfalls viel Eisen, dazu reichlich Vitamin C. Ingwer reduziert Muskelschmerz durch Gingerol. Curcurmin in Kurkuma unterstützt die Regeneration. Leinöl ist ein Omega-3-Kraftpaket. Und Banane enthält Kieselsäure, die gut für Sehnen und Bänder ist.
So geht’s:
Geriebener Ingwer (½ Teelöffel)
Kurkuma (½ Teelöffel)
Leinöl (kaltgepresst, ½ Teelöffel)
Rote-Beete-Saft (bio, 250 ml)
Tiefkühlhimbeeren (100 g) sowie eine Bio-Banane
Alles in einen Becher geben, pürieren – fertig ist der Smoothie.
Übrigens: Fritz hat für maximale Effizienz sogar aufgelistet, wie lange der Abwasch dauert. Pürierstab: 30 Sekunden, Becher: 1 Minute. Er besitzt keinen Geschirrspüler.
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