Ich pendle seit gut zwölf Jahren mit dem Fahrrad. Aktuell 62 Kilometer am Tag, vier Tage die Woche. Auf tausenden Kilometern habe ich schon alles gesehen. Ich lag auf einer Motorhaube, krachte in zwei Heckklappen, sah ein dutzend anderer Fahrrad-Pendler vor meinen Augen crashen, stürzte selbst, wurde von Hunden gebissen und unzählige Male angepöbelt. Das alles spielt sich jedoch nur an der Spitze des Eisbergs ab. Die meisten Menschen machen sich nicht bewusst, was regelmäßiges Pendeln mit dem Rad wirklich bedeutet. Fünf Fakten aus dem Leben eines Fahrradpendlers.
Fangen wir mit dem Guten an. Fahrrad-Pendeln ist gut für die Umwelt, hält gesund und fit. Während Autofahrer im Stau ihre Nerven verlieren und Bahnfahrer sich die nächste Ladung Erkältungsviren abholen, fahre ich mit meinem Bike unabhängig von Abfahrtszeiten, Schienenersatzverkehr und Co. durch die Landschaft. Mein Arbeitsweg ist lang aber dankbar: viele Radwege, viele Bäume. Dank frischer Luft und sportlicher Betätigung starte ich ausgeglichen in den Tag und kann mich nach dem Tagwerk noch auspowern. Rund zweieinhalb Stunden täglich kurble ich bei Wind und Wetter über Felder und durch Vororte. Anfangs war ich völlig fertig. Die ersten zwei Wochen auf meiner aktuellen Radpendelstrecke fühlte ich mich dauerhaft erschöpft und abgeschlagen. Regelmäßiges Bike-Pendeln dieser Kragenweite ist wie ein Etappenrennen. Auch heute noch merke ich eine zunehmende Müdigkeit, je weiter die Woche voranschreitet. Zehn Stunden Radfahren an vier Arbeitstagen schlaucht, macht andererseits aber auch topfit.
Man gewöhnt sich an alles. Heute kommt mir der Ritt zur Arbeit gar nicht mehr so schlimm vor. Er ist zur Normalität geworden, gehört zum “Daily Business”. Mein Organismus hat sich an die Dauerbelastung angepasst und es mangelt nicht an Grundlagenausdauer. Wer Probleme damit hat auf seinen Trainingsumfang zu kommen, sollte regelmäßiges Fahrrad-Pendeln unbedingt in Erwägung ziehen. Die Fitness kommt quasi von alleine. Kehrseite der Medaille: Am Wochenende bleibt mir kaum noch Motivation und Energie, um aufs Bike zu steigen. Durchs Pendeln habe ich den Trail gegen den Radweg getauscht - ein Deal, der mir nicht immer schmeckt! Umso wichtiger ist die Regeneration, zum Beispiel durch möglichst viel und guten Schlaf. Auch das ist werktags herausfordernd.
Tagaus, tagein dieselbe Strecke: Auf meiner Pendelroute kenne ich jede Ecke, alle Häuser, jeden Bahnübergang. Hunderte Male bin ich die Wege abgefahren, bin mit jedem Kieselstein per Du. Der Automatismus ist inzwischen so stark, dass ich manchmal aus Gedanken aufwache und nicht mehr weiß, wo auf der Strecke ich gerade bin. Problemlos könnte ich weite Teile mit geschlossenen Augen fahren. Die Langeweile ist Fluch und Segen zugleich. Das ewig Gleiche ödet mich an: Viel lieber würde ich mit meinem Bike durch schöne Gebirgslandschaften fahren. Die Monotonie hat jedoch auch etwas Meditatives. Kopf aus und Kurbeln - dafür nehmen sich andere im Alltag viel zu wenig Zeit. Auf dem Rad habe ich Ruhe und Raum über Berufliches und Privates nachzudenken. Inzwischen fahre ich sogar ganz gerne im Dunkeln, um den Tunnel-Effekt auf die Spitze zu treiben. Nur der Radweg, der Lichtkegel, meine Musik und ich.
Ich bin ein großer, sportlicher Kerl. Durch mein hohes Aktivitätsniveau und meine Größe von 1,90 Metern liegt bereits mein Grundbedarf bei etwa 3000 Kalorien. Durch die zweieinhalb Stunden Radpendeln kommen nochmals rund 2000 hinzu. An den Tagen, die ich ins Büro radle, bin ich ständig am essen. Bereits am Vorabend bereite ich mir Snacks, wie geschmierte Brote und Obst für den nächsten Vormittag vor, um die Zeit bis zum Mittagessen durchzustehen. Von der Portion Haferbrei, die ich jeden morgen vertilge, könnte wohl eine vierköpfige Familie satt werden. Nachmittags halte ich mich mit Müsliriegeln und Gummibärchen über Wasser.
Auf dem Nachhauseweg schlägt trotzdem zuverlässig der Hungerast zu. Gerade an kalten Tagen muss ich dann weitere Riegel aus meinen Radtaschen ziehen. Daheim angekommen kann ich nicht warten, bis das Abendessen fertig ist, sondern mache mich in der Küche sofort über alles her, was der Kühlschrank hergibt. Erst dann geht’s unter die Dusche und an den Abendessenstisch. Nicht nur, dass diese Menge an Essen die Verdauung herausfordert, es ist auch wirklich schwierig nicht nur auf Convenience-Food zurückzugreifen, sondern zugunsten Gesundheit und Regeneration auch nicht hochverarbeitete Lebensmittel im Speiseplan zu behalten.
Täglich Sport zu treiben, stellt den Haushalt neben Großeinkäufen noch vor ganz andere Herausforderungen: Im Bad türmen sich die miefenden Wäscheberge. Etwa alle zwei Tage muss ich eine Maschine anschmeißen. Dabei liegen in meinem Kleiderschrank mehr Radklamotten als andere Kleidungsstücke. Etwa sechs komplette Outfits rotieren ständig zwischen Bike, Waschmaschine und Büro. Die verschwitzten Klamotten fliegen in der kleinen Wohnung umher, der Trockenständer ist im Dauerbetrieb. Das Waschen, Auf- und Abhängen der Kleidung nimmt so viel Raum ein, dass ich gezwungenermaßen Multitasking gelernt habe. So hantiere ich bei jedem Telefonat mit Familie oder Freunden mit der Wäsche, führe Unterhaltungen Großteils am Wäscheständer. Abends gilt es bereits die Rad- und Wechselklamotten für den Folgetag bereitzulegen. Im Einschätzen der Wettervorhersage bin ich mittlerweile Profi.
Radfahren im Straßenverkehr ist viel gefährlicher als auf dem Trail. Da gibt es die gefürchteten Dooring-Unfälle mit plötzlich aufgerissenen Autotüren aber auch exotischere Gefahren. Gerade Hunde sind meiner Erfahrung nach kaum berechenbar. In einem Wohngebiet sprang mir einmal aus heiterem Himmel einer vors Vorderrad und schnappte nach mir. Er hatte sich von seinem Frauchen auf dem fünf Meter entfernten Gehweg losgerissen - einfach so. Eine weitere Plage für Radpendler sind in meinem täglichen Erleben die zunehmende Flotte an E-Scootern. Unbeleuchtet stehen sie an den skurrilsten Plätzen plötzlich im Weg. Ihre Piloten kommen regelmäßig entgegen der Fahrtrichtung und mit gesenktem Blick auf ihr Smartphone schauend direkt auf mich zu.
Selbst mit der leistungsstärksten Lichtanlage und mit Reflektoren behangen, wie ein kitschiger Weihnachtsbaum, können sich Radfahrer leider nicht darauf verlassen, dass sie von anderen Verkehrsteilnehmern wahrgenommen werden. Auf deutschen Straßen sind die meisten Menschen vor allem schnelle Radfahrer nicht gewohnt. Wie oft wurde ich in der 30er Zone schon mit 50 überholt? Ich habe aufgehört zu zählen. Mein Apell lautet deshalb: Fahr defensiv zur Arbeit, wenn dir deine Gesundheit wichtig ist!