Er hat das Mountainbike nach Deutschland gebracht

Henri Lesewitz

 · 04.10.2016

Er hat das Mountainbike nach Deutschland gebrachtFoto: Oliver Soulas
Er hat das Mountainbike nach Deutschland gebracht

Er hat als erster Biker die Alpen überquert. Wolfgang Renner könnte ordentlich auf den Putz zu hauen. Erst recht, wo seine Firma Centurion 40. Jubiläum feiert. Doch er geht mal wieder lieber biken.

Zwei Stunden lang hat Wolfgang Renner erzählt. Über sein Leben. Über die Geschichte seiner Marke Centurion. Über die Abenteuer, denen er sich auch heute noch, mit 68 Jahren, zum Austesten der eigenen Widerstandsfähigkeit aussetzt. Doch Renner ist unzufrieden. Er könnte noch so viele Anekdoten, Jahreszahlen und Statistiken in den Raum feuern. Das Entscheidende, die Genetik seines tiefsten Inneren, lässt sich einfach nicht in Worte fassen.

"Thorsten, ist der Meeting-Raum frei?", fragt Renner seinen Marketing-Mann, der mit am Schreibtisch sitzt. Thorsten nickt. Renner schnellt aus seinem ledernen Chefsessel empor. Showtime.

Der Meeting-Raum befindet sich im Erdgeschoss des kantigen Zweckbaus, der unscheinbar im Magstädter Industriegebiet klemmt. Der Raum ist groß, fast schon ein Saal. Renner verteilt 3D-Brillen, zieht die Vorhänge zu und postiert sich hinter einem mächtigen Projektoren-Ensemble, das aussieht wie das Exponat einer Ausstellung über das prä-digitale Zeitalter.

Akrobatik im Sattel: Zusammen mit seinem Zwillingsbruder Jürgen wurde Wolfgang Renner 1964 und 1965 Deutscher Meister im Kunstradfahren. Eine vom Vater vererbte Leidenschaft, mit der Renner im Alter von 18 Jahren schließlich brach. Er stieg auf Querfeldein um. Der Vater zeigte dafür wenig Verständnis. Nach zahlreichen Streiterein zog Wolfgang Renner schließlich aus der elterlichen Wohnung aus, um Querfeldein-Profi zu werden.
Foto: Centurion

"Himalaja, 1987. Von Manali nach Leh. Ungefedert!", moderiert Renner in den atmosphärischen Sound-Teppich hinein, der nun mit zunehmender Dramatik aus den Lautsprechern dröhnt. Auf der Leinwand erstrahlen Bilder. Brachiale, dreidimensionale Landschaften, durch die kunterbunt gekleidete Biker kurbeln. Bestinformierte Branchen-Insider wissen um Renners Leidenschaft für 3D-Fotografie. Es ist, als würde man auf einem Stuhl im Himalaja sitzen und den wackeren Helden bei ihrem Ritt durch das Felsenmeer zuschauen. Man glaubt, die Kälte zu spüren, die Anstrengung, den Schweiß. Die Musik hat sich inzwischen zu einem hochdramatischen Klangkonstrukt aufgebaut, die Biker kämpfen sich dem finalen Megagipfel entgegen. Totale Ekstase. Huch, war der da nicht gerade Eddy Merckx, die Tour-de-France-Legende, einst genannt "der Kannibale"?

"Ja, ja, der Eddy. Der hatte mich damals ganz verzweifelt angerufen, weil er über 100 Kilo wog. Da habe ich zu ihm gesagt: ,Mensch Eddy, komm mit zum Biken in den Himalaja, da nimmst Du garantiert ab‘", lacht Renner, als das Abschlussfoto von der Leinwand gehuscht und der letzte Fetzen Musik aus den Boxen gewispert ist. Ergriffenes Schweigen. Wie nach einem guten Konzert, wenn das Licht angeht. Renner nimmt die 3D-Brille ab. Einen Moment lang ist es absolut still.

"Tja, das ist es, warum ich das Ganze mache", sagt Renner und schaltet die Projektoren aus. Marketing-Mann Thorsten nickt beeindruckt.

"Geile Tour. Kannte ich noch gar nicht."

Es gibt vieles, das von Wolfgang Renner nicht sonderlich bekannt ist. Er hat das Mountainbike nach Deutschland gebracht. Er überquerte zusammen mit Andi Heckmair als erster Biker die Alpen. Er schrieb an den ersten Ausgaben des TOUR-Magazins mit, organisierte die erste Deutsche Mountainbike-Meisterschaft, war bei der ersten BIKE Transalp Challenge am Start und hat aus der Uhrenarmband-Firma seines Schwiegervaters eines der wichtigsten Unternehmen der Bike-Industrie geformt. Wolfgang Renner hat Pionierleistungen vollbracht, doch in den Geschichtsbüchern stehen andere. Es ging ihm nie um Ruhm. Als Centurion 2006 das dreißigste Markenjubiläum feierte, ließ sich Renner nur zähneknirschend und nach beharrlichem Drängen seiner Marketing-Abteilung ins Zentrum der Anzeigenkampagne rücken. Im Mai nun also das vierzigste Jubiläum.

"Gary Fisher würde sich wahrscheinlich eine gelbe Krawatte umbinden und eine große Show veranstalten. So was ist nicht mein Ding. Ich werde mit dem Bike von Granada aus auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostella fahren. 1400 Kilometer, zusammen mit meinem Kumpel Reimund", sagt Renner. Vom limitierten 40-Jahre-Sondermodell, das produktionsfrisch in seinem Büro funkelt, erzählt er erst auf Nachfrage des Reporters. Plumpe Eigen-PR ist ihm unangenehm.

Die Geschichte des Mountainbike-Pioniers Wolfgang Renner begann Anfang der Sechziger. Um die 36 Mark für die Monatskarte zu sparen, fuhr Renner statt mit dem Zug mit seinem zwanzig Kilo schweren "Vaterland-Rad" nach Stuttgart, wo er eine Ausbildung zum Elektromechaniker absolvierte. Siebzig Kilometer täglich, bei jedem Wetter. Abends trainierte er mit Zwillingsbruder Jürgen Kunstrad-Akrobatik – eine vom Vater geerbte Leidenschaft. Als Renner aus einer Laune heraus bei einem Cross-Rennen startete und Zweiter wurde, nahm sein Leben eine plötzliche Wende.

"Mein Vater erfuhr von meinem Start aus dem Mitteilungsblatt. Er war außer sich. Für ihn war Kunstradfahren was Edles. Wie Cello oder Geige. Und nun spielte ich, bildlich gesprochen, plötzlich Trompete. Er sagte, wenn ich Cross fahren wolle, könne ich ausziehen." Renner wurde zum Star der Radcross-Szene. Er sammelte Titel und Medaillen. Bis zu jenem Mittwoch im Mai 1971, als er im neuen Porsche mit 200 Sachen in einem Alleebaum einschlug. Die zerschmetterten Hüftknochen wuchsen wieder zusammen, doch die Schmerzen bei Belastung blieben unerträglich. Renner übernahm von seinem Schwiegervater die Manufaktur für Uhrenarmbänder. Als ihm kurz darauf von einem Bekannten aus der Fahrradszene der Vertrieb der japanischen Marke Centurion angeboten wurde, griff er zu. Heute beschäftigt Renner um die 200 Mitarbeiter. Die Centurion-Palette umfasst knapp 100 Modelle, die von Merida noch einmal so viele. Seit einem Joint-Venture-Vertrag werden die Bikes des taiwanesischen Bike-Giganten nicht mehr nur von Magstadt aus vertrieben, sondern auch hier entwickelt. Die Firma wächst und wächst. Gerade hat Renner einen Mietvertrag für das riesige Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite unterschrieben.

"Da haben wir dann erst mal wieder ein paar Jahre Luft", sagt Renner.

  2016: Das 40-Jahre-Sondermodell besteht fast vollständig aus Carbon. Gewicht: 9,3 Kilo. Foto: Oliver Soulas
2016: Das 40-Jahre-Sondermodell besteht fast vollständig aus Carbon. Gewicht: 9,3 Kilo. 

Vierzig Jahre sind ein beeindruckendes Alter für eine Firma, deren Wurzeln im verhältnismäßig jungen Mountainbike-Sport liegen. Centurion hat viele Innovationen hervorgebracht. Doch nur zwei Modelle hat sich Renner aufgehoben. Das Eine ist ein rotes Thermoshape-Fully und hängt im Heizungskeller. Horrorkabinett, nennt Renner den Raum. Um sich gegen die wachsende Konkurrenz zu behaupten, setzte Centurion Ende der Neunziger voll auf das neue Thermoshape-Verfahren, bei dem die Rahmenteile aus einer Art Carbon-Guss gefertigt werden sollten. Am Tag vor der Transalp-Challenge bekam Renner einen Prototypen in den Startort Mittenwald geschickt. Schon nach den ersten Metern durchfuhr ihn nackte Panik. Der Rahmen war butterweich. Als er das Projekt wenig später stoppte, hatte er bereits sieben Millionen Mark investiert. Es hätte fast den Ruin von Centurion bedeutet, verrät Renner und guckt dabei mit einer Mischung aus Grusel und Erleichterung – wie ein Bergsteiger nach einem entgangenen Absturz. Dann lieber hin zu Exponat Nummer zwei. Das steht im Gang zwischen Lager und Bürogebäude. Der jägergrüne Metallic-Lack funkelt im Licht der Deckenstrahler: das Country, das Centurion Nummer eins. Renner zieht die klobigen Bremshebel, hebt das Bike an, um das Gewicht zu prüfen. Breites Grinsen.

"Grün. Damals waren alle Bikes grün. Komm, damit fahre ich jetzt ’ne Runde."

  Auf die harte Tour: Beschwingt von Jubiläumslaune hat sich Wolfgang Renner mal wieder auf das Centurion Nummer eins geschwungen. Als er nach zwei Stunden zurück in die Firma rollt, ist er gut durchgeschüttelt.Foto: Oliver Soulas
Auf die harte Tour: Beschwingt von Jubiläumslaune hat sich Wolfgang Renner mal wieder auf das Centurion Nummer eins geschwungen. Als er nach zwei Stunden zurück in die Firma rollt, ist er gut durchgeschüttelt.

Wenig später biegt Renner in die Cross-Strecke des RV Pfeil Magstadt. Der Tritt ist rund. Die Wadenmuskeln drücken Kanten ins Lycra. Renner ist top in Form. Kein Gramm Fett. Vor ein paar Wochen ist er im Himalaja ein Etappenrennen gefahren. "Bisschen holprig ohne Federgabel", ruft Renner, die Atemstöße kondensieren in der kalten Luft. Zackige Kurvenkombination, kurzer Anstieg, Wurzelschikane.

"Schon erstaunlich, wie quirlig die Geome­trie damals schon war. Da hat sich gar nicht so viel verändert", staunt Renner.

Die Messe in Long Beach in der Nähe von Los Angeles war in den Siebzigern und Achtzigern das, was heute die Eurobike-Messe ist: die Leistungsschau der Fahrradindustrie. 1980 erspähte Renner dort das erste Mal Mountainbikes. Er war fasziniert. Im Jahr zuvor hatte er sich mit dem Cross-Rad ins Karwendel-Gebirge gewagt. Die Plattfüße konnte er am Ende gar nicht zählen. Diese Bikes schienen die Lösung. Leider machten sie noch keinen besonders ausgereiften Eindruck.

"Das lag am guten Wetter in Kalifornien. Typen wie Gary Fisher arbeiteten ja immer nur ein bisschen, weil sie ständig biken waren", grinst Renner, dem eher schwäbisches Perfektionsstreben innewohnt:

"Die Ami-Bikes fuhren sich grausam. Da habe ich eben selbst eine Geometrie gezeichnet. Einfach auf ein Blatt Papier. Ich wollte was für’s Karwendel."

Im Frühjahr 1982 ging das Country mit 300 Stück in Serie. Es gilt als erstes deutsches Mountainbike. Renner wurde vom Großhändler zum Hersteller. Später investierte er sein gesamtes Vermögen, um sich die Rechte am Namen Centurion zu sichern.

Es ist später Nachmittag. Renner sitzt wieder im Büro. Auf seinem chromgläsernen Designer-Schreibtisch, den er sich vor zehn Jahren aus Anlass des dreißigsten Markenjubiläums gegönnt hat, stehen zwei Pumpkannen mit Tee und ein Teller mit belegten Semmeln. Die Radklamotten hat er noch an. Zum Umziehen war noch keine Zeit. Renner ist in Plauderlaune. Es geht um Abenteuer, um Rennen, um Begegnungen. Es trieft aus jedem Satz heraus: Im Herzen ist Renner immer Biker geblieben. Man möchte sich am liebsten an einem knisternden Kaminfeuer in einem Ohrensessel niederlassen, um den Geschichten zu lauschen.

  Im Bann des Schotters: Das erste Centurion konstruierte Wolfgang Renner, weil er endlich mal ohne Platten durch das Karwendel-Gebirge fahren wollte. Seine Abenteuer fotografiert Renner gerne in 3D für Dia-Shows.Foto: Oliver Soulas
Im Bann des Schotters: Das erste Centurion konstruierte Wolfgang Renner, weil er endlich mal ohne Platten durch das Karwendel-Gebirge fahren wollte. Seine Abenteuer fotografiert Renner gerne in 3D für Dia-Shows.

"Das mit der ersten Deutschen Meisterschaft weiß zum Beispiel heute auch kein Mensch mehr." Renner hatte 1990 einfach Titelkämpfe organisiert, nachdem der Bund Deutscher Radfahrer, damals äußerst skeptisch gegenüber dieser neuartigen, wilden Randdisziplin, die Ausrichtung verweigert hatte. Ein Kumpel von Renner hatte die Ausschreibung Minuten vor Andruck in die Verbandszeitung geschmuggelt. Der Platz war mit einem konspirativen Schachzug extra freigehalten worden. 1500 Fahrer kamen nach Münsingen zur ersten Deutschen MTB-Meisterschaft. Mike Kluge gewann.

"Der BDR hat hohlgedreht", freut sich Renner heute noch: "Da war der Teufel los. Ich fand das obergeil."

Unlängst hat Renner alles aufgeschrieben, eine Biografie. 150 Exemplare, nur für Freunde. Das Buch zu veröffentlichen, würde ihm nie einfallen. Das wäre ja so, wie sich eine gelbe Krawatte umzubinden.

Draußen ist es dunkel geworden. Marketing-Mann Thorsten ist Alu-Folie holen gegangen, um die übrig gebliebenen Semmeln einzupacken. Renner wird jetzt Feierabend machen. Auch so ein Geschenk, das er sich zum 40. Jubiläum gemacht hat. Mehr Zeit für sich. Auf dem Schreibtisch steht noch das Mikrofon, mit dem er am Computer Englisch für die Pilotenprüfung geübt hat. Seit ein paar Tagen hat er die Fluglizenz für ein- und zweimotorige Maschinen in der Tasche. Ein lang gehegter Traum. Für ihn, der jahrzehntelang täglich zwölf Stunden gearbeitet hat, ist das zarte Loslassen ein großer Schritt. Renner ist so alt wie "Lemmy" Kilmister, der Heavy-Metal-Gott, der mit seiner Band Motörhead gerade die "40 Jahre Motörhead"-Tournee absolviert. Ständig müssen Konzerte abgebrochen werden. Der mürbe Lemmy kann kaum noch stehen. Um Centurion-Frontmann Renner muss man sich da keine Sorgen machen. Bis zu seinem 75. Geburtstag will er mindestens noch weitermachen.

Es wäre der ultimative Einstieg in den Ruhestand: eine Himalaja-Tour mit dem Sondermodell "50 Jahre Centurion" – im Rucksack die 3D-Kamera.


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