Henri Lesewitz
· 22.06.2005
Kopie oder Geniestreich? Die Entstehung des Stumpjumper ist umstritten. Trotzdem ist es eins der prägendsten Produkte der Bike-Geschichte. Denn es war das erste Serien-Mountainbike der Welt.
Nein, Romantik war nicht im Spiel. Auch kein kalifornischer Sonnenuntergang, kein Lagerfeuer. Die Ursprünge des ersten Serien-Mountainbikes der Welt liegen im Rausch auf dem Münchner Oktoberfest. Dort kämpfte 1974 unter anderem ein gewisser Mike Sinyard mit Artikulation und Schwerkraft. Das College war geschafft. Der Rad-Trip durch Europa genau das Richtige, um nach der Paukerei ordentlich die Sau rauszulassen. Ausgerechnet in einer bayerischen Trinkhalle hatte Mike die Idee, sein Geld künftig mit Radteilen zu verdienen. Eine Zecherei mit Folgen.
Zurück in Amerika verscherbelte Sinyard sofort seinen klapprigen VW-Bus. Die 1500 Dollar Erlös waren das Startkapital für seine Vertriebsfirma von italienischen Rennradteilen. Rahmenbauer Tom Ritchey war einer von Sinyards ersten Kunden. „Der erzählte mir von diesen neuartigen Mountainbikes“, erinnert sich Sinyard, der sich umgehend von Ritchey solch ein Bike schweißen ließ. Eine schicksalhafte Begegnung: „Das Bike gab mir das Gefühl, wieder ein Kind zu sein“, schwärmt Sinyard heute noch. Das Problem damals: Bikes waren – wenn überhaupt – nur über wenige kleine Garagen-Schmieden zu bekommen, Vorkasse und viel Geduld vorausgesetzt. „Das müsste anders laufen“, dachte sich Geschäftsmann Sinyard. Das naive Hippie-Flair der Szene kam ihm dabei entgegen. Die Rahmen-Schweißer dachten damals an alles Mögliche, nur nicht an Patente.
So war es Sinyard 1980 ohne große Entwicklungsarbeit möglich, unter dem Namen „Specialized“ 450 Rahmen bei einer Firma in Japan in Auftrag zu geben. 450 Stück! Eine bis dahin noch nie da gewesene Menge. Knapp 750 Dollar kostet das Stumpjumper (zu Deutsch: Wurzelspringer) – mit französischen Mafac-Bremsen, Suntour-Schaltung und Kurbeln der Schmiede TA. Die Garagen-Schmieden verlangten das Doppelte bei langer Wartezeit. Kein Wunder, dass die erste Serie innerhalb weniger Wochen ausverkauft war. Das Tor in die weltweite Radszene war aufgestoßen, die Saat bestellt. Mountainbiken konnte vom Freak-Sport zur Sportart wachsen. Das Stumpjumper ist wohl der entscheidende Meilenstein in der Erfolgsstory des MTB, der erste richtige Schritt nach den jahrelangen Krabbelversuchen von Bike- Pionier Gary Fisher und seinen „Klunker“-Jungs. Fast schon hellseherisch bewarb Sinyard 1982 seinen Stumpjumper mit doppelseitigen Anzeigen: „Das ist nicht nur ein neues Bike, das ist ein neuer Sport.“
Technisch war das Bike eher lausig. Das Stumpjumper hatte einen viel zu langen Radstand – zwei Zentimeter länger als heutige Bikes. Kurven waren damit die reinste Plage, erinnerte sich Cross-Country-Legende Ned Overend später in einem Interview. Und auch die Art und Weise der Entstehung war heftig umstritten. Tom Ritchey sieht im Stumpjumper bis heute eine Kopie seines für Sinyard geschweißten Rahmens. Bike-Pionier Joe Breeze behauptet, eine seiner Konstruktionszeichnungen habe als Vorlage gedient, diese sei über Steuersatz-Guru Chris King in Sinyards Hände gelangt. Geniestreich oder Plagiat? Wie auch immer, die Welle war nicht mehr aufzuhalten. Biken wurde zum Volkssport. Die kleine Nische zu einem boomenden Weltmarkt. Der Sport zu einer olympischen Disziplin. Bis heute setzt Specialized mit dem Stumpjumper immer wieder Trends. 1990 zum Beispiel war der Rahmen der erste und einzige der Welt, der aus Carbon-Rohren und geschweißten Titan-Muffen zusammengefügt wurde. Ned Overend raste mit dem Edel-Stumpjumper „Epic Ultimate“ im selben Jahr zum Weltmeistertitel. Eine Saison später präsentierte Specialized einen zunächst limitiertes Stumpjumper aus der Alu-Legierung „M2“. Bis dahin war das Material nur in der Luftfahrt verwendet worden. Später erlangte das Stumpjumper als voll gefederte „FSR“- Version Weltruhm.
Weit mehr als Jahre ist die Geburtsstunde des ersten Serien-Bikes inzwischen her. Die Pionierzeit ist vorbei, das Stumpjumper ist geblieben. Zeit für Oktoberfestbesuche hat Mike Sinyard heute nicht mehr. Das Stumpjumper hat aus seiner Bierlaune ein riesiges Unternehmen gemacht. Und es sieht nicht so aus, als würde sich irgendwann eine Staubschicht über den Klassiker legen.
Für BIKE 11/2016 haben wir das Ur-Stumpjumper gegen das aktuelle Modell des Klassikers antreten lassen. Die komplette Geschichte lesen Sie in BIKE 11/16.